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Plädoyer für
eine ökologische Zeitenwende
Marko Ferst
Rasant gewinnt der Klimawandel an Fahrt und bereitet den großen
Klimaumbruch vor. Ungewöhnlich starke Regenfälle prasseln in
Deutschland heute doppelt so häufig nieder wie vor 100 Jahren. Waren
die braunen Elbfluten im Sommer 2002, die viele Dörfer und Städte
verwüsteten nur ein kleines Vorspiel? Zeigen der Rekordsommer 2003
und der nicht vorhandene Winter Anfang 2007 erst den harmlosen Beginn
eines globalen Umschwungs im Klimagefüge an? Treten schwere Stürme
wie Kyrill immer häufiger auf? Wenn weite Teile von Afrika verwüsten,
hält niemand die gigantischen Flüchtlingsströme auf. Ungebremste
globale Klimaveränderungen würden große Teile der Bevölkerung
ins soziale Nichts stürzen und zwischen Arm und Reich in ungekanntem
Ausmaß polarisieren, mit entsprechendem Konfliktpotential. Im Klimawandel
summieren sich Zersiedlung, Entwaldung und andere ökologische Schäden
zu einer völlig neuen Größenordnung.
Immerhin rechnen 62% der Menschen in Deutschland damit, daß die
Probleme die durch den Klimaveränderungen auf uns zukommen, auch
im eigenen Land nicht zu bewältigen sein werden, so die Studie „Umweltbewußtsein
in Deutschland 2006“. Auf den internationalen Konferenzen, die
eine Reduzierung der globalen Treibhausemissionen erreichen wollen, klaffen
die erklärten Ziele und die real notwendigen Maßnahmen sehr
weit auseinander. In Bali konnte kein rettender Pfad abgesteckt werden.
Die Menschheit hat 20 Jahre weitgehend verschenkt. Weitere Jahre werden
im Kampf um Minimalien verstreichen. Jedes verschenkte Jahr engt den
Handlungsspielraum weiter ein. 10-15 Länder sind dabei zum verschwenderischen
Lebensstil des Nordens schrittweise aufzuschließen. Das Europa
der 15 wird die Ziele des Kyotoprotokolls nicht erreichen. Acht Prozent
Minderung an CO2-Ausstoß sind bisher nicht mal im Ansatz erkennbar.
In den USA gab es zwischen 1990 und 2006 mehr als 20% Zuwachs.
Gnadenlos überrennen wir die ökologischen Demarkationslinien
für die Freiheit einer Geldvermehrung ins schlicht Unendliche und
einem Anspruchsdenken, das global nicht verallgemeinerbar ist. Jeder
Deutsche entläßt im Schnitt rund 12 Tonnen der verschiedenen
Klimagase pro Jahr. Wir sitzen mit den hochentwickelten Industriegesellschaften
in einer Wohlstandsfalle fest, der geschaffene Reichtum steht auf tönernen
Füßen. Unser Beharren, an diesem erfolgsverwöhnten Weg
festzuhalten, wird uns sehr wahrscheinlich Kopf und Kragen kosten. Wir
sollten erkennen: Unsere Generation ist mit aller Konsequenz dafür
verantwortlich, ob es eine lebenswerte Zukunft geben wird. Entwarnende
Bestseller, die uns nahelegen, es wird schon alles nicht so schlimm -
dort hat sich die Wissenschaft geirrt und hier sind Fakten die beweisen,
die Ökologen spinnen: All das wird sich spätestens, wenn die
biosphärische Gesamtabrechnung kommt, auf die Menge an bösartiger
Schönfärberei hin überprüfen lassen müssen.
Trotz vieler weißer Flecken - die Datenlage ist beängstigend
dicht.
Mit täglich mehr als 100 Millionen Tonnen Kohlendioxid, die wir
in die Atmosphäre schicken, revolutionieren wir das Klima. Mindestens
ein Drittel davon nehmen derzeit die Ozeane auf. Steigt die Erdtemperatur
in Folge der Klimaerwärmung, sinkt ihre Aufnahmefähigkeit.
Die Frage ist, ab wann die Ozeane sogar CO2 abgeben könnten. Einstweilen
verzögern die Ozeane die Treibhauswirkung an Land um Jahrzehnte,
weil sie große Mengen an Wärme und CO2 aufnehmen. Dieser Effekt
täuscht uns über das bereits destabilisierte Potential hinweg.
