Plädoyer für eine ökologische Zeitenwende


Marko Ferst

Rasant gewinnt der Klimawandel an Fahrt und bereitet den großen Klimaumbruch vor. Ungewöhnlich starke Regenfälle prasseln in Deutschland heute doppelt so häufig nieder wie vor 100 Jahren. Waren die braunen Elbfluten im Sommer 2002, die viele Dörfer und Städte verwüsteten nur ein kleines Vorspiel? Zeigen der Rekordsommer 2003 und der nicht vorhandene Winter Anfang 2007 erst den harmlosen Beginn eines globalen Umschwungs im Klimagefüge an? Treten schwere Stürme wie Kyrill immer häufiger auf? Wenn weite Teile von Afrika verwüsten, hält niemand die gigantischen Flüchtlingsströme auf. Ungebremste globale Klimaveränderungen würden große Teile der Bevölkerung ins soziale Nichts stürzen und zwischen Arm und Reich in ungekanntem Ausmaß polarisieren, mit entsprechendem Konfliktpotential. Im Klimawandel summieren sich Zersiedlung, Entwaldung und andere ökologische Schäden zu einer völlig neuen Größenordnung.
Immerhin rechnen 62% der Menschen in Deutschland damit, daß die Probleme die durch den Klimaveränderungen auf uns zukommen, auch im eigenen Land nicht zu bewältigen sein werden, so die Studie „Umweltbewußtsein in Deutschland 2006“. Auf den internationalen Konferenzen, die eine Reduzierung der globalen Treibhausemissionen erreichen wollen, klaffen die erklärten Ziele und die real notwendigen Maßnahmen sehr weit auseinander. In Bali konnte kein rettender Pfad abgesteckt werden. Die Menschheit hat 20 Jahre weitgehend verschenkt. Weitere Jahre werden im Kampf um Minimalien verstreichen. Jedes verschenkte Jahr engt den Handlungsspielraum weiter ein. 10-15 Länder sind dabei zum verschwenderischen Lebensstil des Nordens schrittweise aufzuschließen. Das Europa der 15 wird die Ziele des Kyotoprotokolls nicht erreichen. Acht Prozent Minderung an CO2-Ausstoß sind bisher nicht mal im Ansatz erkennbar. In den USA gab es zwischen 1990 und 2006 mehr als 20% Zuwachs.
Gnadenlos überrennen wir die ökologischen Demarkationslinien für die Freiheit einer Geldvermehrung ins schlicht Unendliche und einem Anspruchsdenken, das global nicht verallgemeinerbar ist. Jeder Deutsche entläßt im Schnitt rund 12 Tonnen der verschiedenen Klimagase pro Jahr. Wir sitzen mit den hochentwickelten Industriegesellschaften in einer Wohlstandsfalle fest, der geschaffene Reichtum steht auf tönernen Füßen. Unser Beharren, an diesem erfolgsverwöhnten Weg festzuhalten, wird uns sehr wahrscheinlich Kopf und Kragen kosten. Wir sollten erkennen: Unsere Generation ist mit aller Konsequenz dafür verantwortlich, ob es eine lebenswerte Zukunft geben wird. Entwarnende Bestseller, die uns nahelegen, es wird schon alles nicht so schlimm - dort hat sich die Wissenschaft geirrt und hier sind Fakten die beweisen, die Ökologen spinnen: All das wird sich spätestens, wenn die biosphärische Gesamtabrechnung kommt, auf die Menge an bösartiger Schönfärberei hin überprüfen lassen müssen. Trotz vieler weißer Flecken - die Datenlage ist beängstigend dicht.
Mit täglich mehr als 100 Millionen Tonnen Kohlendioxid, die wir in die Atmosphäre schicken, revolutionieren wir das Klima. Mindestens ein Drittel davon nehmen derzeit die Ozeane auf. Steigt die Erdtemperatur in Folge der Klimaerwärmung, sinkt ihre Aufnahmefähigkeit. Die Frage ist, ab wann die Ozeane sogar CO2 abgeben könnten. Einstweilen verzögern die Ozeane die Treibhauswirkung an Land um Jahrzehnte, weil sie große Mengen an Wärme und CO2 aufnehmen. Dieser Effekt täuscht uns über das bereits destabilisierte Potential hinweg.
