Aus dem Abschnitt:

Die ökotopianische Zukunftsgesellschaft

 

 Marko Ferst

 

Wir müssen uns also zunächst noch einmal in aller Klarheit vor Augen führen, es gibt nicht viel Hoffnung, daß wir dem Sog der geschichtlich beispiellosen Trägheitskräfte entrinnen.  Eigentlich spricht zuviel dagegen.  Die ökologische Weltkrise scheint unser selbstbereitetes Schicksal zu sein, der Endpunkt des  evolutionären Experiments Mensch. Vielleicht wird es ein jahrhundertelanges Ringen geben, um die biosphärischen Gleichgewichte zurückzugewinnen.  Der selbsterlittene Absturz öffnet womöglich Wege, die im Umfeld wohlbehüteter Sattheit nur ein müdes Lächeln oder einfach stures Ignorieren hervorrufen. Offenbar sind wir als Gattung noch nicht soweit, den geschichtlichen Weg mit mehr Bewußtsein zu gehen. Ohne diesen Schlüssel bleibt aber alle Aussicht auf Rettung eine Illusion.

Die günstigste Situation wäre, wir würden uns täuschen über das Ausmaß des tödlichen Netzes.  Dann könnte uns der ökomodernistische Weg im Sinne der Studie vom zukunftsfähigen Deutschland noch einmal vor dem Schlimmsten bewahren.  Vielleicht kämen wir mit ein paar heftigen Schrammen davon.  Das ist mit der größte Hoffnungsschimmer, den ich sehe.

Sicher in dem Rahmen, den die Studie vom zukunftsfähigen Deutschland zieht, kann so oder so nicht jeder Schaden abgewendet werden.  Aber womöglich verfügen wir über mehr Zeit, als es zunächst scheinen mag.  Schon könnten wir uns etwas beruhigter zurücklehnen, die Welt mit anderen Blicken mustern.  Aber vergessen wir nicht: Das ist eine Spekulation, nicht mehr und nicht weniger, und wer z.B. den Erkenntnisprozeß etwa im Bereich Klima in den letzten Jahren mitverfolgt hat, der wird sich vor eilfertigen Sicherheitsgarantien hüten.  Niemand weiß, wann wir mit dem Testen zu weit gegangen sein werden.  Auf den zweiten Blick gibt es leider sehr viele Warnzeichen, die uns darauf aufmerksam machen, wenn erst mal an einer Stelle die Hürde genommen ist, kommen eine Vielzahl destabilisierender Faktoren ins globale Spielfeld.  Am Ende könnte das auch sehr schnell „Schach matt“ bedeuten, für den Menschen, wie er nun mal ist.

Feststehen dürfte, die neunziger Jahre sind in Bezug auf die globale Vorsorge ein verlorenes Jahrzehnt.  Dieser Trend setzt sich möglicherweise noch sehr lange fort.  Hier und dort wird es vielleicht Verbesserungen geben, aber so umwälzend sie uns für die eigene Alltagswelt erscheinen mögen, in der großen Natur hinterlassen sie kaum rettende Spuren. Zugleich verringert sich Jahr um Jahr der Spielraum, der uns als Gattung Mensch zum Abbremsen bleibt.  Veränderungen, für die wir einst Jahrzehnte zur Verfügung gehabt hätten, müssen dann in kürzest möglicher Frist erreicht werden. Viel materieller Wohlstand bleibt dabei unweigerlich auf der Strecke.  Dies befördert auch einmal mehr Gelegenheit, die Spaltung der Gesellschaft zwischen arm und reich zu vertiefen.  Mauer und Stacheldraht wird vielerorts die Trennlinie sein, dann nicht nur etwa in Brasilien, um sich vor den Slumbewohnern zu schützen, sondern auch wieder in Deutschland, mitten unter uns.

Sollte es so kommen, daß die Gesellschaften und Staaten die ökologische Weltenwende über viele Jahre im Kriechgang vor sich hin blockieren, vielleicht läuft der dann nötige Verzicht sogar darauf hinaus, daß wir uns von der Industriegesellschaft in Gänze verabschieden müssen.  Es könnte passieren, Rudolf Bahro und Carl Amery behalten auf diese Weise doch recht mit ihrer Forderung nach einem Ausstieg aus der Industriegesellschaft.