In den Ozeanen selbst werden bei zuviel aufgenommenem Kohlendioxid die
Nahrungsketten zerschnitten. Die Versauerung des Wassers könnte
Korallen, bestimmte Planktonarten und andere Organismen mit kalkhaltigen
Schalen am stärksten treffen. Am Ende der maritimen Nahrungskette
steht nicht zuletzt der Mensch. Wird langfristig Grönland wieder
Grünland und bricht das Westantarktische Schelfeis auf, stiege der
Meeresspiegel um rund 13 Meter. Auch in der Eemwarmzeit vor 125000 Jahren
lag der Meeresspiegel um rund 6 Meter höher bei zwei Grad mehr gegenüber
der jetzigen Warmzeit.
Areosole, Rußpartikel die durch die heutigen Industriegesellschaften
ausgestoßen werden und die von dem Verbrennen des Regenwalds herrühren,
verdunkeln die Lichteinstrahlung auf unserem Planeten. Die BBC-Dokumentation „Schwarze
Sonne“ zeigt auf, dieser Effekt wirkt viel stärker dem Treibhauseffekt
entgegen als bisher angenommen. Da diese Partikel nur kurze Zeit in der
Atmosphäre verbleiben, reicht eine Weltwirtschaftskrise aus, aber
auch eine erfolgreiche Politik der Luftreinhaltung, diesen Schutzeffekt
zu vermindern. 2-3 Grad, so James Lovelock, werden bei der globalen Temperatur
im Schnitt weggedimmt – Tendenz abnehmend. Das ist nebenbei bemerkt
die Hälfte der Differenz in der Temperaturänderung zwischen
der letzten Eiszeit und dem Niveau vor der Industrialisierung. Für
die nächste Jahrhundertwende würde sich eine Erhöhung
der globalen Temperatur im Schnitt um 8-10 Grad ergeben, also deutlich
mehr als bisher prognostiziert. Freilich muß man berücksichtigen,
welche neuen Erkenntnisse gerade in diesem Segment hinzukommen und dementsprechend
auch die Prognosen präzisieren.
Nicht weniger brisant ist die Freisetzung von Methaneis, wie es sich
u.a. an den Festlandsockeln der Antarktis in gigantischen Mengen findet.
So befürchtet man für in der Barentssee gefrorene Hydrate eine
Instabilität bereits bei einer Erhöhung der gemittelten Wassertemperatur
von einem Grad. Wird Methan in immer größerem Umfang freigesetzt,
kommt es zu einem „Supertreibhauseffekt“. Allein im Permafrostboden
des Planeten schlummern 400 Mrd. Tonnen vom Treibhausgas. Schiefe Häuser
und kaputte Straßen kündigen den langsamen Rückzug des
Permafrost an. Immer mehr beunruhigende Untersuchungsergebnisse zeigen,
in diesen Gebieten steigt die Temperatur überproportional. Die Vorräte,
die an den Festlandsockeln der Ozeane eingefrostet sind, betragen im
Minimum geschätzte 10000 Mrd. Tonnen, beim Maximum sind zwei Nullen
dranzuhängen. Endstation wäre ein Wüstenplanet.
Der IPCC erwartet für Ende dieses Jahrhunderts einen Anstieg der
Durchschnittstemperatur von bis zu sechs Grad. Die Berichte des IPCC
werden noch durch die politische Sphäre gefiltert. Man muß also
damit rechnen, einiges entwickelt sich dramatischer wie dort dargestellt.
Es ist zu berücksichtigen, die eben benannten Effekte dürften
dabei noch gar nicht einkalkuliert sein. Sie sind nicht einfach hinzuzuaddieren,
sie kulminieren sich, schaukeln sich auf. Völlig unprognostizierbar
ist, wie die verschiedenen nichtlinearen Effekte aufeinander einwirken.
So ist es z.B. möglich, daß es in der zweiten Jahrhunderthälfte
auch zu einer drastischen Abkühlung begrenzt auf den nordatlantischen
Raum um 5-10 Grad kommt, weil der warme Nordatlantikstrom durch Veränderungen
im Klimasystem versiegen könnte.
Befürchtet wird auch das Auftreten extrem starker und häufigerer
El Niños. Sie richten an der südamerikanischen Ostküste
große Schäden durch massiven Regen an und führen in Australien
zu extrem trockenem Wetter, Auswirkungen sind bis Indien und Ostafrika
zu registrieren und fordern viele Opfer. Wir sind dabei, daß in
den letzten 10.000 Jahren ungewöhnlich stabile Wettergeschehen auf
der Erde aus den Angeln zu reißen. Es könnte ein neues Klimasystem
einrasten, bei dem häufige extreme Veränderungen die Norm sind.