In den Ozeanen selbst werden bei zuviel aufgenommenem Kohlendioxid die Nahrungsketten zerschnitten. Die Versauerung des Wassers könnte Korallen, bestimmte Planktonarten und andere Organismen mit kalkhaltigen Schalen am stärksten treffen. Am Ende der maritimen Nahrungskette steht nicht zuletzt der Mensch. Wird langfristig Grönland wieder Grünland und bricht das Westantarktische Schelfeis auf, stiege der Meeresspiegel um rund 13 Meter. Auch in der Eemwarmzeit vor 125000 Jahren lag der Meeresspiegel um rund 6 Meter höher bei zwei Grad mehr gegenüber der jetzigen Warmzeit.
Areosole, Rußpartikel die durch die heutigen Industriegesellschaften ausgestoßen werden und die von dem Verbrennen des Regenwalds herrühren, verdunkeln die Lichteinstrahlung auf unserem Planeten. Die BBC-Dokumentation „Schwarze Sonne“ zeigt auf, dieser Effekt wirkt viel stärker dem Treibhauseffekt entgegen als bisher angenommen. Da diese Partikel nur kurze Zeit in der Atmosphäre verbleiben, reicht eine Weltwirtschaftskrise aus, aber auch eine erfolgreiche Politik der Luftreinhaltung, diesen Schutzeffekt zu vermindern. 2-3 Grad, so James Lovelock, werden bei der globalen Temperatur im Schnitt weggedimmt – Tendenz abnehmend. Das ist nebenbei bemerkt die Hälfte der Differenz in der Temperaturänderung zwischen der letzten Eiszeit und dem Niveau vor der Industrialisierung. Für die nächste Jahrhundertwende würde sich eine Erhöhung der globalen Temperatur im Schnitt um 8-10 Grad ergeben, also deutlich mehr als bisher prognostiziert. Freilich muß man berücksichtigen, welche neuen Erkenntnisse gerade in diesem Segment hinzukommen und dementsprechend auch die Prognosen präzisieren.
Nicht weniger brisant ist die Freisetzung von Methaneis, wie es sich u.a. an den Festlandsockeln der Antarktis in gigantischen Mengen findet. So befürchtet man für in der Barentssee gefrorene Hydrate eine Instabilität bereits bei einer Erhöhung der gemittelten Wassertemperatur von einem Grad. Wird Methan in immer größerem Umfang freigesetzt, kommt es zu einem „Supertreibhauseffekt“. Allein im Permafrostboden des Planeten schlummern 400 Mrd. Tonnen vom Treibhausgas. Schiefe Häuser und kaputte Straßen kündigen den langsamen Rückzug des Permafrost an. Immer mehr beunruhigende Untersuchungsergebnisse zeigen, in diesen Gebieten steigt die Temperatur überproportional. Die Vorräte, die an den Festlandsockeln der Ozeane eingefrostet sind, betragen im Minimum geschätzte 10000 Mrd. Tonnen, beim Maximum sind zwei Nullen dranzuhängen. Endstation wäre ein Wüstenplanet.
Der IPCC erwartet für Ende dieses Jahrhunderts einen Anstieg der Durchschnittstemperatur von bis zu sechs Grad. Die Berichte des IPCC werden noch durch die politische Sphäre gefiltert. Man muß also damit rechnen, einiges entwickelt sich dramatischer wie dort dargestellt. Es ist zu berücksichtigen, die eben benannten Effekte dürften dabei noch gar nicht einkalkuliert sein. Sie sind nicht einfach hinzuzuaddieren, sie kulminieren sich, schaukeln sich auf. Völlig unprognostizierbar ist, wie die verschiedenen nichtlinearen Effekte aufeinander einwirken. So ist es z.B. möglich, daß es in der zweiten Jahrhunderthälfte auch zu einer drastischen Abkühlung begrenzt auf den nordatlantischen Raum um 5-10 Grad kommt, weil der warme Nordatlantikstrom durch Veränderungen im Klimasystem versiegen könnte.
Befürchtet wird auch das Auftreten extrem starker und häufigerer El Niños. Sie richten an der südamerikanischen Ostküste große Schäden durch massiven Regen an und führen in Australien zu extrem trockenem Wetter, Auswirkungen sind bis Indien und Ostafrika zu registrieren und fordern viele Opfer. Wir sind dabei, daß in den letzten 10.000 Jahren ungewöhnlich stabile Wettergeschehen auf der Erde aus den Angeln zu reißen. Es könnte ein neues Klimasystem einrasten, bei dem häufige extreme Veränderungen die Norm sind. Für die jetzige Zivilisation würden solche Umschwünge, schnell das entgültige Ende besiegeln.