Wenn wir also nach einer Alternative zu unserer heutigen Gesellschaft fragen, dann kommen wir nicht umhin, diese materiellen Aspekte und die damit verbundenen Unwägbarkeiten mit einzubeziehen.  In jedem Falle ist dies kein einfaches Feld, weil der Vorwurf, reine Spinnerei zu betreiben, so nahe liegen mag, gerade für diejenigen, die noch mit den Augen der alten Ordnung zu sehen gewohnt sind.

Stück um Stück müssen wir zusammensuchen, welche Konturen die neue Gesellschaft annehmen könnte.  Unsere Phantasie wird dabei zu einer radikalen Kritik an den bestehenden Zuständen.  Aber wir schleifen in uns selbst immer wieder auch den Pfuhl alter Vorstellungen mit.  Mit der Alltagswirklichkeit, die wir leben, nähren wir ständig aufs neue, auch den rückwärts Blickenden in uns, in einem Falle mehr im anderen weniger. Wir tun also gut daran, auch die neuen Antworten sehr kritisch unter die Lupe zu nehmen.  Vieles will auch erst einmal aufgeschrieben sein, damit es weitergedacht werden kann.  Ich verweise auf das Buch „Ökotopia“ von Ernest Callenbach oder die Sozialutopie „Reise in ein Land unserer Hoffnung“ von Robert Havemann in seinem Buch „Morgen“, die schon vor längerem versucht haben, über einen Zeitsprung bzw.  Kunstgriff zukünftige Gesellschaft zu beschreiben. Manches wird man aus heutiger Sicht verwerfen, anderes ist hochaktuell geblieben.  Einige Bewertungen hängen ganz sicher auch vom Standpunkt des Betrachters ab, wie er die Welt und die sich in ihr aufwerfenden Probleme betrachtet.  In jedem Falle empfehle ich, sich mit diesen beiden Arbeiten auseinanderzusetzen.

Mag sein, die Chancen für eine ökotopianische Zukunftsgesellschaft mit menschlichem Antlitz sind sehr gering.  Doch es ist kontraproduktiv, in den Chor derer einzustimmen, die meinen, es macht keinen Sinn sich dafür zu engagieren, weil man und frau sowieso nichts ändern kann, und schon gar nicht in so großem Stile.  Das nutzt nur den Ewiggestrigen aller Coleur und womöglich auch den Ausläufern eigener Depression.  Es könnte sein, wir unterschätzen die eigene Kraft, vor allen Dingen, wenn sie sich mit Gleichgesinnten verbünden würde.  Unternehmen wir also eine kurze Reise in die ökotopianische Zukunftsgesellschaft, in das Deutschland von morgen und die neue ökologische Weltordnung.

Was einem sofort auffällt, es gibt in der neuen Zeit viel mehr Bäume und Hecken, viel mehr Grün.  Die ganze Natur scheint in einem urwüchsigeren Zustand.  Am Wegesrand findet man wieder Pflanzen, die vormals auf roten Listen als gefährdete Arten gestanden hatten.  Ein Großteil der Tiere, die nur noch in seltenen Refugien heimisch waren, vermehrten sich wieder und siedelten sich an vielen neuen Orten an.  Seit in Norwegen und Japan die Walfangschiffe verschrottet wurden, können auch künftige Generationen die großen friedlichen Meeressäuger bewundern.  Haifischflossensuppe sucht man vergeblich auf den Speisekarten rings um den Globus.  Früher wurden vieltausendfach Haien oft nur dafür die Flossen bei lebendigen Leibe abgeschnitten. Manövrierunfähig verendeten sie in den Weltmeeren. Es dauerte lange, bis sich die endlose Kette menschengemachten Aussterbens im Tier und Pflanzenreich allmählich verlangsamte.  Inzwischen geht aber nur noch selten eine Art für immer verloren.  Der Frühling ist nicht mehr ganz so stumm, wie zu den Blütezeiten technokratischen Fortschritts.  Die Menschen greifen nur noch mit äußerster Zurückhaltung in die Landschaft ein.  Vögelgezwitscher, das Rauschen des Windes und all die anderen Laute der Natur weben wieder den Ton der Welt.  Die Wälder konnten sich inzwischen vom sauren Regen, von Ozonbelastungen und anderem Umweltstreß erholen, nur die fortgesetzte Klimaerwärmung bringt sie in Schwierigkeiten.  Die „Streichholzwälder“, in denen z.B. Kiefer neben Kiefer stand, gibt es heute nicht mehr. Viel mehr Mischwald ist herangewachsen, große Flächen wurden neu aufgeforstet.