Für die jetzige Zivilisation würden solche Umschwünge,
schnell das entgültige Ende besiegeln.
95% der österreichischen Gletscher sind auf dem Rückzug, die
Hälfte des Eises ist bereits abgeschmolzen. In der Arktis sind die
Veränderungen der Eisflächen den Berechnungen der Forschung
um 30 Jahre voraus. Lichtes Vorspiel. Anderswo auf dem Globus wird schon
um die nackte Existenz gekämpft, etwa wenn der nächste überdimensionierte
El Niño die Ernte völlig vernichtet und der Hunger Einzug
hält. Das 21. Jahrhundert muß zu einer Epoche intelligenter,
kulturvoller Selbstbegrenzung werden, eine Abkehr von unserer materialistischen
Hochstapelei bringen, wenn wir die natürlichen Gleichgewichte unseres
Planeten nicht völlig sprengen wollen.
Erforderlich ist eine international gerechte Nutzung des Umweltraums.
Jeder Amerikaner benötigt 9,7 ha Umweltraum, der EU-Bürger
kommt auf 4,7 ha und der Inder auf 0,7 ha. Wir dürfen nicht mehr
Fläche in Beschlag nehmen, als uns über unsere eigenen Quadratkilometer
hinaus zustehen. Es geht nicht an, daß für Viehfutter oder
Tankfüllungen hierzulande, Regenwald im tropischen Gürtel vernichtet
wird, bzw. Menschen durch ungerechte Landverteilung hungern müssen.
Ein zukunftsfähiges Gesellschaftssystem erfordert nicht nur, den
expansionistischen Schub der Zivilisation auszusetzen, sondern braucht
auch eine ökologische Ethik, eine Wertewende, die zu einer Perspektive
führt, die über den gesellschaftlich gebündelten individuellen
Egoismus hinausreicht.
Die Wüsten dehnen sich jährlich um mehr als 20.000 Hektar aus.
86 Millionen Tonnen fruchtbarer Boden gehen durch Erosion verloren. In
den letzten 15 Jahren verschwand eine Regenwaldfläche dreimal so
groß wie Deutschland. Jeden Tag werden ca. 55.000 Hektar Tropenwald
abgeholzt, rund 300 bis 400 Tier- und Pflanzenarten sterben aus. Bald
werden wir die Hälfte aller Arten ausgerottet haben.
In der Geschichte der Evolution gab es fünf große Massensterben.
Im Falle der Permkatastrophe brauchte die Tier- und Pflanzenwelt 100
Millionen Jahre, um sich von diesem Einschlag zu erholen. Wir sind gerade
dabei, die sechste kosmische Vernichtungsorgie zu veranstalten. In immer
kürzeren Abständen verdoppelt sich die Bevölkerungszahl
auf der Erde, trotzdem sich die Wachstumsraten inzwischen leicht verlangsamt
haben. Vor der 10 Milliardenmarke wird das Bevölkerungswachstum
kaum zum Erliegen kommen.
Dies sind nur die dramatischsten Warnzeichen, wie wir die irdischen Belastungsgrenzen überrennen.
Innerhalb weniger Generationen werden die nicht erneuerbaren Rohstoffe
aufgebraucht, die in Jahrmillionen entstanden. Etwa beim Erdöl haben
wir die Spitzenförderung an Ölmengen inzwischen erreicht. Danach
sinkt das Angebot unter die ständig steigende Nachfrage. Das wird
eine Dauer-Ölkrise mit immer neuen Preisgipfeln und großen
sozialen Verwerfungen.
Zwischen Ursache und Wirkung sozialökologischer Destabilisierung
liegen häufig lange Zeiträume. Ziehen sich die verschiedenen
Konfliktpotentiale zu einem unlösbaren Knoten zusammen, läßt
sich das zerstörerische Potential nicht mehr abwenden, auch wenn
die auslösenden Gründe längst beseitigt sind. Ohne einen
Quantensprung in der Politik ist eine globalökologische Rettung
völlig aussichtslos. Sie wird schwieriger zu erreichen sein, als
es einst die Verhinderung der Nazibarbarei in Deutschland gewesen wäre.
Dabei könnten die ersten Schritte in wenigen Jahren getan sein.