95% der österreichischen Gletscher sind auf dem Rückzug, die Hälfte des Eises ist bereits abgeschmolzen. In der Arktis sind die Veränderungen der Eisflächen den Berechnungen der Forschung um 30 Jahre voraus. Lichtes Vorspiel. Anderswo auf dem Globus wird schon um die nackte Existenz gekämpft, etwa wenn der nächste überdimensionierte El Niño die Ernte völlig vernichtet und der Hunger Einzug hält. Das 21. Jahrhundert muß zu einer Epoche intelligenter, kulturvoller Selbstbegrenzung werden, eine Abkehr von unserer materialistischen Hochstapelei bringen, wenn wir die natürlichen Gleichgewichte unseres Planeten nicht völlig sprengen wollen.
Erforderlich ist eine international gerechte Nutzung des Umweltraums. Jeder Amerikaner benötigt 9,7 ha Umweltraum, der EU-Bürger kommt auf 4,7 ha und der Inder auf 0,7 ha. Wir dürfen nicht mehr Fläche in Beschlag nehmen, als uns über unsere eigenen Quadratkilometer hinaus zustehen. Es geht nicht an, daß für Viehfutter oder Tankfüllungen hierzulande, Regenwald im tropischen Gürtel vernichtet wird, bzw. Menschen durch ungerechte Landverteilung hungern müssen. Ein zukunftsfähiges Gesellschaftssystem erfordert nicht nur, den expansionistischen Schub der Zivilisation auszusetzen, sondern braucht auch eine ökologische Ethik, eine Wertewende, die zu einer Perspektive führt, die über den gesellschaftlich gebündelten individuellen Egoismus hinausreicht.
Die Wüsten dehnen sich jährlich um mehr als 20.000 Hektar aus. 86 Millionen Tonnen fruchtbarer Boden gehen durch Erosion verloren. In den letzten 15 Jahren verschwand eine Regenwaldfläche dreimal so groß wie Deutschland. Jeden Tag werden ca. 55.000 Hektar Tropenwald abgeholzt, rund 300 bis 400 Tier- und Pflanzenarten sterben aus. Bald werden wir die Hälfte aller Arten ausgerottet haben.
In der Geschichte der Evolution gab es fünf große Massensterben. Im Falle der Permkatastrophe brauchte die Tier- und Pflanzenwelt 100 Millionen Jahre, um sich von diesem Einschlag zu erholen. Wir sind gerade dabei, die sechste kosmische Vernichtungsorgie zu veranstalten. In immer kürzeren Abständen verdoppelt sich die Bevölkerungszahl auf der Erde, trotzdem sich die Wachstumsraten inzwischen leicht verlangsamt haben. Vor der 10 Milliardenmarke wird das Bevölkerungswachstum kaum zum Erliegen kommen.
Dies sind nur die dramatischsten Warnzeichen, wie wir die irdischen Belastungsgrenzen überrennen. Innerhalb weniger Generationen werden die nicht erneuerbaren Rohstoffe aufgebraucht, die in Jahrmillionen entstanden. Etwa beim Erdöl haben wir die Spitzenförderung an Ölmengen inzwischen erreicht. Danach sinkt das Angebot unter die ständig steigende Nachfrage. Das wird eine Dauer-Ölkrise mit immer neuen Preisgipfeln und großen sozialen Verwerfungen.
Zwischen Ursache und Wirkung sozialökologischer Destabilisierung liegen häufig lange Zeiträume. Ziehen sich die verschiedenen Konfliktpotentiale zu einem unlösbaren Knoten zusammen, läßt sich das zerstörerische Potential nicht mehr abwenden, auch wenn die auslösenden Gründe längst beseitigt sind. Ohne einen Quantensprung in der Politik ist eine globalökologische Rettung völlig aussichtslos. Sie wird schwieriger zu erreichen sein, als es einst die Verhinderung der Nazibarbarei in Deutschland gewesen wäre. Dabei könnten die ersten Schritte in wenigen Jahren getan sein. Ungefähr alle acht Minuten schickt uns die Sonne soviel Energie auf die Erde, wie wir in einem Jahr verbrauchen. Würden wir sämtliche Energie, die wir nicht einsparen können, dezentral über Solartechnik, Wasserkraft, Windkraft und aus Biomasse gewinnen, hätten wir schon ein gutes Stück Zukunft gesichert. Wir werden aber auch die Stoffströme, die wir durch unsere Industriegesellschaft pumpen, auf einen Bruchteil zu reduzieren haben. Schmidt-Bleek spricht von einem Faktor Zehn. Jeder Deutsche verbraucht rund 70 Tonnen Natur im Jahr, dabei ist Wasser und Luft noch nicht mal berücksichtigt. Aber es läßt sich nicht mit geringerem Wohlstandsniveau begründen, warum in Japan dagegen der Einzelne mit nur 40 Tonnen auskommt, gleichwohl auch dies weit von ökologischen Erfordernissen entfernt liegt.
