Zettelkasten
Aus: Die Grünen. Verstaatlichung einer Partei


PAUL TIEFENBACH


„Der Wahlerfolg, nicht die Durchsetzung politischer Ziele, wird zum Erfolgkriterium. Wahlerfolge und politische Zielsetzungen werden in eins gesetzt. Das zwischen beiden ein Zusammenhang besteht, ist sicherlich zutreffend. Das dieser Zusammenhang aber wesentlich komplexer ist als die einfache Gleichsetzung, und daß mitunter Wahlerfolge gerade die Aufgabe politischer Ziele erfordern, wird verdrängt.“

„Der alleinige Blick auf die programmatische Kontinuität täuscht. In keiner Partei, auch nicht bei den Grünen, spielt das Parteiprogramm eine nennenswerte Rolle.“

„Parteien sind nicht egalitäre Vereinigungen Gleichgesinnter, was die Grünen anfangs werden wollten. Sie sind aber auch nicht mehr durch die Dichotomie von Elite und Basis geprägt. In der Tendenz sind sie nur noch Elite. Die Mitglieder werden kaum mehr gebraucht.“

„Es gibt zahlreiche Angestellte, Michels spricht von Parteibeamten, die von der Partei leben. Nach einiger Zeit tritt für sie der Erhalt ihrer Lebensgrundlage in den Vordergrund – die politischen Ziele dienen lediglich noch als Mittel, den Erhalt der Organisation zu sichern, was zum neuen zentralen Ziel wird. ‚So wird die Organisation aus einem Mittel zum Zweck zu einem Selbstzweck.’“

„Das Führertum verfestigt sich, es entsteht eine relativ stabile Führungsgruppe in der Partei, die sich durch Kooption erneuert. Damit ist gemeint, das die Führung versucht, das Eindringen ihrer Meinung nach ungeeigneter Personen in die Führungsgruppe zu verhindern. Sie wählt selbst aus, wer zur Führungsgruppe gehören soll. Diese Führungsschicht, die Parteielite, wird nach und nach in die politische Klasse ihres Landes aufgenommen. Die ihr angehörigen nehmen als Abgeordnete oder gar Minister an allen Privilegien teil, die die politische Klasse genießt. Dies macht sie versöhnlich, sie entwickeln Verständnis für die Probleme und Nöte der politischen Klasse. Die Probleme der sozialen Schicht, der sie entstammen, geraten mehr und mehr in Vergessenheit.“

„Die Berufspolitiker sind überlegen. Und sie sehen gar nicht ein, warum sie diese Überlegenheit nicht auch ausnutzen sollten. Freilich verfügten die Grünen in ihrer Frühphase flächendeckend über Organe, die geeignet waren, diese Probleme spürbar zu verringern: die Landes- und Bundesarbeitsgemeinschaften. ... Grüne Funktionäre, einfache Mitglieder und Nichtparteimitglieder kooperierten hier. Dies änderte sich mit dem Entstehen der Fraktionen und des Berufspolitikertums. Die Abgeordneten agierten zunehmend als‚ politische Unternehmer’. Sie hatten die Stärkung ihrer eigenen Dominanz auf dem Markt des politischen Handelns im Sinn, nicht aber, sich politische Konkurrenten selbst heranzuzüchten. Sie betrauten mit Aufgaben lieber ihre weisungsgebundenen Mitarbeiter, als eine Basisgruppe zu beteiligen, die die basis-demokratischen Regelungen oft so auslegte, daß sie gegenüber den Hauptamtlichen weisungsbefugt war. Dies Problem stellte sich um so mehr, wenn die Facharbeitsgruppe – was oft der Fall war – zum fundamentalistischen Flügel neigte, die Hauptamtlichen dagegen zum realpolitischen. Abgeordnete und ihre Facharbeitsgruppen trafen dann in innerparteilichen Auseinandersetzungen als politische Gegner aufeinander. ... Da, wo Abgeordnete in den Arbeitsgruppen mitarbeiteten, spielten sie nach kurzer Zeit eine dominierende Rolle. Das lag meist weniger an ihrer fachlichen Überlegenheit.“

„In besonders hohem Maße sind die Abgeordneten Lob und Tadel des Gegners in den parlamentarischen Ausschüssen ausgesetzt. Kleinere Fraktionen dürfen oft nur einen Abgeordneten in den Ausschuß schicken, der dort völlig auf sich allein gestellt ist. Er kann sich auch nicht darauf beschränken, so wie im Plenarsaal eine vorbereitete Rede abzulesen, sondern muß, wenn er eine abweichende Meinung äußert, mit einer Art Kreuzverhör rechnen. Seine Gegner sind dabei Abgeordnete, die dem Ausschuß oft schon Jahrzehnte angehören und zudem noch durch Beamte, die beruflich nichts anderes machen, unterstützt werden. Es gehört viel Vorbereitung und viel Mut dazu, sich hier überhaupt auf eine kontroverse Debatte einzulassen.“

[Der Abgeordnete] „weiß nach einigen Jahren Parlamentstätigkeit genau: wenn er dieses oder jenes sagt, geht ein Raunen durch den Saal. Zwischenrufe wie ‚Das gibt’s doch wohl nicht’ oder ‚Wo leben sie eigentlich?’ bringen ihn womöglich aus dem Konzept. Formuliert er die Dinge dagegen etwas milder, verzichtet auf die ein oder andere Spitze und baut stattdessen einige scheinbar bedeutungsschwere Phrasen ein, kann er mit Szenenapplaus und freundlichem Kopfnicken rechnen. Lob und Anerkennung des Gegners führen auf diese Art zu einem Abschleifen der Kritik und zur Anpassung der Meinungen im Parlament.“

„Das Hinzutreten der Verwaltungsperspektive ist zunächst eine Erweiterung des Horizonts, eine wichtige zusätzliche Qualifikation. Das Problem besteht darin, daß dieser Zustand, beide Welten zu kennen, mit der Dauer der Parlamentszugehörigkeit in der Regel abnimmt und die Verwaltungsperspektive die dominierende oder sogar die einzige Sichtweise wird. Sie erscheint nämlich dem neuen Abgeordneten als die konkretere und daher höherwertige.“

„Aber gerade der offensichtliche Drang nach Regierungsbeteiligung schwächt die Verhandlungsposition in Koalitionsgesprächen. Die anderen Parteien spüren, daß die Grünen [PDS] zu jedem Kompromiß bereit sind, um in die Regierung zu kommen - und nutzen dies weidlich aus.“

„Hofften in früheren Jahren die Jusos, die SPD von innen heraus zu verändern, so hoffen jetzt viele enttäuschte Sozialdemokraten auf die Grünen als radikal verändernde Kraft. Andere wiederum sehen in der PDS eine neue Chance für die Linke. Auch der Drang, ganz neue Parteien oder Wählerlisten zu gründen, ist ungebrochen. All diese Versuche sind sinnlos, soweit sie sich auf eine qualitative, grundlegende Veränderung der Politik richten. Die Grünen werden, abgesehen von zeitweiligen taktisch motivierten Varianten, ihre Integration in die politi-sche Klasse konsolidieren. Hatten die Grünen diese Integration schon schneller bewältigt als die SPD, so deutet alles darauf hin, daß die PDS diesen Weg in noch kürzerer Zeit zurücklegen wird, sofern ihr der Wähler eine Chance dazu läßt.“

(1998)

 

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