Ungefähr alle acht Minuten schickt uns die Sonne soviel Energie
auf die Erde, wie wir in einem Jahr verbrauchen. Würden wir sämtliche
Energie, die wir nicht einsparen können, dezentral über Solartechnik,
Wasserkraft, Windkraft und aus Biomasse gewinnen, hätten wir schon
ein gutes Stück Zukunft gesichert. Wir werden aber auch die Stoffströme,
die wir durch unsere Industriegesellschaft pumpen, auf einen Bruchteil
zu reduzieren haben. Schmidt-Bleek spricht von einem Faktor Zehn. Jeder
Deutsche verbraucht rund 70 Tonnen Natur im Jahr, dabei ist Wasser und
Luft noch nicht mal berücksichtigt. Aber es läßt sich
nicht mit geringerem Wohlstandsniveau begründen, warum in Japan
dagegen der Einzelne mit nur 40 Tonnen auskommt, gleichwohl auch dies
weit von ökologischen Erfordernissen entfernt liegt.
In Deutschland werden 2008 bereits rund 14% des Stroms aus Wind, Wasserkraft,
Biomasse, Photovoltaik etc. gewonnen. Über 30 Länder übernahmen
modifiziert das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz, darunter auch China.
Auf der Ebene der Vereinten Nationen sollte eine internationale Agentur
für erneuerbare Energien aufgebaut werden. Nützlich wäre
auch eine Bank für erneuerbare Energien einzurichten.
Studien weisen darauf hin, die vielzitierte Zwei-Grad-Grenze, die man
nicht überschreiten dürfe, wird mit Sicherheit gebrochen, weil
die Klimasysteme mit starker Verzögerung reagieren und der Betrag
faktisch längst gebucht ist. Der Punkt, von dem es keine Rückkehr
mehr gibt, ist überschritten. Kohlendioxid bleibt ca. 100 Jahre
in der Stratosphäre klimaaktiv. Selbst wenn man innerhalb weniger
Jahre den Ausstoß global halbieren könnte und nicht bis 2050
darauf wartet, baut sich die Klimagefahr weiter auf, weil jedes Jahr
Milliarden Tonnen zur bereits angesammelten Menge dazu kommen. Wir packen
also nach wie vor auf die schon vorhandenen Altlasten riesige CO2 -Pakete
zusätzlich oben auf. Das kann gar nicht gut gehen. Der Klimaforscher
Mojib Latif spricht nicht umsonst in seinen Büchern immer wieder
davon, wir müssen eine Wirtschaftsweise anstreben, die frei von
Kohlendioxidemissionen ist. Damit steht unsere gesamte technische Infrastruktur,
unser bisheriges Wirtschaftsvolumen zur Debatte. Es reicht nicht aus,
in die bisherige unökologische Industriestruktur ein Stockwerk Umwelttechnologie
hineinzumontieren. Zu meinen, bis 2050 die Emissionen global zu halbieren
reiche aus, ist ein fataler Irrtum. Schon dazu müßten freilich
die Industrieländer fast 90% Reduktion beisteuern, wenn man den
weniger industrialisierten Ländern Entwicklungsspielraum geben möchte.
Die Berliner Republik steckt in Bezug auf die ökologische Herausforderung
schwerer in der Krise als die Weimarer Republik auf Grund der braunen
Gefahr. Gegen den Naziaufstieg hätte eine gemeinsame Kraftanstrengung
aller demokratisch-emanzipatorisch gesinnten Menschen eine Chance haben
können. Die ökologische Weltkrise wird durch nichts zu stoppen
sein, wenn nur lange genug abgewartet worden ist. Wenn es zu spät
ist, dann wird es nicht mehr ausreichen, unsere Industriegrundlast um
eine Zehnerpotenz zurückzunehmen. Nur wenn wir die Tragweite der
historischen Aufgabe begreifen und dementsprechend konsequent politisch
handeln, haben wir überhaupt eine geringe Chance, einen finalen
erdumspannenden Totalitarismus abzuwenden.
Warnende Stimmen gab es aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen
Ecken in den vergangenen Jahren mehr als genug. Wortmeldungen von Carl
Amery, Rudolf Bahro, Michael Succow, Herbert Gruhl, Friedrich Schmidt-Bleek,
Saral Sakar u.v.a. wurden von der politischen Klasse gern überhört.
Die Grünen fochten ihre ökologischen Ziele auf der verteilungspolitischen
Ebene aus und versuchten nicht mehr eine Umkehr der Prioritäten
zu erreichen. Damit sind sie weitgehend an die systemischen Trägheitskräfte
verloren gegangen.