Auch die Felder von heute sehen anders aus.  Wurde früher jedes Unkräutchen totgespritzt und in Unmassen Kunstdünger ausgeworfen, so kann zwar ohne dem weniger geerntet werden, doch die daraus produzierten Nahrungsmittel sind weit gesünder, der Schaden für die Pflanzen- und Tierwelt fällt geringer aus.  Die übergroßen Felder mit Monokulturen sind einem etwas bunteren Flickenteppich gewichen.  Geerntet wird heute z.B. mit solar betriebenen Kleinmähdreschern, die den Boden weit weniger verdichten.  Die gleiche Maschine wird zum Pflügen nur umgebaut.  Viele Transporte im dörflichen Bereich wurden auch wieder von Pferdewagen übernommen.  Dennoch, eine Rückkehr zu mehr schwerer Arbeitslast in der Landwirtschaft konnte auf weiten Strecken vermieden werden.

Alles was heute angeschafft wird, von Möbeln über Geschirr bis hin zur Kleidung, man produziert sie so, daß es weit länger hält als eure analogen Produkte.  Schränke und Tische begleiten gut und gerne wieder ein Menschenleben lang.  Sie sind so gebaut.  Nirgendwo werden heute noch Produkte hergestellt, deren schneller Verschleiß voraussehbar ist oder gar kalkuliert wurde.  Viel Forschungskapazität verwendet man darauf, jedes Erzeugnis so langlebig wie möglich zu gestalten.  Garantien gibt es für Produkte heute über viele Jahre.  So bemüht sich jeder Betrieb um eine maximale Haltbarkeit.  Außerdem stellt man heute alles so her, daß Schäden leicht reparierbar sind bzw. defekte Teile unkompliziert ausgewechselt werden können.  Niemand schmeißt mehr schnell etwas weg.  Das war auch so eine schlechte Gewohnheit aus eurer Zeit. Müllkippen kennen wir nur noch als gefährliche Altlasten.  Schönen Dank übrigens noch für euren Dreck!  Auch die Müllverbrennungsanlagen wurden längst abgerissen.

Mülltonnen oder gar gelbe Säcke für den Verpackungsmüll sind bei uns unbekannt. Mit dem Verpackungswahn wurde ein für alle mal Schluß gemacht.  Viele Lebensmittel und die Getränke werden in Gläsern, Flaschen und Behältnissen aus pflanzlichen Rohstoffen mit Pfand verkauft.  Jede Verkaufsstelle nimmt sie wieder zurück.  Wer vom Bäcker Brot und Brötchen holt, bringt seinen eigenen Beutel mit.  Hat man keinen bei, kann man sich einen leihen.  Wenn es gar nicht anders geht, wird das Eingekaufte in einem papierähnlichen pflanzlichen Material eingewickelt.  Auf dem Kompost verwandelt es sich dann in gute Gartenerde.  Die wenigen Abfälle, die dennoch anfallen, können auf den Recyclinghof zur weiteren Verwertung gebracht werden.

In vielen Orten und Städten existieren heute sogenannte Tauschbörsen.  Während der eine anbietet, bei Maurerarbeiten behilflich zu sein, kann ein anderer Haare schneiden und der nächste hat einen Überschuß an im eigenen Garten geernteten Kartoffeln anzubieten.  So wird Ware gegen Ware verrechnet, und jeder hat einen Gewinn.

