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Das Rad der
Geschichte ist uns entglitten
Leben und Werk eines Dissidenten - Biographie über Rudolf Bahro
erschienen
Marko Ferst
Mit Rudolf Bahro hatte man es mit einem Universalgelehrten, mit einem
Exoten, mit einem Seher zu tun. Gewiß, auch bei ihm gab es Zerrlinsen.
Er ist in Gebiete hineingegangen, von denen viele noch nichts wissen wollen,
wo die zentralen Existenzfragen dieser Menschheit in Zukunft entschieden
werden. Manche seiner Ideen und Analysen sind für den mit seinem
Wissenshorizont nicht Vertrauten, halsbrecherisch verknüpfte Steigpfade.
Bahro ist nicht einfach gestrickt, man muß sich in seinen vielschichtigen
Erkenntniskosmos einarbeiten, und mancher Zusammenhang wird wohl für
immer im Dunklen bleiben. Oft können Elemente seiner Erfahrungs-
und Wissenswelt mit Hilfe von Sekundärliteratur freigelegt oder doch
zumindest transparenter gemacht werden. Den zentralen Grundstock erhält
man durch die Lektüre seiner Werke zweifelsohne, aber man sollte
nicht meinen, sich dadurch den ganzen Bahro erschlossen zu haben, selbst
wenn seine Vorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin eines
Tages soweit möglich publiziert sein sollten. Es gibt da dennoch
einen breiten Gürtel, der nur schwer zu erschließen ist, auch
je abhängig von den Vorkenntnissen desjenigen, der sich damit auseinandersetzt.
Vor solchem Hintergrund kann eine Biographie viele Details der Lebensgeschichte
berichten. Das Wissensnetzwerk, die Motivationen und die Verknüpfungen
in den Lebenslauf hinein sind dagegen viel schwieriger zu rekonstruieren,
insbesondere beim späten Bahro. Da sind Fehlwahrnehmungen schnell
eingebaut. Das liegt in der Natur des Stoffs. Sympathisch, daß die
Biographen einräumen, Bahro ist ein zu umfassender Denker, als daß
wir seine geistigen Fragestellungen und Perspektiven mit unserem Band
ausloten könnten.
Wie schön sich jedoch naive Vorurteile über Bahro stricken lassen,
kann man an etlichen Re-zensionen ablesen, die zum Erscheinen der Biographie
"Rudolf Bahro - Glaube an das Verän-derbare" von Guntolf
Herzberg und Kurt Seifert in den verschiedenen Tageszeitungen etc. nachzulesen
waren. Rezensionen, wie die von Manfred Kriener in der "tageszeitung"
oder jene von Michael Jäger im "Freitag", die den wirklichen
Bahro andeuten, sind eher in der Minderheit. Besonders obskur kommt eine
Rezension in der "Züricher Zeitung" von Stefan Dornuf daher.
Zunächst erscheint dem Rezensenten das Schreiben der Biographie selbst
als eine dubiose Auszeichnung für Bahro. Aus seiner Sicht ist jede
Befassung mit Bahro seit seinem Besuch bei Baghwan nicht mehr zu rechtfertigen.
Er sei nicht mehr ernst zu nehmen gewesen. Ich hatte Gelegenheit zu hören,
Bahro konnte sehr gut erklären, was er dort wollte. Die Unkenntnis
des Journalisten nach der Beschaffenheit der Suchwege Bahros mündet
flugs in den Vorwurf, er würde nur gedankliche Anregungen anderer
in unschöpferischer Weise zusammenfügen. Das läßt
darauf schließen, der Rezensent hat von Bahro im Original nie ein
Buch gelesen. Aber im Fall Bahro ist es fast Normalität, daß
ein erheblicher Teil der Journalisten an der wirklichen Person vorbeischreibt.
Man kann dies an unzähligen Artikeln belegen. Mit Bahro ist man einfach
überfordert. Die schönen vorgefertigten Denkschubladen passen
bei ihm einfach nicht.
Rudolf Bahro meinte einmal mündlich, er sei kein Dissident, nicht
er sei es, der abwiche von der Gesellschaft. Mit der Kritik an den versteinerten
politischen Verhältnissen in der DDR, an der Diktatur des Politbüros
als verhängnisvoll übersteigertem bürokratischen Prinzip,
konnte er eine Mehrheit der DDR-Bürger hinter sich wissen. Da war
er kein Abweichler, kein Andersdenkender. Sicher, vom eigenen Land aus
fulminant gezielten Widerspruch zu stiften, wagte niemand außer
ihm und Robert Havemann, dem anderen wichtigen Kritiker der DDR-Verhältnisse.
Wer formulierte sonst alternative Gesellschaftsmodelle gegen das Weiter-so
der regierungsamtlichen Orthodoxie? Wer reizte die DDR-Obrigkeit damit,
es würde in der DDR denken und dies ganz anders, als es die offizielle
Propaganda weismachen wollte? Auch wenn er von der Diskrepanz zwischen
Aufwand und Ergebnis in der Produktion sprach, von geringerer Arbeitsintensität
gegenüber dem Westen und größerer Trägheit und Nachlässigkeit
im Arbeitsprozeß, von mangelnder Arbeitsdisziplin in der DDR, dürfte
er damit noch in der "Mitte" der Gesellschaft gestanden haben.
Doch die Dissidenz beginnt dort, schon in der "Alternative",
wo es darum geht, ob unser ge-sellschaftlicher Stoffwechsel verträglich
ist für den Erhalt der Natur, ob der Industrialismus nicht bereits
in vielen Ländern das zuträgliche Maß überschritten
hat. Mit etlichen Vorschlägen seiner kommunistischen Umkehr dürfte
er bereits auf einem dissidenten Pfad gelegen haben, gegenüber der
DDR-Gesellschaft. Nehmen wir beispielsweise seinen Vorschlag einer alternativen
Arbeitsteilung in der Gesellschaft, daß der Ingenieur nicht nur
Ingenieur und der Arbeiter nicht nur Arbeiter ist, also auch der Chef
mal die Karre schieben sollte und der Arbeiter in die Planung real einbezogen
wird. In vollem Umfange wird er Dissident erst mit seinem zweiten Hauptwerk
"Logik der Rettung". Dort steht er außerhalb der deutsch-deutschen
Gesellschaft, nicht in jedem Punkt, aber im zentralen Wesen seiner politisch-spirituellen
Botschaft.
Im niederschlesischen Flinsberg geboren, verlor Bahro als Flüchtlingskind
die Mutter und zwei Geschwister. Mit 18 trat er der SED bei und studierte
von 1954 bis 1959 Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.