Egal ob der Bundeskanzler gerade von der SPD oder CDU/CSU gestellt wird:
Die Unterschiede sind marginal. Sicher, die CDU/CSU braucht noch einen
Atom-GAU mehr zum Umdenken. Aber unter dem herkömmlichen Politikbetrieb
mit seinem tönenden Kampfgerassel, braut sich längst eine menschliche
Tragödie zusammen. Im Staatstheater stellt sich organisierte Verantwortungslosigkeit
zur Schau, Reformprozesse bleiben im Anziehungsbereich der alten Ordnung.
Eine „grüne Perestroika“ mit Erfolgsaussichten kommt
nicht in Sicht. Vormals Schröder und jetzt Merkel stehen für
das Weiter so, für den Abstieg in eine totalitäre Perspektive,
die durch ihre Politik langfristig mitverbürgt ist. Es sei unbestritten,
daß die Kanzlerin Merkel dem Klimaschutz auf dem internationalen
Parkett mehr Bedeutung verliehen hat. Doch innerhalb der eigenen Grenzen
diktiert nach wie vor die Autolobby den Gesetzgebungsprozeß und
Kohlkraftwerke scheinen der aktuellen CDU/SPD-Koalition klimapolitisch
tolerierbar. Die Kluft zwischen Wort und Tat ist offensichtlich.
Die Ökologen verschiedener Richtungen, auch solche mit verschiedenen
Parteibüchern in der Tasche, müssen in Deutschland, ebenso
in anderen Ländern wie international sich gegenseitig die Bälle
zuspielen. Wir brauchen eine Allianz gegen den Selbstmordkurs, einen
Prozeß des Umdenkens und Umhandelns, bei dem die Protagonisten
des Wirtschaftswachstums auf eine Position des passiven Widerstands zurückgedrängt
werden. Der geistige Stahlbeton der Weiter-so-Fraktion in der Gesellschaft
wird aufzubrechen sein. Das Volk und die Vordenker müssen mehr und
tiefgründiger ins Gespräch kommen, es wird auszuloten sein,
wo die verschiedenen Reformansätze ihre Stärken und Schwächen
haben.
Wir brauchen heute an den verschiedensten Orten Menschen, die sich aus
den vorgegebenen Strukturen lösen und eine universale Verantwortlichkeit
für eine Politik der ökologischen Zeitenwende, für einen
ethisch-geistigen Paradigmenwechsel befördern. Es kommt zunächst
mal besonders auf die Minderheit von einem Prozent im Lande an, die mit
aller Konsequenz den Weg hin zu einer ökologischen Ordnung vorbereiten.
Dazu gehört ein Netzwerk von Menschen, eine ökologische Emanzipationsbewegung,
eine Volksbewegung wie sie sich Herbst 1989 in der DDR manifestierte.
Jedoch diesmal geht es um das Ganze, viel mehr steht auf dem Spiel. Scheitern
heißt, wir stürzen in ein dunkles barbarisches Jahrtausend
ab. Weltumspannende Bürgerkriege könnten uns erwarten, ebenso
repressive Regime bzw. Notstandsjuntas.
Der erforderliche ökologisch-soziale Strukturwandel müßte
umfassender sein als alle vorhergehenden Umwälzungen und Reformen
in der Menschheitsgeschichte. Der Wohlstand von drei, vier Generationen
wird immer wahrscheinlicher mit Jahrhunderten Siechtum und Elend bezahlt
werden. Am Ende könnten Opferzahlen stehen, die selbst das Quantum
des Hitlersystems weit übersteigen, das Grauen der beiden Weltkriege
in den Schatten stellen. Angesichts dieser prekären Lage steht die
Frage nach Alternativen dringender als je zuvor auf der Tagesordnung
der Weltgeschichte. Wir alle müssen uns fragen, wie könnte
eine bestandsfähige ökoplanetare Zukunftszivilisation in wenigen
Jahrzehnten aussehen? Doch derzeit befassen sich ungefähr 1500 wissenschaftliche
Institute in unserem Land mit der Vergangenheit. Nur verschwindend wenige
Institute erforschen Pfade in eine sozial-ökologische Zukunft. Warum
sind wir so rückwärtsgewandt? Nötig wäre eine umfassende
Zukunftsforschung, die Formen und Strukturen eines zukunftsfähigen
Kultursystems aufzeigt und wie wir dort hin gelangen könnten, unter
Verzicht von Vorstellungen, man bräuchte nur grünen Tapetenwechsel
vornehmen.
Die eigentliche Chance für eine ökologische Rettungspolitik
erwächst aus dem geistigen Lebensniveau der Gesellschaften. Jede
sozialpsychologische Erneuerung beginnt im Menschen, dort wird der Boden
bereitet für eine Alternative, für einen neuen Kulturentwurf.