In Deutschland werden 2008 bereits rund 14% des Stroms aus Wind, Wasserkraft, Biomasse, Photovoltaik etc. gewonnen. Über 30 Länder übernahmen modifiziert das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz, darunter auch China. Auf der Ebene der Vereinten Nationen sollte eine internationale Agentur für erneuerbare Energien aufgebaut werden. Nützlich wäre auch eine Bank für erneuerbare Energien einzurichten.
Studien weisen darauf hin, die vielzitierte Zwei-Grad-Grenze, die man nicht überschreiten dürfe, wird mit Sicherheit gebrochen, weil die Klimasysteme mit starker Verzögerung reagieren und der Betrag faktisch längst gebucht ist. Der Punkt, von dem es keine Rückkehr mehr gibt, ist überschritten. Kohlendioxid bleibt ca. 100 Jahre in der Stratosphäre klimaaktiv. Selbst wenn man innerhalb weniger Jahre den Ausstoß global halbieren könnte und nicht bis 2050 darauf wartet, baut sich die Klimagefahr weiter auf, weil jedes Jahr Milliarden Tonnen zur bereits angesammelten Menge dazu kommen. Wir packen also nach wie vor auf die schon vorhandenen Altlasten riesige CO2 -Pakete zusätzlich oben auf. Das kann gar nicht gut gehen. Der Klimaforscher Mojib Latif spricht nicht umsonst in seinen Büchern immer wieder davon, wir müssen eine Wirtschaftsweise anstreben, die frei von Kohlendioxidemissionen ist. Damit steht unsere gesamte technische Infrastruktur, unser bisheriges Wirtschaftsvolumen zur Debatte. Es reicht nicht aus, in die bisherige unökologische Industriestruktur ein Stockwerk Umwelttechnologie hineinzumontieren. Zu meinen, bis 2050 die Emissionen global zu halbieren reiche aus, ist ein fataler Irrtum. Schon dazu müßten freilich die Industrieländer fast 90% Reduktion beisteuern, wenn man den weniger industrialisierten Ländern Entwicklungsspielraum geben möchte.
Die Berliner Republik steckt in Bezug auf die ökologische Herausforderung schwerer in der Krise als die Weimarer Republik auf Grund der braunen Gefahr. Gegen den Naziaufstieg hätte eine gemeinsame Kraftanstrengung aller demokratisch-emanzipatorisch gesinnten Menschen eine Chance haben können. Die ökologische Weltkrise wird durch nichts zu stoppen sein, wenn nur lange genug abgewartet worden ist. Wenn es zu spät ist, dann wird es nicht mehr ausreichen, unsere Industriegrundlast um eine Zehnerpotenz zurückzunehmen. Nur wenn wir die Tragweite der historischen Aufgabe begreifen und dementsprechend konsequent politisch handeln, haben wir überhaupt eine geringe Chance, einen finalen erdumspannenden Totalitarismus abzuwenden.
Warnende Stimmen gab es aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ecken in den vergangenen Jahren mehr als genug. Wortmeldungen von Carl Amery, Rudolf Bahro, Michael Succow, Herbert Gruhl, Friedrich Schmidt-Bleek, Saral Sakar u.v.a. wurden von der politischen Klasse gern überhört. Die Grünen fochten ihre ökologischen Ziele auf der verteilungspolitischen Ebene aus und versuchten nicht mehr eine Umkehr der Prioritäten zu erreichen. Damit sind sie weitgehend an die systemischen Trägheitskräfte verloren gegangen.