Danach wird er für zwei Jahre Dorfzeitungsredakteur im Oderbruch
und heiratet. Bis 1962 arbeitet er als Parteizeitungsredakteur in Greifswald
und hat in dieser Zeit noch viel Zustimmung zu den Verhältnissen
in der DDR. Unter dem Titel "In dieser Richtung" veröffentlicht
er 1960 eine Broschüre mit Gedichten. Man will ihn als informellen
Mitarbeiter der Staatsicherheit werben, doch es stellt sich heraus, wie
Bahro selbst sagt, er war dazu nicht fähig, für diese Aufgabe
nicht geeignet.
Bis 1965 ist er dann im Zentralvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft
tätig in Berlin und wechselt dann auf den ersten interessanten Posten,
den des stellvertretenden Chefredakteurs der Wochenzeitschrift "Forum".
Sie war eine der lebendigsten Zeitschriften der DDR zu dieser Zeit und
wandte sich an junge Intellektuelle und Studenten. Als zweiter Chef bei
der Zeitschrift nutzte er den Urlaub seines Chefs, um von Volker Braun
das Stück "Kipper Paul Bauch" abzudrucken. Das Stück
sollte nicht diskutiert werden. Er selbst wurde nach diesem Verhalten
von den Parteioberen abgesetzt und in die Produktion geschickt.
Als die sowjetische Führung den Prager Frühling in der Tschechoslowakei
1968 mit Panzern erstickte, entschuldigte sich Rudolf Bahro bei der Prager
Botschaft für das Verhalten auch der eigenen Genossen. In Folge arbeitete
er an dem Buch "Die Alternative. Zur Kritik am real existierenden
Sozialismus". Jahrelang führte er ein Doppelleben: Tagsüber
werkte er im Kombinat, nach Dienstschluß tippte er sein Manuskript
auf der Schreibmaschine. In dieser Zeit entstand auch ein Essay über
Beethoven, der neben Friedrich Hölderlin ein "Leitstern"
seiner Jugend war. Außerdem schrieb Rudolf Bahro eine Dissertation
über die Entfaltungsbedingungen von Hoch- und Fachschulkadern in
der DDR. Sie wurde abgelehnt.
Sehr frühzeitig hatte die Staatssicherheit Kenntnis von seinem Vorhaben.
Das erste Manuskript bekam die Stasi direkt von Bahros Frau, die die
übrige Familie vor Repressalien schützen wollte. Weitere Fassungen
liefern unter anderem informelle Mitarbeiter der Stasi. Bahro selbst sagt
später, daß es ihn gewundert hätte, warum ihm nicht vorher
das Handwerk gelegt wurde. Im Grunde war den Organen alles bekannt. Sie
hatten alle Mittel, um zugreifen zu können, doch bis zur Veröffentlichung
des Buches geschah nichts dergleichen. Vermutlich schützte ihn unter
anderem der Umstand, daß mehrere bekannte DDR-Schriftsteller das
Manuskript der "Alternative" besaßen, was neuen Ärger
mit den Schriftstellern entzündet haben würde. Einige hatten
gerade erst gegen die Biermannausbürgerung protestiert. Der Parteiobrigkeit
bereitete der Fall Havemann und die Biermannausbürgerung bereits
genug Ärger, und man wollte keinen neuen Fall. Dennoch stellt sich
die Frage, warum die Sicherheitsorgane seelenruhig zusahen, wie westliche
Fernsehteams Interviews mit Bahro in seiner Wohnung machen konnten.
Am 22. August kam dann sein großer Auftritt: Der Spiegel kündigte
sein Buch "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus"
an. Einen Tag später wurde er verhaftet, die Wohnungstür versiegelt.
Längst lagen Bahros Thesen aber in Buchform als "Sprengsatz"
bei einem Kölner Verlag, alle Gegenmaßnahmen der DDR-Obrigkeit
waren jetzt zu spät. Sein Fall war in allen bundesdeutschen Zeitungen
in hervorgehobener Position präsent, seine Selbstinterviews wurden
gesendet, die Fernsehberichte auch in vielen Haushalten der DDR empfangen.
Er warf der Partei Verrat am Sozialismus vor, machte kenntlich, wie die
Idee ausgehöhlt worden war und schlug eine weitgehende Reform der
Apparate-Herrschaft vor, eine grundsätzliche Korrektur der Gesamtpolitik.
All dies entwickelte er aus dem Grundstock marxistischer Optionen, aber
auch aus Kategorien, die er selbst entwickelt hatte. In diesem Zusammenhang
ist es ganz lohnend, die Dokumentation "Ich werde meinen Weg fortsetzen"
zu lesen, in der die Thesen des Buches in sechs Aufsätzen konzentriert
zusammengefaßt sind.
10 Jahre lang wendete Bahro den größten Teil seiner Freizeit
dafür auf, den real existierenden Sozialismus als eigene Formation
zu analysieren. Es könne nicht angehen, daß die etablierte
Apparateherrschaft die sozialistischen Hoffnungen zum Gespött der
Massen macht. Er charakterisierte die östlichen Staaten als Systeme
mit organisierter Verantwortungslosigkeit, in denen die Subalternität
der Menschen geradezu herangezüchtet wird. Jede Herrschaftsgesellschaft
produziert diese Art von menschlicher Unfreiheit, aber nirgendwo nahm
sie die Ausmaße an, wie im Ostblock, so Bahro.
Der sowjetischen Führung wirft er vor, durch ihren Einmarsch in die
Tschechoslowakei sich selbst und die osteuropäischen Völker
um die Erfahrung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz gebracht zu
haben. Er charakterisiert diese Konterrevolution der Politbürokratie
1977 als größtes Verbrechen nach dem II. Weltkrieg, das dem
sowjetischen Block anzulasten ist. Nicht mehr akzeptabel sei ein Herangehen,
das in den östlichen Staaten nur einen deformierten Sozialismus
zu sehen glaubt. Vielmehr haben diese Gesellschaften ganz andere Fundamente
als die ursprünglich angenommenen. Das muß wahrhaftig analysiert
und beschrieben werden.
Ob die Erklärungsversuche mit Hilfe der asiatischen Produktionsweise
umfassend genug sind, läßt sich jedoch durchaus hinterfragen.
Dem politökonomischen Charakter des Pseudosozialismus gingen möglicherweise
Rudolf Bahro als auch Robert Havemann nicht gründlich genug auf
den Boden. Das zeigt sich dann auch an fehlenden Ideen, um zu einer anderen
ökonomischen Produktionsweise zu kommen mit intelligenteren Motivationsstrukturen
in der Arbeitssphäre. Diese dürften jedoch nicht zugleich eine
gerechte Verteilung des Sozialprodukts und ökologische Begrenzung
unterminieren. Da gibt es eine offene Flanke, die modifiziert auch für
eine zukunftsfähige Kultur im 21. Jahrhundert höchste strategische
Bedeutung haben dürfte.
Bahros Perspektive war es in der "Alternative" nicht, eine Parteienherrschaft
nach westlicher Spielart zu etablieren. Reale Demokratisierung erschien
ihm als Voraussetzung der ökonomischen Emanzipation der Massen.