Die ökologische Zeitenwende sollte eingebettet in einen seelisch-geistigen
Wandel sein. Der Übergang vom fortschrittssüchtigen Wohlstandsstaat
zur in sich ruhenden Wohl-Seins-Gesellschaft ist nötig. Wir brauchen
ein ökologisches Kultursystem, das auf Herz und Geist gebaut ist.
Die Werte des Mensch-Werdens sollten über denen der Habgier angesiedelt
sein. Materieller Reichtum und Wohlstandssucht können nicht den
Gipfel menschlichen Daseins begründen. Die Aufrichtigkeit sozialer
Beziehungen, der Weg des Herzens ist die unmittelbarste Quelle für
die Heilung unserer kranken Gesellschaft.
Mit einer globalisierten Wettbewerbsökonomie, die auf permanentem
Wachstum fußt und einen Pol auf Kosten des anderen entwickelt,
wird die Todesspirale nicht aufzuhalten sein. Die Wirtschaft der Industrieländer
wird radikal schrumpfen müssen. Mit einer vollständigen solaren
Energiewende und einem Faktor vier in der Energieeffizienz allein ist ökologische
Rettung nicht zu erreichen. Wir werden uns verabschieden müssen
von jenem Irrglauben, der totale Markt könne alle unsere Probleme
lösen, die Menschen müßten nur noch richtig dafür
fit gemacht werden. Die ökonomische Globalisierung bedeutet zumindest
tendenziell eine rapide Beschleunigung unserer zerstörerischen Kapazitäten.
Dies zeigt sich z.B. weltweit in der dramatischen Zunahme von Auto- und
Flugverkehr, gleichwohl Wohlstandsverluste auch gegenteilige Wirkungen
zeitigen.
Ganz generell wird zu fragen sein, ob wir nicht eine Wirtschaftsverfassung
bräuchten jenseits von pseudosozialistischem Staatsmonopolismus
und gesellschaftlich institutionalisierter Habsucht. Wir sehen, es entwickelten
sich seit dem Fall der östlichen Systeme Ordnungen, die weit extremer
als unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz, sich gegen die vitalen
Interessen der jeweiligen Bevölkerungen stellen. Die sozialen und ökologischen
Güter werden durch die herrschenden Plutokratien offensiv ausgeplündert,
soweit die Gesetzgebung in der Praxis dem nicht Schranken setzt.
Ö
kologisch wirtschaften heißt auf die Kompetenzen der Regionen zu
setzten und nicht meine Produkte drei mal um den Erdball zu schicken,
bevor ich sie nutze. Wozu brauchen wir Rindfleisch aus Argentinien oder
Zwiebeln aus Neuseeland? Müssen Hemden zum Knöpfe annähen
von Deutschland nach Portugal und zurück geschafft werden usw.?
Mit dreistelligen Dollarbeträgen an Steuerbefreiungen für Flug-
und Schiffsverkehr wird der globale Handel jedes Jahr weltweit subventioniert
und damit der regionale und ökologisch verträglichere Handel
ausgetrocknet.
Solange man in Deutschland 70% der Steuern auf Arbeit und nur 5% auf
Energie erhebt, werden Arbeitsplätze gestrichen und nicht Energie
und Ressourcen gespart. Dazu braucht man einen ökologischen Umbau
des gesamten Steuersystems. Damit bestraft sich jede Verschwendung von
selbst auf allen Stufen der Herstellung, im Handel, dem Transport und
dem Konsum. Abfälle werden zu echten Wertstoffen, Reparaturdienstleistungen
rechnen sich wieder. Lohn- und Mehrwertsteuern und viele andere Steuerbestände
könnten innerhalb eines Jahrzehnts durch Steuern auf Energie- und
Rohstoffverbrauch fast vollständig abgelöst werden. Um die
soziale Balance deutlich zu verbessern, wäre sinnvoll, Lohnsteuern
für besonders hohe Einkommen zu erhalten und Unternehmensgewinne
substantiell an das Gemeinwohl zu binden.
Durch Ressourcensteuern würde der einzelne Beschäftigte mehr
in seiner Lohntüte behalten, der Faktor Arbeit preiswerter. Öffentlicher
Verkehr könnte ebenso als Ausgleich verbilligt werden. Drastisch
beschnitten werden müßten Subventionen für konventionelle
Wirtschaftstätigkeit. Nur Unternehmen, die rundum ökologisch
produzieren wollen, würden noch Förderungen erhalten können.