Egal ob der Bundeskanzler gerade von der SPD oder CDU/CSU gestellt wird: Die Unterschiede sind marginal. Sicher, die CDU/CSU braucht noch einen Atom-GAU mehr zum Umdenken. Aber unter dem herkömmlichen Politikbetrieb mit seinem tönenden Kampfgerassel, braut sich längst eine menschliche Tragödie zusammen. Im Staatstheater stellt sich organisierte Verantwortungslosigkeit zur Schau, Reformprozesse bleiben im Anziehungsbereich der alten Ordnung. Eine „grüne Perestroika“ mit Erfolgsaussichten kommt nicht in Sicht. Vormals Schröder und jetzt Merkel stehen für das Weiter so, für den Abstieg in eine totalitäre Perspektive, die durch ihre Politik langfristig mitverbürgt ist. Es sei unbestritten, daß die Kanzlerin Merkel dem Klimaschutz auf dem internationalen Parkett mehr Bedeutung verliehen hat. Doch innerhalb der eigenen Grenzen diktiert nach wie vor die Autolobby den Gesetzgebungsprozeß und Kohlkraftwerke scheinen der aktuellen CDU/SPD-Koalition klimapolitisch tolerierbar. Die Kluft zwischen Wort und Tat ist offensichtlich.
Die Ökologen verschiedener Richtungen, auch solche mit verschiedenen Parteibüchern in der Tasche, müssen in Deutschland, ebenso in anderen Ländern wie international sich gegenseitig die Bälle zuspielen. Wir brauchen eine Allianz gegen den Selbstmordkurs, einen Prozeß des Umdenkens und Umhandelns, bei dem die Protagonisten des Wirtschaftswachstums auf eine Position des passiven Widerstands zurückgedrängt werden. Der geistige Stahlbeton der Weiter-so-Fraktion in der Gesellschaft wird aufzubrechen sein. Das Volk und die Vordenker müssen mehr und tiefgründiger ins Gespräch kommen, es wird auszuloten sein, wo die verschiedenen Reformansätze ihre Stärken und Schwächen haben.
Wir brauchen heute an den verschiedensten Orten Menschen, die sich aus den vorgegebenen Strukturen lösen und eine universale Verantwortlichkeit für eine Politik der ökologischen Zeitenwende, für einen ethisch-geistigen Paradigmenwechsel befördern. Es kommt zunächst mal besonders auf die Minderheit von einem Prozent im Lande an, die mit aller Konsequenz den Weg hin zu einer ökologischen Ordnung vorbereiten. Dazu gehört ein Netzwerk von Menschen, eine ökologische Emanzipationsbewegung, eine Volksbewegung wie sie sich Herbst 1989 in der DDR manifestierte. Jedoch diesmal geht es um das Ganze, viel mehr steht auf dem Spiel. Scheitern heißt, wir stürzen in ein dunkles barbarisches Jahrtausend ab. Weltumspannende Bürgerkriege könnten uns erwarten, ebenso repressive Regime bzw. Notstandsjuntas.
Der erforderliche ökologisch-soziale Strukturwandel müßte umfassender sein als alle vorhergehenden Umwälzungen und Reformen in der Menschheitsgeschichte. Der Wohlstand von drei, vier Generationen wird immer wahrscheinlicher mit Jahrhunderten Siechtum und Elend bezahlt werden. Am Ende könnten Opferzahlen stehen, die selbst das Quantum des Hitlersystems weit übersteigen, das Grauen der beiden Weltkriege in den Schatten stellen. Angesichts dieser prekären Lage steht die Frage nach Alternativen dringender als je zuvor auf der Tagesordnung der Weltgeschichte. Wir alle müssen uns fragen, wie könnte eine bestandsfähige ökoplanetare Zukunftszivilisation in wenigen Jahrzehnten aussehen? Doch derzeit befassen sich ungefähr 1500 wissenschaftliche Institute in unserem Land mit der Vergangenheit. Nur verschwindend wenige Institute erforschen Pfade in eine sozial-ökologische Zukunft. Warum sind wir so rückwärtsgewandt? Nötig wäre eine umfassende Zukunftsforschung, die Formen und Strukturen eines zukunftsfähigen Kultursystems aufzeigt und wie wir dort hin gelangen könnten, unter Verzicht von Vorstellungen, man bräuchte nur grünen Tapetenwechsel vornehmen.