Die Wahrung der Menschenrechte und die Einführung politischer Demokratie
sind wichtig, doch zentraler ist für ihn, daß man eine Aufklärungsbewegung
zustandebringt, die den langfristigen Kampf um eine neue Gesamtpolitik
führt. Dafür steht in der "Alternative" der Bund der
Kommunisten. Ob jedoch eine Machtverschiebung innerhalb der Partei möglich
sei oder neben der alten Partei eine neue entstehen müsse, könne
der Geschichte nicht vorgeschrieben werden, meint er weiter. In späteren
Texten zum DDR-Widerstand in der Kirche zeigt er sich diesem Weg übrigens
auch sehr aufgeschlossen. Er selbst sagt, es könne nicht um eine
Sekte von Kryptokommunisten gehen.
Ansprechen möchte er alle, die sich von der versteinerten Parteibürokratie
und den Sachzwängen in den pseudosozialistischen Ländern befreien
wollen. Dies ohne Rücksicht darauf, welch offizielles Gesicht man
bisher gezeigt hat. Er sieht die Möglichkeit, daß ein Bündnis
aller Kräfte und Strömungen zustandekommt, die sich aus der
Gefangenschaft der selbstgeschaffenen Zwänge herausführen.
Was er ablehnt, ist ein Parteimonopol oder ein Monopol einer bestimmten
weltanschaulichen Richtung. Von unten sollte die Selbstverwaltung in die
Institutionen hineinwachsen. Sein Anliegen war nicht, einen kolonialen
Prozeß hervorzurufen, bei dem das westliche System das östliche
Deutschland wieder heimholt. Klar positioniert war auch, die dortige Plutokratie
kann kein Vorbild sein für die Emanzipationsbewegung des eigenen
Landes. Um das Bild noch ein wenig abzurunden, sei hier die Linie bis
in sein Werk "Logik der Rettung" fortgeführt. Die sogenannte
"freiheitliche Demokratie" würde es verdammt nötig
haben, so schreibt er, in der gegebenen beschränkten, korrumpierten
und durch Ausbeutung rund um den Erdball diskreditierten Form abzusterben.
Es ginge darum, daß die in ihr richtig gefaßten Prinzipien
wiedergeboren werden können, jenseits des kapitalistischen Expansionismus.
Die Demokratie sei mindestens so verlarvt auf die Welt gekommen, wie mit
der russischen Revolution der Kommunismus.
Notwendig ist aus seiner Sicht eine grundsätzliche Umwälzung
der ganzen subjektiven Lebensform der Bevölkerung. Er sieht darin
eine Kulturrevolution, die von der geschichtlichen Einschnittiefe nur
vergleichbar ist mit dem Einstieg in die Klassengesellschaft durch die
patriarchale Sozialstruktur, die vertikale Arbeitsteilung und dem Aufkommen
des Staats. Bahro wollte eine gesellschaftliche Ordnung, die auf emanzipatorische
Interessen, auf inneres Wachstum, auf Selbstverwirklichung und Differenzierung
der Persönlichkeit baut, befördert wissen. Eine Gesellschaft,
in der, so wie auch heute in der globalisierten westlichen Unvernunft,
die Selbstentfaltung zahlloser Menschen frühzeitig blockiert und
beschränkt wird, lehnte er ab.
Die Freiheit der Selbstbildung schien ihm hervorhebenswert, und er kritisierte
in diesem Zu-sammenhang die Enge des DDR-Bildungssystems. Erziehungspraktiken,
die im Kind nur Angst erzeugen und das Vertrauen in sein soziales Umfeld
unterminieren, wollte er abgeschafft wissen. Wo die Initiative der Kinder
mit Schuldgefühlen vergiftet wird, seine Leistungen abgewertet und
der eigene Wille gebrochen werden, kann keine freie Persönlichkeit
entstehen. Jedem sollte Universitätsbildung möglich sein. Später
wird er jedoch kenntlich machen, daß man dabei nicht zum Funktionär
der Megamaschine werden dürfe.
Auch wenn das gesellschaftliche System, das in der "Alternative"
zur grundsätzlichen Reform anstand, inzwischen das Zeitliche gesegnet
hat, die Lektüre kann trotzdem interessant sein. Hat sich heutzutage
die allgemeine Emanzipation erledigt? Sollten wir uns dem blinden Spiel
der kleingläubigen Egoismen preisgeben? Ist es nicht nach wie vor
eine geschichtliche Aufgabe, die Subalternität, als Daseinsweise
"kleiner Leute", zu überwinden und insbesondere die damit
verbundenen Bedürfnisstrukturen? Darf man über die Aufhebung
der alten, vertikalen Arbeitsteilung nicht ganz neu nachdenken? Oder
ganz aktuell: Er meinte beispielsweise, Gehälter, die die obere Grenze
des normalen Gehaltskatalogs übersteigen, müssen reduziert werden.
Diese Aussage ist natürlich reines Gift für eine Gesellschaft,
in der sich diverse Manager etc. die Taschen auf Kosten der Normalbevölkerung
immer reichlicher füllen, und das, ideologisch verbrämt, inzwischen
alle richtig finden sollen. Diese Perversion gehört erneut an den
Pranger gestellt. Haben globalisierte Weltstrukturen, die auf sozialer
und ökologischer Degradation beruhen, mehr Zukunftschancen? Schon
in der "Alternative" macht Bahro darauf aufmerksam, der innere
Wandel des Menschengeschlechts ist ein zentraler Zugang, um der grenzenlosen
Expansion der materiellen Bedürfnisse Einhalt zu gebieten.
In der Biographie wird kritisiert, daß Bahro in der "Alternative"
die Hungeropfer der Kollek-tivierung in Rußland, diejenigen Millionen,
die in der Knochenmühle des GULAG umgekommen sind, mit geschichtlichen
Notwendigkeiten im Grunde genommen rechtfertigt. Da ist Einspruch einzulegen
gegenüber den Biographen. Bahros Äußerungen sind gewiß
nicht unproblematisch, zumal wenn zutrifft, er hatte Solschenizyns Ivan
Denissowitsch bereits wahrgenommen. Freilich läßt sich dies
aus heutiger Position leicht sagen. In der Bundesrepublik angekommen,
beginnt Bahro sofort seine Position zu hinterfragen. Noch immer stellt
er fest, es gab keine Alternative für die russische Revolution als
den der nachholenden Industrialisierung und damit den Weg in den Despotismus.