Mitnahmeeffekte sind zu vermeiden. Sinnvoll wäre zudem eine modifizierte
Mehrwertsteuer. Für die unbedingt notwendigen sozialen Grundbedürfnisse
könnte sie völlig wegfallen. Für zahlreiche Produkte bliebe
alles wie bisher, während für klimaschädliche Luxusprodukte
um 30% zu entrichten wären. Konkret: Die Bahnfahrt zur Arbeit bliebe
unbesteuert, während der Flugzeugtrip oder die Mercedes S-Klasse
die hohe Last zu tragen hätten.
Desweiteren haben wir über unsere demokratischen Fundamente nachzudenken.
Bisher ist der Mensch kaum über oligarchische Strukturen hinausgekommen.
Künftig müßte es regelmäßig zu vielen wichtigen
Fragen gesellschaftlicher Entwicklung Volksabstimmungen geben, die in
erster Linie durch die Bevölkerung selbst eingeleitet werden können
bzw. exponierte Bürgerinitiativen. Notwendig ist eine auf die Erfordernisse ökologischer
Selbstbegrenzung hin neu ausgearbeitete deutsche Verfassung. Ein einzelner
Artikel 20a zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Grundgesetz
wird den Erfordernissen für eine zukunftsfähige Staatstätigkeit
kaum gerecht werden, wenn unzählige andere Bestimmungen eine expansionistische
Wirtschaftstätigkeit für förderungswürdig anerkennen.
Ein grundlegender Kurswechsel ist am Ende jedoch nur möglich, wenn
es gelingt den spekulativen „Casino-Kapitalimus“, der sich
weitgehend von realwirtschaftlichen Prozessen abgekoppelt hat, durch
eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu überwinden.
Es gibt viele politische Instrumente vom Erneuerbaren Energiengesetz, über
ordnungspolitische Vorgaben mit denen man die Gesellschaft in neue Bahnen
lenken kann, bis hin zu einer antiplutokratischen Ordnung. Ob eine sozialökologische
Volksbewegung 2025 oder wann auch immer einen neuen Kurs erzwingt, hängt
davon ab, ob sich im Laufe der Zeit dafür die geistigen Potentiale
herausbilden. Der Problemdruck wird sich ganz zweifellos mehr und mehr
aufbauen.
Eingerichtet werden könnte ein Ökologisches Oberhaus (1), demokratisch
gewählt, das die langfristigen politischen Perspektiven festlegt
und dem Bundestag und dem Bundesrat gegenüber weisungsbefugt bzw. übergeordnet
ist. Es repräsentiert das Mensch-Natur-Verhältnis und wird
gegenüber den anarchischen Partialinteressen der Gesellschaft die
Maße ökologischer Begrenzung durchzusetzen haben. Es ist der
institutionelle Ausdruck, daß die Ökonomie und die soziale
Ausstattung ein Untersystem des Naturhaushalts ist und Marktgesetze sich
nicht gegen Naturgesetze zum Schaden der zukünftigen Generationen
durchsetzen dürfen. Ins Ökologische Oberhaus würden keine
Parteien gewählt, sondern es sollte sich über eine Personenwahl
konstituierten. Für die Bewerber/innen wird u.a. mit Hilfe einer
eigenständigen Arbeit nachzuweisen sein - sie sind für das
Amt qualifiziert. Eine Kommission entscheidet mit Beteiligung der Öffentlichkeit,
ob der Kandidatur im Vorfeld der Wahl stattgegeben wird. Zum Beispiel
könnte ein Umweltverband Einspruch gegen eine Person erheben, wenn
anhand von Fakten nachweisbar wäre, hier will ein Industrielobbyist
ins Parlament und die vorgelegte Arbeit ist nur schöner Schein.
An immer mehr Orten in Deutschland testen Menschen Formen ökologisch-alternativen
Lebens, freilich eine Minderheit. Wir sollten ökoalternative Lebensorte
fördern und insbesondere darauf hinwirken, die Startbedingungen
dafür zu verbessern. Menschen, die sich auf den Weg machen wollen
zu einem ökologischen Lebensstil, schneller als dies die übrige
Gesellschaft vermag, müßten dafür den erforderlichen
Freiraum erhalten. Über einen öffentlichen Beschäftigungssektor
könnte man alternativ-ökologische Methoden regionalen Wirtschaftens
unterstützen, zumindest für einen begrenzten Zeitraum als Anschubfinanzierung,
gleichwohl es hier nicht darum gehen kann, mit der bisherigen überdrehten
Marktgeschwindigkeit mitzuhalten.
