20 Jahre Ökodorf Siebenlinden

Nachhaltig gut leben mit kleinem ökologischen Fußabdruck

Von Marko Ferst


Einsam in weiter Flur stand 1997 nur ein Gehöft mit Stallflügel in verfallenem Zustand. Sonst gab es nur monotone Felder und einzelne Waldstücken. Inzwischen breitet sich an diesem Platz in der Altmark eines der Vorzeigeprojekte der deutschen Ökoszene aus. Zu Zeiten als Rudolf Bahro in den 90er Jahren noch an der Humboldt-Universität Sozialökologie lehrte, lagen dort beispielsweise die Konzeptpapiere für das Ökodorf Sieben Linden aus. Schon damals ließ sich erkennen, die Initiatoren besaßen recht präzise Vorstellungen von ihrem Zukunftsprojekt. Die ersten Planungen reichten bis in das Jahr 1989 zurück. In Groß Chüden befand sich seit 1993 als Vorläufer ein erster Ökohof.
Besucht man heute das Areal, trifft man auf eine Ökosiedlung, wo neben zwölf zumeist Mehrfamilienhäusern, auch noch an die 50 Bauwagen mit metallenen Heizungsschornsteinen auf Wiesen stehen. Rund 150 Bewohner, darunter 40 Kinder wohnen an diesem Ort. Statt einer Kirche findet man ein Meditationshaus, überdies einen Naturwarenladen. Zäune gibt es nicht, nur die riesigen Gartenanlagen werden abgeschirmt, damit Rehe und Schwarzröcke nichts plündern. Die Siedlung selbst umfasst knapp sechs Hektar, zusammen mit Wald, Acker- und Gartenflächen ist die Fläche inzwischen auf über 100 Hektar angewachsen.
Jeden ersten Sonntag im Monat gibt es ab 13.30 Uhr gibt es eine informative Führung durch das Gelände, außer im Januar und August. Ein Vortrag oder kultureller Beitrag folgt mit traditionel-lem Sonntagscafé. Selbst für überraschende Gäste liegt alltags ein selbsterklärendes Exkursions-heft bereit, an jeder Station des Rundgangs mit Erläuterungen ausgestattet. Jedes Jahr veranstaltet Sieben Linden ein großes Sommercamp mit vielen Workshops und Gästen. Seminare zu Permakultur, Strohhaus-Achitektur, Mitarbeitswochen oder Forschungstage finden verteilt über das ganze Jahr statt.
Zum 20. Geburtstag bereitete man die eigenen Erfahrungen, Reflektionen auf und zog Resümee. All dies findet in dem Band „20 Jahre Ökodorf Sieben Linden“ seinen Niederschlag. Man wollte nicht warten bis eine Regierung in Deutschland eine grundlegende ökologische Wende einleitet, sondern selbst schon beginnen, wie so ein ökologisches Leben vor Ort aussehen kann. Von einem abgekoppelten Gegenmodell mauserte sich das Projekt zu einem Teil des größeren gesellschaftlichen Wandels. Man hat es nicht mit einer abgeschotteten Insel zu tun, auch im Gemeinderat oder im Kreistag sind Ökodörfler aktiv. Die Öffnung zur übrigen Gesellschaft ebnete den Erfolg, so äußert Dieter Halbach, einer der Mitbegründer.
Im Zentrum steht die Siedlungsgenossenschaft, die Eigentürmer vieler Häuser ist und alle wichtigen Entscheidungen in die Wege leitet. Jeder hat bei der Genossenschaft das gleiche Stimmrecht und das Projekt wird nicht gefährdet, wenn jemand ausscheidet. Eine Gemeinschaft ist ihnen wichtig, die auf einer Kultur des Vertrauens gründet. Entscheidungen werden inzwischen durch ein Rätesystem aufbereitet, welches versucht Basisdemokratie und menschliche wie fachliche Kompetenz miteinander zu verknüpfen. Die Verantwortung wird in sieben Fachgruppen delegiert, damit Entscheidungen leichter und effizienter zu treffen sind. Der Beitrag von Eva Stützel in dem Band zeigt, wie schwierig sich der Weg dorthin gestaltete. Am Anfang fehlte das Wissen und das Gespür für die praktische und rechtliche Dimension des Projekts, man musste sich mit Bebauungsplänen und Gemeindebeschlüssen beschäftigen. Ein völlig neues Dorf anzulegen ist heutzutage alles andere als einfach.
Eine Studie über das Dorf in den Bereichen Ernährung, Wohnen und Mobilität ergab, dass hier nur ein Viertel des Bundesdurchschnitts an CO2-Aquivalenten ausgestoßen wird. Im Bereich Wohnen und Heizen sind es sogar nur zehn Prozent. Prägend für den Ort sind die langgezoge-nen Holzmieten, überdacht. Freilich, wenn alle nur mit Holz heizten in Deutschland, würden die Wälder schnell übernutzt, so schätzen sie selbst ein. In der Mobilität dagegen unterschied man sich kaum von der übrigen Bevölkerung. Das liegt auch am niedrigen Altersdurchschnitt. Rentner sind zumeist weniger unterwegs, zudem befindet sich der Ort abseits von Bahnstrecken etc. Das Dorf selbst ist autofrei, die Fahrzeuge werden untereinander geteilt.