Doch immerhin existierte etwa durch Literaten wie Lew Tolstoi eine offen
markierte Alternativposition. Sicher, als Agrarland hätte die Sowjetunion
die äußeren Angriffe nicht abwehren können. Von daher
kann man partiell Rechtfertigung einholen. Bahro jedenfalls räumt
ein, er hätte bei den Verlierern des Kronstädter Aufstandes
eher ein Gegenbild zum sowjetischen Modell finden können für
die "Alternative" als bei den Siegern. Zudem sieht er bessere
Perspektiven bei Bucharin, der den Bauern mehr Spielraum für autonome
Entwicklung lassen wollte. Die historische Tragik wird jedoch bereits
in der "Alternative" markiert, daß der russische Aufbruch
in eine neue Herrschaftsideologie hinein pervertierte, in den Katechismus
einer modernen Staatskirche, deren Folge die Vernichtung der alten bolschewistische
Garde war. Der ungeheure Fortschritt unter Stalin gliche dem von Marx
beschworenen Götzen, der den Nektar nur aus den Schädeln erschlagener
trinken wollte. Mir scheint die Biographie an diesem Punkt teilweise etwas
ungerecht. Sie zieht die Aspekte heraus, die in der Tat diskreditieren,
blendet darüber aber die Vielschichtigkeit der Aussagen Bahros zu
diesem dunklen Kapitel aus. So spricht Bahro davon, hätte ein subjektiv
begabterer Mensch als Stalin die Partei führen können, so wäre
das Äußerste des Terrors vermieden worden, der Cäsarenwahn
nicht zum Zug gekommen. Da existieren also Aussagen, die tendenziell gegensätzlicher
Natur sind. Bahro macht kenntlich, daß das Fraktionsverbot in der
Partei und andere Notmaßnahmen nach der Revolution in eine Sackgasse
führten. Er stellt also nicht nur die Frage, und es ist wirklich
eine Frage, ob der absolut notwendige Parteikonsens für den Aufbau
einer protosozialistischen Industriegesellschaft, einen andern Weg als
den Stalins zugelassen hätte. Und ich lese aus dem Text nicht heraus,
daß Bahro das terroristische Wüten Stalins gegen jegliche Opposition
wirklich billigt, so wie es die Biographie behauptet. Daß man heute
an das Thema GULAG mit einer anderen Optik herangehen muß als Bahro,
sollte allerdings unmißverständlich klar sein. Der ungeheuren
menschlichen Tragik dieses auf Massenvernichtung von Menschen hin entgleisten
Systems wird er nicht gerecht.
Die sorgfältig vorbereitete Ankündigung der "Alternative"
und die erstklassige PR-Arbeit von Bahro und der ihn Unterstützenden
war in der Tat, da ist der Einschätzung der Biographen zuzustimmen,
für DDR-Verhältnisse eine einmalige Spitzenleistung. Knapp acht
Monate nach Erscheinen der "Alternative" waren 80.000 Exemplare
verkauft. Auslandsrechte für die Veröffentlichung gingen bis
dahin nach Amerika, England, Frankreich, Italien, Spanien, Dänemark
und Schweden. Die publizistische Resonanz füllte im Verlag bereits
neun große Leitzordner. Nur geringe Resonanz gab es in der DDR,
jedoch war dies auch nicht anders zu erwarten, angesichts der repressiven
Gesamtstruktur. Zu vermuten bleibt aber, daß es im Laufe der Restzeit
der DDR doch etliche Leute gegeben hat, die sich die Lektüre beschafften.
Sie werden eher still gelesen und gedacht haben - zu still - gewiß.
Die Machthabenden in der DDR erfanden die Lüge vom Spion und verurteilten
Bahro zu acht Jahren Gefängnis. Wahrscheinlich ist es nicht ganz
unmaßgeblich seinem Anwalt Gregor Gysi zu verdanken, daß er
nach gut 2 Jahren zum 30. Jahrestag der DDR amnestiert wurde und in die
Bundesrepublik ausreisen konnte. Ausführlich berichtet die Biographie
über die Verhöre und das Vorgehen, wie Bahro in Bautzen gebrochen
werden sollte. Es gelang nicht. Streckenweise liest sich die Biographie
hier wie ein Krimi. Sie ist in diesem Abschnitt auch sehr lehrreich, weil
man Einblicke bekommt, mit welchen Methoden Prozesse gegen einen exponierten
"Staatsfeind" in der DDR vorbereitet und geführt wurden.
Nach seiner Ankunft im anderen deutschen Staat wendete Bahro sich den
Grünen zu. Carl Amery hatte ihn im Westen, aus der Alternative ließ
sich dies bereits erkennen, als "heimlichen Grünen" angekündigt.
Dort interessierte Bahro das Bündnis von Dutschke bis Gruhl, das
quer zu den bisherigen sozialpolitischen Fronten verlief. Er meinte, die
ökologische Krise könne nur von so einem breiten Bunde her politisch
angegangen werden. Sein Engagement blieb vergeblich. Den Grünen ging
es nur um Ökokosmetik, den modernen Lebensstil stellten sie nicht
in Frage. So schrieb er z.B.: "Obwohl in der Idee bei Ökopax
geblieben," da konnte er von künftigen Kriegseinsätzen
noch nichts wissen, "haben sie vor lauter Reformismus und Machtbeteiligungsdrang
die ursprüngliche Substanz ihres Ansatzes ganz in tagespolitisches
Kleingeld umgewechselt." Eine Resolution zum Tierschutz, die den
Standpunkt des "vernünftigen Experimentators" verteidigte,
war dann nur der letzte Anstoß für den Austritt 1985.
In den ersten Jahren in der Bundesrepublik widmet Bahro auch einen Großteil
seiner Zeit der Friedensbewegung. Er will erreichen, daß die beiden
Militärblöcke anfangen, einseitig abzurüsten, statt neue
Atomraketen aufzustellen. Die Bücher "Wahnsinn mit Methode"
und "Pfeiler am anderen Ufer" dokumentieren eine Vielzahl der
Wortmeldungen Bahros zu diesem Thema. Auch hier kann er sich auf eine
massenhafte Bewegung stützen und ist nicht wirklich Dissident, eher
Vordenker.
Eine Auseinandersetzung mit den westlichen Systemen verfolgte Bahro konzentriert
in seinem zweiten Hauptwerk "Logik der Rettung". Dort zielt
er auf eine grundsätzliche Kritik der patriarchal-kapitalistischen
Zivilisation. Täglich gelangen weltweit Millionen Tonnen Treibhausgase
in die Atmosphäre und schließen die Wärmefalle immer weiter,
ungefähr drei- bis vierhundert Tier- und Pflanzenarten sterben täglich
aus. Die Wüstenregionen nehmen Quadratkilometer um Quadratkilometer
mehr Land in Beschlag. Innerhalb weniger Generationen werden die nicht
erneuerbare Rohstoffe wie z.B. Erdöl aufgebraucht, die in Jahrmillionen
entstanden. Die Bevölkerungszahl auf der Erde verdoppelt sich in
immer kürzeren Abständen, ebenso wie die "Geburtenrate"
von Automobilen. Alle 90 Minuten ist im brasilianischen Regenwald ein
Gebiet von der Größe Kölns abgerodet. Mit 3000 m²
pro Sekunde vernichten wir global den Wald, mit 1000 Tonnen pro Sekunde
erodiert der Boden. Erst aus einer zusammenhängenden Panoramaschau
einer Vielzahl solcher Daten kommt langsam zum Vorschein, was da eigentlich
auf uns zurollt.