Die eigentliche Chance für eine ökologische Rettungspolitik erwächst aus dem geistigen Lebensniveau der Gesellschaften. Jede sozialpsychologische Erneuerung beginnt im Menschen, dort wird der Boden bereitet für eine Alternative, für einen neuen Kulturentwurf. Die ökologische Zeitenwende sollte eingebettet in einen seelisch-geistigen Wandel sein. Der Übergang vom fortschrittssüchtigen Wohlstandsstaat zur in sich ruhenden Wohl-Seins-Gesellschaft ist nötig. Wir brauchen ein ökologisches Kultursystem, das auf Herz und Geist gebaut ist. Die Werte des Mensch-Werdens sollten über denen der Habgier angesiedelt sein. Materieller Reichtum und Wohlstandssucht können nicht den Gipfel menschlichen Daseins begründen. Die Aufrichtigkeit sozialer Beziehungen, der Weg des Herzens ist die unmittelbarste Quelle für die Heilung unserer kranken Gesellschaft.
Mit einer globalisierten Wettbewerbsökonomie, die auf permanentem Wachstum fußt und einen Pol auf Kosten des anderen entwickelt, wird die Todesspirale nicht aufzuhalten sein. Die Wirtschaft der Industrieländer wird radikal schrumpfen müssen. Mit einer vollständigen solaren Energiewende und einem Faktor vier in der Energieeffizienz allein ist ökologische Rettung nicht zu erreichen. Wir werden uns verabschieden müssen von jenem Irrglauben, der totale Markt könne alle unsere Probleme lösen, die Menschen müßten nur noch richtig dafür fit gemacht werden. Die ökonomische Globalisierung bedeutet zumindest tendenziell eine rapide Beschleunigung unserer zerstörerischen Kapazitäten. Dies zeigt sich z.B. weltweit in der dramatischen Zunahme von Auto- und Flugverkehr, gleichwohl Wohlstandsverluste auch gegenteilige Wirkungen zeitigen.
Ganz generell wird zu fragen sein, ob wir nicht eine Wirtschaftsverfassung bräuchten jenseits von pseudosozialistischem Staatsmonopolismus und gesellschaftlich institutionalisierter Habsucht. Wir sehen, es entwickelten sich seit dem Fall der östlichen Systeme Ordnungen, die weit extremer als unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz, sich gegen die vitalen Interessen der jeweiligen Bevölkerungen stellen. Die sozialen und ökologischen Güter werden durch die herrschenden Plutokratien offensiv ausgeplündert, soweit die Gesetzgebung in der Praxis dem nicht Schranken setzt.
Ö kologisch wirtschaften heißt auf die Kompetenzen der Regionen zu setzten und nicht meine Produkte drei mal um den Erdball zu schicken, bevor ich sie nutze. Wozu brauchen wir Rindfleisch aus Argentinien oder Zwiebeln aus Neuseeland? Müssen Hemden zum Knöpfe annähen von Deutschland nach Portugal und zurück geschafft werden usw.? Mit dreistelligen Dollarbeträgen an Steuerbefreiungen für Flug- und Schiffsverkehr wird der globale Handel jedes Jahr weltweit subventioniert und damit der regionale und ökologisch verträglichere Handel ausgetrocknet.
Solange man in Deutschland 70% der Steuern auf Arbeit und nur 5% auf Energie erhebt, werden Arbeitsplätze gestrichen und nicht Energie und Ressourcen gespart. Dazu braucht man einen ökologischen Umbau des gesamten Steuersystems. Damit bestraft sich jede Verschwendung von selbst auf allen Stufen der Herstellung, im Handel, dem Transport und dem Konsum. Abfälle werden zu echten Wertstoffen, Reparaturdienstleistungen rechnen sich wieder. Lohn- und Mehrwertsteuern und viele andere Steuerbestände könnten innerhalb eines Jahrzehnts durch Steuern auf Energie- und Rohstoffverbrauch fast vollständig abgelöst werden. Um die soziale Balance deutlich zu verbessern, wäre sinnvoll, Lohnsteuern für besonders hohe Einkommen zu erhalten und Unternehmensgewinne substantiell an das Gemeinwohl zu binden.