Auf dem Wunschzettel steht noch eine Biogasanlage für das benötigte Kochgas, Abfälle dafür, gäbe es genug, berichtet Christoph Strünke in seiner Ökobilanz. Mit 500 Kilowattstunden an Strom pro Person und Jahr komme man aus. Es werden keine Elektroherde, Trockner und Warmwasserbereiter genutzt. Kühl- und Gefriergeräte liegen in gemeinsamer Verwendung. Zwei Drittel des Stroms im Ökodorf wird selbst erzeugt, Solaranlagen findet man auf jedem Dach, an guten Sonnentagen gibt es sogar Vollversorgung. Mit 60 Liter pro Person liegt der Wasserbedarf nur halb so hoch wie üblich, dank moderner Komposttoiletten, Pflanzenkläranlagen bereiten das Wasser auf.
Es gibt immer mehr Arbeitsplätze im Dorf, insbesondere im Bildungsbetrieb, zwei oder drei arbeiten auch im Waldkindergarten, aber auch durch den Hausbau und mit deren Unterhalt ver-bundene Dienste. Der Wald muss bewirtschaftet werden, der große Gemüsegarten. Es gibt Selbständige und eigene Betriebe vom Hausbau in Strohballen-Bauweise, über Wildkräuterver-sand, die Obstbaumschule bis hin zum Buchverlag und der Schneiderei. Die Wertschöpfung soll möglichst im Dorf verbleiben. Andere arbeiten außerhalb als Arzt, Lehrer*in, Psycholog*in, in der Sozialarbeit u.a. Nur wenige sind arbeitslos. Seit dem Anfang absolvierten über 100 junge Menschen ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr in diesem experimentellen Projekt.
80 Prozent der Bewohner leben zwar unter der offiziellen Armutsquote, jedoch kommt man hier mit 600 € im Monat gut aus. Es gibt eine Verschenke-Ecke, wo Bücher, Kleidung u.a. ihre Besitzer wechseln. Es werden viele Dienstleistungen getauscht und geteilt ohne Finanzen. Tanz- und Musikunterricht wird so günstiger. Jede Woche gibt es einmal Kino an der Großleinwand frei, Sauna ist möglich. Viel Energie, Plastikmüll und Geld wird gespart, wenn das gemeinschaftliche Essen genutzt wird, schmackhaft überdies, wie sich der Autor überzeugen konnte. Der Selbstversorgungsgrad mit Gemüse und Kartoffeln liegt bei 70 Prozent. Immerhin die prächtigen roten Paprika im Gewächshaus beim Rundgang, konnten schon Eindruck schinden.
Wer sich die Häuser betrachtet, wird nicht auf die Idee kommen, diese könnten zu großen Teilen aus Strohballen gebaut sein, Holzkonstruktionen und Lehm fallen eher auf. Sogar ein dreistöckiges Haus wurde so errichtet. Die Zimmerin Bettina Keller gibt dazu einen Überblick und verweist darauf, in Frankreich werden jedes Jahr so viele Strohballenhäuser gebaut, wie in Deutschland in den letzten 20 Jahren. Für die Strohballenhäuser bedurfte es einer eigenen Zulassung im deutschen Baurecht. Alle Baustoffe sollten unmittelbar aus der Region kommen ohne große Transportaufwände. Stahl, Beton, Aluminium und problematische Kunststoffe wollte man auf ein Minimum reduzieren. Eines der großen Projekte, die für die Zukunft geplant sind, ist das neue Seminarzentrum mit über 40 Übernachtungsplätzen.
Einige Jahre gab es auch den Club 99, Silke Hagmaier gibt im Band Bericht davon, der mit einem Zehntel des heutigen Energie- und Materialverbrauches auskommen wollte, alternative Lebens- und Liebesmodelle gehörten dazu. So entstand die Villa „Strohbunt“ 2001, fast komplett gebaut aus recycelten Materialien, die von Abrisshäusern gewonnen wurden bzw. Holz aus dem Wald mit Pferden herangeholt. Immerhin führte genau dieses Experiment zum Einsatz von Stroh beim Hausbau weit über das Ökodorf hinaus.
Sieben Linden oder das ökologische Stadtviertel Vauban in Freiburg, wie auch andere Projekte, geben einige Anstöße dafür, wohin die Reise gehen könnte. Dirk C. Fleck implantierte in seinen Roman „Das Tahiti-Projekt“ modellhaft wie die Südseeinsel zu einer ökologischen Zukunftsre-publik umgestaltet wird. In vielen ökonomisch aufstrebenden Staaten baut man zumeist das alte fossile Industriemodell nach, obwohl Alternativen leichter möglich wären wie hierzulande, nicht nur mit solar erzeugtem Strom im Dorf. Deutschland ruht in umweltpolitischen Blockaden, dank immer neuer Merkel-Regierungen, von amerikanischen Verhältnissen ganz zu schweigen. Da darf es nicht wundern, dass die globale Konzentration an Klimagasen rasant ansteigt, die Klimaziele von Paris sehr wahrscheinlich gerissen werden. Die nächsten Generationen dürften sich in chaotischen gesellschaftlichen Umbrüchen wiederfinden. Noch unterwandert ökologischer Pioniergeist nicht die Zentren unserer Plutokratien. Aber eines ist gewiss: Die heutigen modernen Lebensstile werden in den absehbaren klimatischen und gesellschaftlichen Krisenprozessen in diesem Jahrhundert hochgradig verwundbar. Sehr schnell könnten die Regionen sozialökonomisch auf sich selbst zurückgeworfen sein. So dürfte es klug sein, recht¬¬zeitig Ideen zu sammeln, welche Strategien dann tauglich sind.

20 Jahre Ökodorf Sieben Linden. Erfahrung, Reflexion und Resümee, 136 Seiten, Eurotopia-Buchversand, A4 mit zahlreichen Farbfotos, 15 €, www.eurotopiaversand.de
mehr Information: www.siebenlinden.org

Umweltzeitung Rabe Ralf 2-3/2018

 

www.umweltdebatte.de