Wir sind langfristig dabei, die irdischen Belastungsgrenzen an immer mehr
Stellen zu durchbrechen. Bahro meint, wir müßten die Industriegrundlast
im Schnitt um den Faktor 10 zurückfahren, wenn wir die Absicht haben
sollten, auf der Erde weiter verweilen zu wollen. Die ökologische
Weltkrise stelle unsere gesamte Gesellschaftsverfassung in Frage, bis
in die tiefenpsychologischen Strukturen hinein. Dies verbindet er mit
einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik, spart aber auch Fragen
nach dem darunterliegenden patriarchalen Untergrund und dem europäischen
Entstehungshorizont nicht aus. In dem Machtsyndrom vom patriarchalen Ego
bis hin zu den modernen wissenschaftlich-industriellen Exzessen, darin
daß sich die europäisch männlich disponierte Vernunft
angstvoll abwehrend gegen die Natur, den Körper, die Frau, das Weibliche
gestellt hat, liegt der harte innere Kern der ökologischen Krise.
Er kristallisiert sich um den Trieb zur kompensatorischen Ansammlung
von Insignien, Sachen, Erkenntnissen und Siegen. Der permanente Aktionszwang
unserer Kultur treibt sie ihrem Abgrund entgegen.
Bahro verweist darauf, es reicht nicht aus, die Marxsche Vision der Verwaltung
von Sachen anzustreben, wir brauchen auch eine Emanzipation von der Selbstsucht
und vom Habenmüssen. Ökologische Politik beginne mit dieser
inneren Perspektive. In seinem Aufsatz zum "Homo Integralis"
schrieb er, daß die Harmonie der Geister der Anfang eines neuen
Zeitalters sein wird. So konfliktorientiert wie bisher werden wir nicht
überleben, es käme auf die Zurücknahme der eigenen Aggression
an. Es ginge darum, zu einer "neuen Politeia" zu kommen, die
uns trotz sozialuniverseller Abhängigkeit ein warmes Haus bewahrt.
Wir brauchen um den ganzen Planeten herum inneren und äußeren
Frieden.
Die bürgerliche Persönlichkeit, ihre Intention von Freiheit
und Unabhängigkeit und die damit verbundene Position von größtmöglicher
Unverletzlichkeit, Versorgungssicherheit, Situati-onskontrolle und Bequemlichkeit
als eine egozentrische aktive oder passive Machtposition, auf der sich
Liebe nicht entfalten kann, steht als ein Menschenbild zur Disposition,
über das wir innerlich hinauswachsen müssen. Nur wenn wir die
in den Kämpfen der bürgerlichen Gesellschaft stets auf neue
reproduzierten unfreien Verhaltensmuster verstehen abzubauen, wird auch
eine Gesellschaft und Politik möglich sein, die ökologische
Selbstbegrenzung mit emanzipativer Perspektive verschränken kann.
Wir sollten lernen, so Bahro, aus Urvertrauen statt aus Abwehr zu handeln.
Nur glücklich können wir richtig sein. Es ginge um eine soziale
Praxis, die unsere Liebesfähigkeit viel stärker als heute entwickelt
und ob wir die Befindlichkeit, das Daseinsgefühl, die Atmosphäre
der Kommunikation von uns als Menschen in der Welt verbessern können.
Vom Herzen aus hätten wir die Welt neu einzurichten, aus der Bewußtseinskraft
einer erkennenden, das soziale Ganze einschließenden Liebe. Notwendig
wäre aber auch ein höherer Freiheitsgrad des Denkens, eine
Deautomatisierung des Denkens, die lebensrichtige Einordnung des instrumentellen
Verstandes ins psychische und soziale Ganze. Ichbesessener, süchtiger
Tatendrang bringt uns als Menschen nicht in ein besseres Verhältnis
zur Welt, verbürgt keine zukunftsfähige Ordnung.
Die neue Welt fängt mit dem sich ändernden Menschen an, einem
neuen inneren Selbst, das sich über das bedürftige Ego erheben
kann. Bahro wirft die Frage nach einer anthropologischen Revolution auf,
als eine Neubegründung der Gesellschaft auf bisher unerschlossene,
unentfaltete Bewußtseinskräfte. Die Heilung unserer Kultur
hinge davon ab, ob wir die systematische Selbstaufklärung nach Innen
wagen. Meditative Praktiken können auf diesem Weg unterstützend
wirken.
Zudem popularisiert Bahro die Neubegründung kleiner Lebenskreise,
wie das dann auch in dem ökologischen Landgut Pommritz bei Bautzen
als einem praktischen Versuch seinen Niederschlag fand. Sinnvoll hält
er den Aufbau von Basisgemeinden der neuen Ordnung in Gestalt eines netzwerkartigen
Verbundes von Gleichgesinnten, die überall lokale kommunitäre
Zusammenhänge schaffen. Wenngleich man die Vielfalt alternativer
Lebensorte in Deutschland eher unterschätzen wird, so kann dies
vermutlich nicht der einzige Pfad für einen Ausweg unserer Logik
des Mißlingens sein auf der materiellen Ebene. Solche Orte mögen
ausstrahlen, neue Entwicklungen anstoßen. Die Einrichtung eines
Ökologischen Rates als demokratisches oberstes Verfassungsorgan
kann auch auf der politischen Ebene ein Instrument sein, um sich von dem
Beharrungsstatus zu lösen. Sicher, wenn der Klimawandel immer mehr
unsere Wirtschaftsweise desorganisiert, dann bleibt am Ende nur Rückzug
auf regionale Refugien. Heutige Reformszenarien müßten aber
von der ganzen Bevölkerung gegangen werden, oder sie finden nicht
statt. Es geht also um Wege, die aus der Mitte der Gesellschaft heraus
gestartet werden können. Da reicht das Konzept Landkommune und wahlverwandtschaftlicher
Gemeinschaft nicht aus.
Die Vision einer Umkehr in den Metropolen hänge davon ab, so Bahro,
wie schnell der Mehrheit klar werde, daß die kapitalistische Kulturverfassung,
samt ihres sozialpsychischen Inventars, nicht geeignet ist, um uns als
Menschen dauerhaft auf dieser Erde einzurichten und es in aller Interesse
liegt, nach einer alternativen kulturellen Entwicklung zu suchen, dazu
nach den gesellschaftlichen Strukturen, die dafür geeignet sind.