Durch Ressourcensteuern würde der einzelne Beschäftigte mehr in seiner Lohntüte behalten, der Faktor Arbeit preiswerter. Öffentlicher Verkehr könnte ebenso als Ausgleich verbilligt werden. Drastisch beschnitten werden müßten Subventionen für konventionelle Wirtschaftstätigkeit. Nur Unternehmen, die rundum ökologisch produzieren wollen, würden noch Förderungen erhalten können. Mitnahmeeffekte sind zu vermeiden. Sinnvoll wäre zudem eine modifizierte Mehrwertsteuer. Für die unbedingt notwendigen sozialen Grundbedürfnisse könnte sie völlig wegfallen. Für zahlreiche Produkte bliebe alles wie bisher, während für klimaschädliche Luxusprodukte um 30% zu entrichten wären. Konkret: Die Bahnfahrt zur Arbeit bliebe unbesteuert, während der Flugzeugtrip oder die Mercedes S-Klasse die hohe Last zu tragen hätten.
Desweiteren haben wir über unsere demokratischen Fundamente nachzudenken. Bisher ist der Mensch kaum über oligarchische Strukturen hinausgekommen. Künftig müßte es regelmäßig zu vielen wichtigen Fragen gesellschaftlicher Entwicklung Volksabstimmungen geben, die in erster Linie durch die Bevölkerung selbst eingeleitet werden können bzw. exponierte Bürgerinitiativen. Notwendig ist eine auf die Erfordernisse ökologischer Selbstbegrenzung hin neu ausgearbeitete deutsche Verfassung. Ein einzelner Artikel 20a zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Grundgesetz wird den Erfordernissen für eine zukunftsfähige Staatstätigkeit kaum gerecht werden, wenn unzählige andere Bestimmungen eine expansionistische Wirtschaftstätigkeit für förderungswürdig anerkennen. Ein grundlegender Kurswechsel ist am Ende jedoch nur möglich, wenn es gelingt den spekulativen „Casino-Kapitalimus“, der sich weitgehend von realwirtschaftlichen Prozessen abgekoppelt hat, durch eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu überwinden.
Es gibt viele politische Instrumente vom Erneuerbaren Energiengesetz, über ordnungspolitische Vorgaben mit denen man die Gesellschaft in neue Bahnen lenken kann, bis hin zu einer antiplutokratischen Ordnung. Ob eine sozialökologische Volksbewegung 2025 oder wann auch immer einen neuen Kurs erzwingt, hängt davon ab, ob sich im Laufe der Zeit dafür die geistigen Potentiale herausbilden. Der Problemdruck wird sich ganz zweifellos mehr und mehr aufbauen.
Eingerichtet werden könnte ein Ökologisches Oberhaus (1), demokratisch gewählt, das die langfristigen politischen Perspektiven festlegt und dem Bundestag und dem Bundesrat gegenüber weisungsbefugt bzw. übergeordnet ist. Es repräsentiert das Mensch-Natur-Verhältnis und wird gegenüber den anarchischen Partialinteressen der Gesellschaft die Maße ökologischer Begrenzung durchzusetzen haben. Es ist der institutionelle Ausdruck, daß die Ökonomie und die soziale Ausstattung ein Untersystem des Naturhaushalts ist und Marktgesetze sich nicht gegen Naturgesetze zum Schaden der zukünftigen Generationen durchsetzen dürfen. Ins Ökologische Oberhaus würden keine Parteien gewählt, sondern es sollte sich über eine Personenwahl konstituierten. Für die Bewerber/innen wird u.a. mit Hilfe einer eigenständigen Arbeit nachzuweisen sein - sie sind für das Amt qualifiziert. Eine Kommission entscheidet mit Beteiligung der Öffentlichkeit, ob der Kandidatur im Vorfeld der Wahl stattgegeben wird. Zum Beispiel könnte ein Umweltverband Einspruch gegen eine Person erheben, wenn anhand von Fakten nachweisbar wäre, hier will ein Industrielobbyist ins Parlament und die vorgelegte Arbeit ist nur schöner Schein.
An immer mehr Orten in Deutschland testen Menschen Formen ökologisch-alternativen Lebens, freilich eine Minderheit. Wir sollten ökoalternative Lebensorte fördern und insbesondere darauf hinwirken, die Startbedingungen dafür zu verbessern. Menschen, die sich auf den Weg machen wollen zu einem ökologischen Lebensstil, schneller als dies die übrige Gesellschaft vermag, müßten dafür den erforderlichen Freiraum erhalten. Über einen öffentlichen Beschäftigungssektor könnte man alternativ-ökologische Methoden regionalen Wirtschaftens unterstützen, zumindest für einen begrenzten Zeitraum als Anschubfinanzierung, gleichwohl es hier nicht darum gehen kann, mit der bisherigen überdrehten Marktgeschwindigkeit mitzuhalten.
