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Menschenrechte
und Umweltpolitik
Wolfgang Sachs
Der Anspruch auf Gleichheit muss keineswegs als das Herzstück von
Gerechtigkeit gelten. Vielmehr umschließt das Ideal der Gerechtigkeit
auch den Anspruch auf Menschenwürde. Beide Ansprüche haben aber
kein identisches Profil, sie unterscheiden sich im Ansatzpunkt und in
der Schlussfolgerung. Während die Forderung nach Gleichheit die Relationen
zwischen Menschen ins Licht rückt und auf einen Ausgleich von Ungleichheit
drängt, geht die Forderung nach Menschenwürde von einem für
Menschen absolut notwendigen Standard an Lebensbedingungen aus und verlangt
die Erfüllung dieses Standards für alle. Denn Elend und Unterdrückung
als solche sind für jeden Menschen schreckliche Zustände, und
nicht etwa deswegen, weil es anderen besser geht. Mit anderen Worten,
die Verteilungs-Konzeption der Gerechtigkeit fußt auf einem komparativen
Denkansatz, der darauf sieht, nach welchen Proportionen Güter/Rechte
verteilt sind, die Würde-Konzeption der Gerechtigkeit dagegen fußt
auf einem nichtkomparativen Denkansatz, der darauf sieht, dass ein Sockel
an Gütern/Rechten gewährleistet ist. Um die bei Gerechtigkeitstheoretikern
beliebte kuchenverteilende Mutter zu bemühen: sie handelt im Sinne
der Verteilungs-Gerechtigkeit, wenn sie jedem Gast beim Geburtstagsfest
ein gleichgroßes oder ein Kuchenstück nach Massgabe von Alter
oder Leistung gibt, aber sie handelt im Sinne der Würde-Gerechtigkeit,
wenn sie zuallererst darauf sieht, dass jeder Anwesende ein sättigendes
Stück Kuchen bekommt. Gewiss, auch im letzteren Fall wird Gleichheit
hergestellt, und zwar auf dem Niveau des sättigenden Anteils, aber
Gleichheit ist dabei nicht Ziel, sondern Nebenprodukt der Würde-Gerechtigkeit.
Umgekehrt wäre die Gleichheit der Kuchenstücke wenig wert, wenn
sie nicht eine Mindestgröße hätten; Würde ist, jenseits
einer bestimmten Kuchengröße, ein Nebenprodukt von Verteilungsgerechtigkeit.
So lässt sich festhalten: Gleichheit wie auch Würde machen das
Ideal der Gerechtigkeit aus, eine Politik der Gerechtigkeit wird Menschenrechtsfragen
ebenso wie Verteilungsfragen im Sinne haben.
Es besteht jedoch keine Frage, dass der Sicherung der Menschenrechte eine
größere Dring-lichkeit zukommt als einer gerechteren Verteilung,
insbesondere im Weltmaßstab. Überleben geht vor besser leben.
Aufgrund des Unbedingtheitscharakters von Menschenrechten lässt sich
deshalb ein Prioritätsprinzip formulieren: die Erfüllung grundlegender
Rechte muss Prio-rität vor allen anderen Aktivitäten haben,
gerade auch vor der Erfüllung eigener, nicht-grundlegender Rechte.
Auf ökologische Subsistenzrechte angewandt heisst dies, dass die
Er-füllung von Rechten auf Lebensunterhalt Priorität haben muss
vor der Erfüllung nicht-grundlegender Ressourcenbedürfnisse
anderer Akteure. Subsistenzbedürfnisse rangieren vor Luxusbedürfnissen.