Politik ist nicht mehr politisch genug, wenn es um eine Neubegründung
der zivilisatorischen Anlagen und Fundamente geht, hält Rudolf Bahro
fest, also die heute vorfindbaren Handlungsrahmen und -ziele sind nicht
geeignet, die Apokalypse aufzuhalten. Er fokussiert sich hier insbesondere
auf die Politik der reichen Industriestaaten, bei denen der Verteilungskampf
im Mittelpunkt des Geschehens liegt. Politik wird dann zum Teil des Problems
und artet in Politikasterei aus.
Ökologische Wendepolitik heißt den Staat neu zu verfassen,
den Staat und die Rechtssphäre aus der materiellen Dynamik herauszulösen.
Dies kann nur mit einer neuen Gesamtstruktur gelingen, irgendwelche Maßnahmepläne
werden dies nicht leisten. Zudem kritisiert er, daß die Parteien
angesichts der ökologischen Krise dennoch darauf setzen, die Selbstsucht,
Kurzsichtigkeit und Subalternität etc. der Bevölkerung zu instrumentalisieren.
Mit der Wende kam Rudolf Bahro zurück in die DDR, meldete sich auf
dem SED/PDS Parteitag zu Wort, der Beifall hielt sich in Grenzen. Der
Text ließ sich hinterher eine Million Mal im "Neuen Deutschland"
nachlesen. Die Rede ist in dem Band "Außerordentlicher Parteitag
der SED/PDS" abgedruckt und ein Ausschnitt auch auf CD gebannt. So
realitiätsfern, wie man bei Lektüre diverser Presseartikel annehmen
muß, ist Bahros Beitrag keineswegs. Jedoch weiß die PDS nach
wie vor nicht so richtig, was sie mit seinen Thesen anfangen soll, obwohl
diese erstaunlich zeitlos waren. Der Reformeransatz der PDS scheint seit
längerer Zeit immer öfter in politischem Opportunismus unterzugehen.
Eine kritische Analyse unserer zivilisatorischen Situation benötigt
man als SPD-Imitat nicht. Und einen Bahro schon gar nicht, gleichwohl
einzuräumen ist, die Rosa-Luxemburg-Stiftung bemühte sich, mit
Veranstaltungen an den einstigen Kritiker zu erinnern.
1990 im Herbst begann er die Berliner Vorlesungsreihe für Sozialökologie
als Studium Generale an der Humboldt-Universität. Hätte ich
nicht schon vor meiner ersten Begegnung mit dem Vorlesungsstil Rudolf
Bahros seine wichtigsten Bücher gelesen, so wäre die erste Vorlesung
möglicherweise auch die letzte gewesen. So manche Verknüpfung
von Ideen und Gedanken dürfte neuen ZuhörerInnen gar nicht
so einfach nachvollziehbar gewesen sein, solange man in seinem überaus
vielschichtigen Kosmos nur marginale Orientierung hatte. Jedoch konnte
man von ihm sehr viel lernen, wenn man sich auf seine Art zu denken einließ,
ohne gläubig alles zu akzeptieren. Auch behielt Bahro für Vorschläge
immer ein offenes Ohr.
In den ersten Jahren war das Audimax öfter bis auf den letzten Platz
besetzt, das sind immerhin fast 650, aber auch kurz vor seinem Tod, er
starb an Blutkrebs, kamen häufig mehr als 200 ZuhörerInnen zusammen.
Und dabei bunt gemischt. Von grün alternativ, über die Anhänger
der unterschiedlichsten Religionen bis hin zu PDS-Mitgliedern war wohl
alles mal vertreten.
Anfang der 90er Jahre zog er sich die besondere "Sympathie"
der westlich-alternativen "Hauptverwaltung ewige Wahrheiten"
zu. Da gab und gibt es eine ganz bestimmte Art von Leuten, die sich dadurch
profilieren, indem sie andere anschwärzen. Besonders gut funktioniert
das mit dem Vorwurf des Ökofaschismus. Das Engagement der Politpolizisten
ging so weit, daß mitten in eine Vorlesung Pflastersteine von draußen
durch die Scheibe geschleudert wurden, die den Redner nur knapp verfehlten.
Was daran noch links und antikapitalistisch ist, muß mir erst mal
einer erklären. Sehr interessieren würde mich auch mal, wie
Jutta Ditfurth über die schätzungsweise um die 100 Vorlesungen
Bescheid wissen will, obwohl ich sie dort nie im Publikum habe sitzen
sehen. Eine Einladung von Rudolf Bahro, der ihr angeboten hatte, sie
könne ihre Sicht der Dinge in seiner Vorlesung zwei Stunden lang
vortragen, schlug sie aus. Auch die Biographen erkannten die Hochstapelei,
die hier mit Breitenwirkung inszeniert worden war.
Ein persönlicher Tiefschlag ereilte ihn, als seine zweite Frau 1993
Selbstmord beging. Sie sprang von der Siegessäule. Daraufhin setzte
er ein Semester aus. Die Biographen widmen seinen Beziehungen mit Frauen
einen eigenen Abschnitt, ein mutiges Ansinnen, vermutlich nicht ohne Widerhaken.
Wie schon Friedrich Engels und andere Sozialisten interpretiert er Liebe
etwas freizügiger, als es allgemein üblich ist. Dagegen spricht
zunächst nichts, solange andere nicht in Mitleidenschaft gezogen
werden. Soweit man den Biographen vertrauen kann, scheint sein theoretischer
Anspruch emanzipatorischen Verhaltens im Privaten nicht immer gelungen.
1995 unterbrach er seine Vorlesungsreihe für weitere zwei Semester,
weil seine Krebserkrankung bereits sehr fortgeschritten war. Schon bei
einem Seminar im Herbst 1994 auf dem Hof Vogelsang bei Prenzlau war für
jeden erkennbar, er mußte ein arges gesundheitliches Problem haben.
Freilich die Irrfahrten, die er unternimmt, um alternative Behandlungen
zu bekommen, und der Klinik zu entfliehen, werfen Fragen auf: Wie kann
man sich so rücksichtslos gegen sich selbst verhalten?
Die Idee Bahros, Erich Honecker in seinem Verfahren vor bundesrepublikanischen
Gerichten zu verteidigen, ist in der Tat ein Vorgehen, das überraschend
wirkt, zumal Honecker persönlich auf 10 Jahre Zuchthaus für
Bahros "Alternative" plädiert hat, als einstiger Generalsekretär.
Die bundesdeutsche Form, über die DDR via Rechtsprechung zu richten,
lehnte Bahro ab. Das andere Deutschland hätte keinen Bezug zu dem
gescheiterten Projekt und was eigentlich gewollt gewesen ist. Es muß
sehr viel Wut auf das westliche Regime im Spiel gewesen sein, über
die Art der Kolonialisierung der DDR, wie sie ablief, daß er sich
so positionierte. Freilich war ihm auch klar, daß die kapitalistische
Zivilisation in die Zukunft hinein längst den nächsten GULAG
produziert inklusive der Opferzahlen und insofern keine Schonung beanspruchen
darf, etwa als das bessere System zu gelten.