Darüber hinaus ließen sich langfristige Kredite ohne Zinsen für den Start in ganzheitliche neue Lebenszusammenhänge zur Verfügung stellen. Solche ökologischen Lebensplätze vermögen aus sich selbst heraus viele Hinweise auf alternative Lebensstile und neue Formen des Zusammenlebens geben, die teilweise auch für die gesamte Gesellschaft bedenkenswert sind, in jedem Fall aber eine Bereicherung unseres Erfahrungsschatzes darstellen werden. Überdies wird auch die Zeit für internationale Experimente kommen. Vorstellbar ist, daß eine ganze Region in weniger entwickelten Ländern, komplett vernetzt einen ökologische Kulturentwurf aufzubauen versucht, das als Lernprojekt global nutzbar ist. Das könnte in internationaler Kooperation geschehen. Nichts anderes steckt etwa hinter dem Ökotopia in der Südsee, das Dirk C. Fleck in seinem fiktiven Reiseroman „Das Tahiti-Projekt“ vorstellt.
Eine zentrale Aufgabe für die Zukunft wird sein, sich auf den bereits in Gang gesetzten Klimawandel einzustellen. Das bedeutet z.B., Wälder sind so anzulegen, daß sie extremem Klimastreß widerstehen können. In alpinen Regionen müssen wegen Gletscherseen, Murengänge etc. gefährdete Ortsteile umgesiedelt werden. An Nord- und Ostsee sind Schutzmaßnahmen dem steigenden Meeresspiegel anzupassen. Die Landwirtschaft sollte sich auf zunehmende Trockenperioden und Starkregen vorbereiten und ihre Anbaumethoden grundlegend umgestalten. Wir brauchen regenerierte Landschaften, die eine starke Kühlfunktion wahrnehmen können und zugleich Bodenerosion verhindern. Trinkwasserreservoire sind zu schonen und für künftige Generationen zu bewahren. Sollten sich Szenarien für einen erheblich beschleunigten Klimawandel bestätigen, ist die gesamte Infrastruktur unserer Gesellschaften schnell und grundlegend zu verändern.
Zwischen 2000 und 2007 erhöhten sich die globalen CO2-Emmissionen um rund 20%. Setzt sich dieser Weg fort, wird vermutlich nur noch in Sibirien, Kanada und Alaska auf aufgetauten Arealen ein kleine Restzivilisation übrig bleiben. Wegen Übernutzung der Gebiete durch zu viele Menschen ist auch hier eine schwerwiegende Schädigung vorauszusehen, so daß die Übriggebliebenen in vorzivilisatorische Zeiten zurückfallen. Zuvor werden gigantische Flüchtlingsströme über die Kontinente hinwegziehen, doch die Situation wird für sie oft aussichtslos sein. Ich teile James Lovelocks Einschätzung, von der heutigen Menschheit bleiben womöglich nur 0,5 –1 Milliarde Menschen übrig. Diese Richtung wird das Ganze nehmen.
Vielleicht wird es zu einem Nachfolgeabkommen des ersten Kyoto-Protokolls kommen, daß über die bisherigen Reduktionsabsichten hinausweist. Die jetzigen Koordinaten dieser Verhandlungen sind nicht geeignet uns aus der Todesspirale herauszusteuern. Es wäre wichtiger eine Allianz der Vorreiter zu etablieren, die viel schneller die Klimalast ihrer Länder abrüsten. Wir können noch unzählige weitere kraftlose Umwelt- und Klimakonferenzen abhalten, wenn die Absichten das Papier nicht wert sind auf dem sie stehen, bleiben sie wertlos. Die wirkliche Dimension der ökologischen Weltkrise steht noch gar nicht auf der Tagesordnung! Es muß erst noch begonnen werden sie abzumessen. Noch ist sie nicht mal begriffen! Wir sind dabei diese ganze Zivilisation zu verlieren. Einstweilen rasen wir auf ein „Auschwitz global“ zu, lassen unsere Kinder und Kindeskinder ins offene Messer laufen ...

"Wege zur ökologischen Zeitenwende. Reformalternativen und Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem"(Franz Alt, Rudolf Bahro, Marko Ferst)


(1) Die ursprüngliche Idee stammt von Rudolf Bahro, der sie in "Logik der Rettung" erstmals vorstellte.