Darüber hinaus ließen sich langfristige Kredite ohne Zinsen
für den Start in ganzheitliche neue Lebenszusammenhänge zur
Verfügung stellen. Solche ökologischen Lebensplätze vermögen
aus sich selbst heraus viele Hinweise auf alternative Lebensstile und
neue Formen des Zusammenlebens geben, die teilweise auch für die
gesamte Gesellschaft bedenkenswert sind, in jedem Fall aber eine Bereicherung
unseres Erfahrungsschatzes darstellen werden. Überdies wird auch
die Zeit für internationale Experimente kommen. Vorstellbar ist,
daß eine ganze Region in weniger entwickelten Ländern, komplett
vernetzt einen ökologische Kulturentwurf aufzubauen versucht, das
als Lernprojekt global nutzbar ist. Das könnte in internationaler
Kooperation geschehen. Nichts anderes steckt etwa hinter dem Ökotopia
in der Südsee, das Dirk C. Fleck in seinem fiktiven Reiseroman „Das
Tahiti-Projekt“ vorstellt.
Eine zentrale Aufgabe für die Zukunft wird sein, sich auf den bereits
in Gang gesetzten Klimawandel einzustellen. Das bedeutet z.B., Wälder
sind so anzulegen, daß sie extremem Klimastreß widerstehen
können. In alpinen Regionen müssen wegen Gletscherseen, Murengänge
etc. gefährdete Ortsteile umgesiedelt werden. An Nord- und Ostsee
sind Schutzmaßnahmen dem steigenden Meeresspiegel anzupassen. Die
Landwirtschaft sollte sich auf zunehmende Trockenperioden und Starkregen
vorbereiten und ihre Anbaumethoden grundlegend umgestalten. Wir brauchen
regenerierte Landschaften, die eine starke Kühlfunktion wahrnehmen
können und zugleich Bodenerosion verhindern. Trinkwasserreservoire
sind zu schonen und für künftige Generationen zu bewahren.
Sollten sich Szenarien für einen erheblich beschleunigten Klimawandel
bestätigen, ist die gesamte Infrastruktur unserer Gesellschaften
schnell und grundlegend zu verändern.
Zwischen 2000 und 2007 erhöhten sich die globalen CO2-Emmissionen
um rund 20%. Setzt sich dieser Weg fort, wird vermutlich nur noch in
Sibirien, Kanada und Alaska auf aufgetauten Arealen ein kleine Restzivilisation übrig
bleiben. Wegen Übernutzung der Gebiete durch zu viele Menschen ist
auch hier eine schwerwiegende Schädigung vorauszusehen, so daß die Übriggebliebenen
in vorzivilisatorische Zeiten zurückfallen. Zuvor werden gigantische
Flüchtlingsströme über die Kontinente hinwegziehen, doch
die Situation wird für sie oft aussichtslos sein. Ich teile James
Lovelocks Einschätzung, von der heutigen Menschheit bleiben womöglich
nur 0,5 –1 Milliarde Menschen übrig. Diese Richtung wird das
Ganze nehmen.
Vielleicht wird es zu einem Nachfolgeabkommen des ersten Kyoto-Protokolls
kommen, daß über die bisherigen Reduktionsabsichten hinausweist.
Die jetzigen Koordinaten dieser Verhandlungen sind nicht geeignet uns
aus der Todesspirale herauszusteuern. Es wäre wichtiger eine Allianz
der Vorreiter zu etablieren, die viel schneller die Klimalast ihrer Länder
abrüsten. Wir können noch unzählige weitere kraftlose
Umwelt- und Klimakonferenzen abhalten, wenn die Absichten das Papier
nicht wert sind auf dem sie stehen, bleiben sie wertlos. Die wirkliche
Dimension der ökologischen Weltkrise steht noch gar nicht auf der
Tagesordnung! Es muß erst noch begonnen werden sie abzumessen.
Noch ist sie nicht mal begriffen! Wir sind dabei diese ganze Zivilisation
zu verlieren. Einstweilen rasen wir auf ein „Auschwitz global“ zu,
lassen unsere Kinder und Kindeskinder ins offene Messer laufen ...
"Wege zur ökologischen Zeitenwende. Reformalternativen und
Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem"(Franz Alt,
Rudolf Bahro, Marko Ferst)
(1) Die ursprüngliche Idee stammt von Rudolf Bahro,
der sie in "Logik der Rettung" erstmals vorstellte.
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