Erinnert sei auch, wie er angesichts der Blockkonfrontation sich dafür
aussprach und fast ein ganzes Buch dazu verfaßte, warum man die
DKP aus der sich entwickelnden Friedensbewegung verbannen muß.
Er hielt sie für den langen Arm des Ostens, wenn sie die sowjetischen
Atomraketen verteidigten, mit den finanziellen Unterstützungsleistungen
aus den SED-Kanälen. Seiner Meinung nach mußte in Ost und West
radikal abgerüstet werden und nicht einer der beiden "Todesengel"
verteidigt werden. Von so einer Position Anfang der achtziger Jahre den
Bogen zu schlagen zur Verteidigung des "obersten Subalternen",
wie er Honecker in der "Alternative" titulierte, ist nicht ganz
einfach zu erklären. Vermutlich spielt hier auch seine Auffassung
von spiritueller Selbstverringerung hinein. Adolf Holl hielt in Bahros
Vorlesungsreihe zum Beispiel einen Vortrag über das Thema. Das könnte
ein weiterer Schlüssel sein. Möglicherweise hätte er Honecker
sogar überzeugend verteidigen können in einem begleitenden
Beitrag vor Gericht, so dieser denn fähig gewesen wäre, dies
zu akzeptieren. Freilich hätte Bahro um einiges mehr abklären
müssen, wie er sich positionieren will und weniger in den zurecht
von Guntolf Herzberg kritisierten Relativismus verfallen dürfen.
Dennoch scheint er genau gewußt zu haben, mit was er es zu tun hat.
Zwar verteidigt er seine Richter, die ihm den Prozeß in der DDR
gemacht haben, weil sie letztlich nur Statisten der von oben festgelegten
Linie waren, doch wird er seinen Ankläger einen "Betonkopf"
nennen, der kein Unrechtsbewußtsein gehabt habe. Auch Bahro beteiligte
sich am Anfang an der üblichen Stasiaufarbeitung, verändert
dann aber seine Einstellung, weil er sieht, daß die Art der Aufarbeitung
zu verheerenden Nebenwirkungen führt. Warum dieser Wechsel zustande
kommt, dem hätte schon mal Aufmerksamkeit gebührt in dem Buch.
In diesem Honecker-Abschnitt scheint mir die Biographie sich zu einseitig
auf einige herausragende Schlaglichter zu konzentrieren und sorgt dadurch
für eine Schieflage in der Gesamtsicht. Ich habe den Eindruck, die
verständliche Abneigung von Guntolf Herzberg gegenüber Bahros
Auftreten in diesem Punkt scheint der verursachende Zerrspiegel zu sein.
Für ein neu geschriebenes verbessertes Kapitel wäre es höchst
geboten, insgesamt zu studieren, was er nach der Wende zur DDR und damit
verbundenen Aspekten sagt. Und das ist eine ganze Menge. Seine Ausführungen
unterscheiden sich teilweise von den Aussagen, die sich in der "Alternative"
finden. Auch ich setzte mich mit ihm auseinander über die Frage,
ob Perestroika im Osten und die DDR grundsätzlich da enden mußten,
wo sie geendet sind. Da sind wir zu verschiedenen Auffassungen gekommen.
Ich hielt die Geschichte nicht für so festgelegt.
1991 lud Bahro Kurt Biedenkopf zu einer Vorlesung ein. Dort konnte er
den CDU-Politiker davon überzeugen, daß es doch angesichts
der ökologischen Krise sinnvoll sei, alternative Lebensplätze
zu fördern. Es folgte ein Treffen auf einem sächsischen Alternativhof
in Schönewitz. Aus diesem Impuls heraus entwickelte sich dann das
Lebensgut Pommritz. Das Land Sachsen stellte zunächst Hof, Land u.a.
zur Verfügung. Vielleicht wird es zukünftig auch andere Ministerpräsidenten
geben, die solche Alternativen fördern, so unausgereift und provisorisch
diese Experimente vorläufig wohl noch sein müssen. Vorschläge
zur Verfahrensweise liegen bereits auf dem Tisch. Die Texte dazu von Bahro
u.a. sind in dem Band "Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit"
zu großen Teilen dokumentiert. Ein erster Vorlesungsband war bereits
1991 unter dem Titel "Rückkehr. Die In-Weltkrise als Ursprung
der Weltzerstörung" erschienen. Das Rudolf Bahro-Archiv an der
Humboldt-Universität will zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung
auf längere Sicht einen weiteren Band mit Vorlesungen herausgeben,
die Bahro in seiner Zeit als Professor für Sozialökologie in
Berlin gehalten hat. Unveröffentlicht ist auch das Buch "Die
Befreiung aus dem Untergang der DDR" wo er sich mit der PDS, Kommunismus
und Ökologie, marxistischem Gedankengut sowie der "schenkenden
Tugend" von Nietzsche u.a. auseinandersetzt. Gewiß enthält
der Essay eine ganze Reihe interessanter Überlegungen, doch dem
Votum der Biographen, es als drittes Hauptwerk Bahros zu bezeichnen, würde
ich nicht folgen wollen. Dafür könnte man den Eindruck gewinnen,
daß sein Aufsatz zum "Homo integralis" fast wie ein Schlußstein
wirkt, als ob er in einen Aufsatz die Konzeption für ein ganzes Buch
verpackt hat. Bei einem meiner Krankenhausbesuche äußerte Bahro,
er wolle noch einmal ein umfassendes Werk über den Staat schreiben
und will dazu u.a. Hegel in Gänze lesen. Vielleicht gibt es dazu
bei anderen noch mehr Puzzelstücke.
2002 erschien unter dem Titel "Wege zur ökologischen Zeitenwende.
Reformalternativen und Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem",
zusammen mit Texten von Franz Alt und Marko Ferst, eine ganze Reihe noch
unbekannter Texte von Bahro erstmals, alle aus den letzten Lebensjahren.
In mehreren Vorlesungen zur Studie "Zukunftsfähiges Deutschland"
lotet er erneut aus, was alles nicht mehr hinreicht, um zu einer Gesellschaft
mit menschlichem Antlitz zu kommen. In seinem letzten Aufsatz stellt
er noch mal die Frage nach einer Kulturordnung zur Debatte, die auf Herz
und Geist gebaut ist und nicht auf Beton und Chips. In weiteren Beiträgen
geht es darum, wie wir zu einer politischen Instanz für das Naturverhältnis
kommen könnten und wie unsere Tektonik der Selbstzerstörung
angelegt ist. Die Texte zeigen überdies die Vielschichtigkeit seiner
Ideen und Analysen. Als ich ihm die Buchkonzeption zum erstenmal vorstellte,
fand er die Idee, daß ich mit Franz Alt die Befragung vornehmen
will, sehr spannend, mit seinem eigenen Anteil war er noch nicht zufrieden.