Diese Formel bezeichnet jene Grundpflicht, die sich für die Institutionen,
national wie international, aus der Anerkennung von Subsistenzrechten
ergeben. Hält man sich vor Augen, dass Rechtlosigkeit das Resultat
eines fortdauernd wirksamen Machtgefälles darstellt, dann wird klar,
dass mehr Rechte nur über Verschiebungen im Machtgefüge, vorsichtige
oder weitreichende, zu haben sind. Weil es darauf ankommt, die Schere
der Machtbeziehungen ein Stück weit zu schließen, lässt
sich von einer dualen Strategie sprechen: es geht einerseits darum, den
Spielraum der Machtlosen zu erweitern und andererseits die Macht der Wohlhabenden
einzuschränken.
Den Spielraum der Machtlosen zu erweitern, verlangt, in den Ressourcenkonflikten
die Rechte der lokalen Gemeinschaften auf ihre Ressourcen anzuerkennen
und zu stärken. Schließlich sind Weiden und Wälder, Felder
und Saatgut, Frischwasser und saubere Luft wertvolle Quel-len für
Nahrung, Gesundheit, Materialien und Medizin. Dies ist der Grund, warum
eine Poli-tik der Lebensunterhaltsrechte sich mit dem Interesse an Umweltschutz
deckt. Weil intakte Ökosysteme die Verwundbarkeit der Armen mindern,
sind Natur- und Umweltschutz Kernstück einer Politik, die Armutsüberwindung
ernst nimmt. Und weil umgekehrt wirksame Rechte der Bewohner die beste
Gewähr dafür geben, dass die Ressourcen der Armen nicht mehr
so leicht zu den Reichen umgelenkt werden, ist eine Politik der Lebensunterhaltsrechte
ein Kernstück des Natur- und Artenschutzes. Ökologie und Subsistenzrechte
sind so aufs Engste verschränkt. Keine Frage, diese Erfahrung hat
zahllose Umweltkonflikte gerade im Süden der Welt befeuert, aber
auch zu institutionellen und legislativen Massnahmen geführt. So
haben gerade die indigenen Völker - übrigens etwa 220 Millionen
Personen auf der Welt - in letzter Zeit ein Mehr an rechtlicher Anerkennung
erkämpft; ihr Anspruch auf das eigene Territorium mitsamt seiner
Ressourcen wurde mehrfach in internationalen Rechtswerken be-stätigt.
Man könnte auch an die Stärkung der Panchayats denken, Formen
der Dorfdemokratie in Indien, die auch mit Blick auf die Erhaltung der
Ressourcen durchgeführt wurden. Oder an Artikel 8(j) der Konvention
zur biologischen Vielfalt, der die besondere Rolle einheimischer Gemeinschaften
beim Schutz der Biodiversität unterstreicht und einen gerechten Vorteilsausgleich
bei der Nutzung lokaler Ressourcen durch Aussenstehende verlangt. Am überzeugendsten
hat bislang vielleicht die World Commission on Dams einen auf Achtung
der Menschenrechte gegründeten Ordnungsrahmen für Entscheidungen
über grosse Infrastrukturprojekte vorgeschlagen; sie verabschiedet
sich von aggregierten Kosten/Nutzen-Analysen und fordert Abwägungen,
welche die Rechte und Risiken gerade der Machtloseren berücksichtigen.
Die Macht der Wohlhabenden einzuschränken, diese Perspektive kann
sich auf Grundprinzi-pien der Fairness berufen. Dabei muss man nicht an
eine Umverteilung zwischen Armen und Reichen denken, sondern daran, was
man als die Minimalregel der Gerechtigkeit begreifen kann: Alle Regelungen,
national wie international, sind so zu treffen, dass sie nicht die Lage
der am wenigsten Begünstigten verschlechtern. Anscheinend eine bescheidene
Regel, die es aber dennoch in sich hat. Denn gerade die grenzüberschreitenden,
wirtschaftlichen und ökolo-gischen Folgen von Produktionsprozessen,
Auslandsinvestitionen, Protektionsmassnahmen oder finanziellen Transaktionen
sind so gewaltig, dass ein solches Prinzip eine erhebliche Prioritätenveränderung
in Wirtschaft und Politik auslösen würde. Denn sowohl Investitionsentscheidungen
wie multilaterale Politikverhandlungen sind davon geprägt, in der
Auseinandersetzung mit Konkurrenten den eigenen Vorteil zu maximieren
- ohne großartige Rücksichten auf die Kosten für die am
wenigsten Begünstigten, die gewöhnlich auch gar nicht am Tisch
der Entscheidungen sitzen. Beispiele sind nicht schwer zu finden. Bei
multilateralen Agrarverhandlungen wird um Konkurrenzvorteile zwischen
Agrarexportländern gerungen, doch die Lage von Kleinbauern wird ignoriert.