Da kamen dann später weitere Texte zu den Vorlesungen hinzu. Leider
ist der Band derzeit der einzige, den man noch im Buchhandel erhalten
kann. Man müßte sich darum bemühen, daß mehr Texte
wieder zugänglich werden. Besonders sein Band "Logik der Rettung"
oder auch Unveröffentlichtes.
Dissidenz, auch als die Frage nach der richtigen inneren Verfaßtheit
von Menschen und die Frage nach optimalen Lebensstrukturen in den Gesellschaften,
war nicht nur zu DDR-Zeiten ein rares Gut. Auch in den heutigen Verhältnissen
ist uns das aufgetragen, wenn es um die Selbstbegrenzung des industriellen
Expansionismus geht, um den Erhalt einer menschenwürdigen Existenz
zu ringen. Es scheint mir sinnvoll zu sein, die Konzeptionen Rudolf Bahros
in ihren Stärken zu sichten, aber mit neuen Fragestellungen könnte
künftiges "Vordenken" auch schwächere Punkte alternativ
formulieren. Ich habe Rudolf Bahro mal damit konfrontiert, eigentlich
müßte man einen zweiten Teil zu seinem Buch "Logik der
Rettung" schreiben, wo der Schwerpunkt darauf zu setzen wäre,
wie eine konkrete Utopie für eine zukunftsfähige Gesellschaft
aussehen könnte. Es ginge schon um mehr als ein paar theoretische
Rahmenbedingungen. Er bestand darauf, die innere Veränderungsperspektive
wäre die entscheidende Matrix, alles andere würde sich ergeben.
Dieses Ergeben konnte ich nie nachvollziehen, zumal nach der Bruchlandung,
die der angebliche Sozialismus hingelegt hat, wiewohl ich Bahros Grundannahme
einer In-Weltkrise teile. In dem Band "Wege zur ökologischen
Zeiten-wende" ist in einer ersten Lesung auch der Versuch einer Antwort
auf die Fragestellung nach einer ökotopianischen Zukunftsgesellschaft
meinerseits zu finden, sicher unvollkommen, aber eben ein Versuch, mehr
Phantasie für neue Gesellschaftsentwürfe zu wecken.
Kommen wir auf die Überschrift unseres Beitrags. An seine Ex-Frau
Gundula Bahro schreibt er 1994: "Wir haben versucht, ins Rad der
Geschichte einzugreifen, es ist uns entglitten." Entglitten wohl
in mehrfachem Sinne. Verloren gegangen ist der Versuch, eine emanzipatorischere
Gesellschaft im östlichen Deutschland und anderen pseudosozialistischen
Staaten zu etablieren. Verheerender jedoch dürfte sein, daß
uns jetzt die zivilisatorischen Fundamente insgesamt wegbrechen. Ihm war
klar, es spricht viel dafür, wir gehen auf eine dunkle Zeit zu, eine
Pflasterstraße durch die Hölle. Ich erinnere mich an eine Vorlesung,
wo er ausführte, daß die ökologische Krise ein oder zwei
Milliarden Menschen das Leben kosten könnte. Gewiß mengte er
immer die optimistische Botschaft dazu, das Rettende könnte auch
wachsen.
Schon in der "Alternative" verdeutlicht er, wenn es der Menschheit
nicht gelingt, die Natur-gleichgewichte zu wahren, dann wird sie im Zeichen
barbarischer Kämpfe und Diktaturen dahin gezwungen werden. Dieser
Absturz dürfte jetzt auf uns zukommen. Wer sich die Daten gründlich
besieht, dem ist klar, inzwischen reißen die Verankerungen, etwa
was das Klima betrifft. Bahro hoffte, die Zusammenbrüche würden
stufenweise kommen, so daß die Gesellschaften noch umsteuern könnten.
Dies setzt aber voraus, in vielen Staaten bilden sich aktive Minderheiten
heraus, die solch einen Prozeß dann auch gegen geschwächte
alte geistige Hegemonien durchsetzen können. Bisher sieht alles
danach aus, daß die Metropolengesellschaften höchste Meisterschaft
im Verdrängen der ökologischen Realitäten aufbieten. Dadurch
ist man dem Verhängnis um so mehr ausgeliefert und zerstört
die geschichtlichen Potentiale für eine grundsätzliche Korrektur.
Die Lebensweise und systemischen Zusammenhänge, die wir uns jetzt
leisten, werden dazu führen, für die kommenden Generationen
steht "Auschwitz global" auf der Tagesordnung. Die Züge
fahren in einen vermutlich Jahrhunderte langen Alptraum. Rudolf Bahro
wollte ein Pfeiler am anderen Ufer sein. Er war noch nicht stützfest,
aber ein Symbol, ein Aufruf zum Weiterdenken, das war er schon, und er
könnte es auch bleiben. Seine Themen sind zu geschichtsmächtig.
Daß fünf Jahre nach Bahros Tod eine solch umfangreiche Biographie
erscheint, damit war nicht unbedingt zu rechnen. Das ist schon eine angenehme
Überraschung. Ein Blick auf die Liste der Interviewpartner/innen
und die verwendete Literatur zeigt sehr schnell, es wurde sehr intensiv
Bahros Leben durchforstet. Viele Materialien steuerten auch Freunde bei.
Die Biographen zeigen vielfach schonungslose Ausschnitte aus dem Leben
des privaten Rudolf Bahro. Halbwegs bewerten, wie genau diese sind, können
letztlich nur diejenigen, die in den jeweiligen Situationen ihn begleitet
haben.
Ganz wenige Daten sind noch mal zu prüfen. Wegen der Chemotherapie
setzt er im Sommer- und Wintersemester 1995/96 die Vorlesungen in Berlin
aus. Im April 1996 nimmt er die Vor-lesungstätigkeit wieder auf und
nicht erst im April 1997. Im Kapitel über die Vorlesungen steht es
falsch, an anderer Stelle richtig.
Andrej Bahro urteilt über die Biographie, sie sei in einem überkorrekten
sauberen Stil geschrieben, der so gar nicht passen würde zum wohligen
Leben des Vaters. Weiter schätzt er ein, die Biographie wird ihm
inhaltlich überwiegend gerecht. Gerade letzteres scheint mir zutreffend
zu sein. Gewiß bei dem ein oder anderen Detail könnte man noch
mal nachhaken, einige Schemen ließen sich klarer zeichnen. Und die
Bücher Bahros muß man überdies selbst lesen.
Guntolf Herzberg, Kurt Seifert; Rudolf Bahro - Glaube an das Veränderbare.
Eine Biographie, Berlin, Christoph Links Verlag, 2002, 29,90 €
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