Bei Klimaverhandlungen werden Emissionsgrenzen ins Auge gefasst, welche
die Wohlfahrtsverluste für Industrieländer minimieren, aber
den Verlust von Subsistenzrechten bei Fischern, Bauern und Deltabewohnern
in der südlichen Hemisphäre dabei in Kauf nehmen. Völkerrechtlich
aber ist es keine Frage, dass die Menschenrechte dem Handels- oder Umweltrecht
übergeordnet sind; ihre Beachtung verlangt, die eigenen Vorteile
zurückzustellen, sobald durch deren Wahrnehmung die bereits Schwachen
noch mehr deklassiert würden.
Und schließlich ist ein Übergang zur Nachhaltigkeit in den
wohlhabenden Ökonomien, in den Nordländern wie auch innerhalb
der Südländer, auch eine unverzichtbare Voraussetzung, um die
Subsistenzrechte gerade jener Menschen zu wahren, deren Lebensunterhalt
vom direkten Zugang zur Natur abhängt. Gewiss, auf kürzere Sicht
kann der Druck auf lebensdienliche Ökosysteme und lokale Gemeinschaften
durch effizientere Rohstoff- und Agrarerzeugung gemildert werden. Auch
können lokale Gemeinschaften bei stärkerer Verhandlungsmacht
mehr Entschädigung und Gewinnanteile herausschlagen. Doch auf längere
Sicht werden sich die Konflikte um Umwelt-Menschenrechte nur entschärfen
lassen, wenn die globale Klasse der Hochverbraucher in der Lage ist, ihre
Nachfrage nach Naturressourcen zurückzubauen. Erst dann, wenn die
Nachfrage nach Öl sinkt, lohnt es nicht mehr, Förderzonen im
Urwald zu erschließen, erst wenn der Wasserdurst von Landwirtschaft
und Industrie abklingt, bleibt genügend Grundwasser für Trinkwasserbrunnen
in den Dörfern, erst wenn die exzessive Verbrennung fossiler Stoffe
eingedämmt ist, sind die Existenzrechte der Armen nicht mehr von
der Heimtücke des Klimawandels bedroht. Daraus folgt nichts weniger,
als dass ressourcen-leichte Produktions- und Konsummuster in den wohlhabenden
Ökonomien die Basis abgeben für eine menschenrechtsfähige
Welt-Ressourcenwirtschaft. Denn der statistische Sachverhalt, dass die
Minderheit der wohlhabenden Länder den globalen Umweltraum überbean-sprucht,
wird zur handgreiflichen Wirklichkeit in der sozialen Deklassierung. Weit
davon entfernt, nur dem Schutze von Wasserrosen und Walen zu dienen, ist
Ökologie die einzige Option, um in einer begrenzten Welt einer wachsenden
Anzahl von Menschen Gastfreundschaft anzubieten.
Auszug aus Wolfgang Sachs, Ökologie und Menschenrechte, Wuppertal
Paper 131, Wuppertal: Wuppertal Institut, Juni 2003. Herunterladbar bei:
http://www.wupperinst.org/globalisierung
Buch: Wolfgang
Sachs; Nach uns die Zukunft. Der globale Konflikt um Gerechtigkeit und
Ökologie, 2003
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