Alles was man sonst für den täglichen Bedarf benötigt, kauft mann und frau wieder im Dorfladen oder um die Ecke im Kietz.  Die großen Einkaufszentren mitten auf der grünen Wiese sind aus dem Landschaftsbild verschwunden. Viele Lebensmittel kommen vom Acker nebenan direkt auf den Ladentisch.  Natürlich gibt es nicht von jedem Artikel unzählige Varianten zu kaufen.  Dafür reicht der Platz nicht.  Da das meiste im unmittelbaren Umkreis hergestellt wird, wäre dies auch nicht verkraftbar.

Jedoch kann auch alles, was gebraucht wird für Haus, Hof und Garten, im Laden bestellt werden, wenn es nicht am Ort selbst verfügbar ist, es z.B. vom Schlosser oder vom Tischler erworben werden kann.

Niemand würde bei uns auf die wahnwitzige Idee kommen Blumen aus Brasilien, Äpfel aus Neuseeland oder Autos aus Japan heranzutransportieren oder Hemden zum Knöpfe annähen in ferne Länder zu transportieren.  Der Austausch von Waren über große Entfernungen findet kaum noch statt.  Selbst die Rohstofftransporte sind auf einen winzigen Bruchteil zurückgegangen.  Jeder besinnt sich so weit wie möglich darauf, die regionalen Ressourcen zu nutzen.  Rohstoffe oder Erzeugnisse aus fernen Ländern kosten ein Vielfaches an Geld.  Statt Orangensaft aus Südamerika trinkt man z.B. Birnensaft der ganz in der Nähe gepreßt wird, aus Obst, das im eigenen Garten geerntet wurde bzw. von Bäumen, die in heimatlichen Gefilden wuchsen.

Insbesondere alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse stammen fast ausschließlich aus dem unmittelbaren Umkreis, aber auch vieles andere, was vor Ort hergestellt werden kann, bezieht man nicht mehr von weit her.  Zwar gibt es einige große teilautomatisierte Fabriken, doch der Schwerpunkt liegt auf dezentralisierter Produktion.  Siebzig bis achtzig Prozent aller Waren werden im Bereich des eigenen Bundeslandes hergestellt.  Alles wurde so zueinander geordnet, daß die Transportwege so kurz wie möglich ausfallen, aber auch die anderen ökologischen Rucksäcke im Kleinformat bleiben.  Ziel war es, die industrielle Technosphäre auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken.

Zwar ist der unmittelbare Arbeitsaufwand dadurch oft größer, da aber viel Infrastruktur, die früher unausweichlich schien, heute nicht mehr erforderlich ist, wird dies durch Gewinne an anderer Stelle zum Teil wett gemacht. Ohnehin läuft vieles höchst ökoeffizient ab und braucht von daher weniger Arbeitsvermögen und Umweltraum.  Hochproduktive Werkzeugsysteme vor Ort und teilautomatisierte zentralere Fabriken greifen organisch ineinander über.  Es würde auch ökologisch völlig unsinnig sein, ökonomisch ohnehin, jedem größeren Wohnort seinen eigenen Hochofen zu verpassen oder daß jede größere Stadt ein eigenes Lokomotivwerk etabliert.  Es mußte also dezentrale und zentrale Struktur sinnvoll miteinander verwoben werden. Manche Technologie aus dem Mittelalter wurde weiterentwickelt und kombiniert mit Erfindungen aus dem Industriezeitalter und leitete so eine alternative Entwicklung ein. Die Wassermühlen, die Strom erzeugen, sind nur ein frühes markantes Beispiel dafür.

Wurde einst Bekleidung oft aus Baumwolle und chemischen Fasern hergestellt, so nutzt man heute in der Regel nur noch die heimischen Faserpflanzen für die Herstellung von Textilien.  Sie werden regional angebaut und verarbeitet.  In den traditionellen Anbauländern der Baumwolle wird diese selbstverständlich weiter angepflanzt, wo es die Wasserverhältnisse zulassen.  In Kasachstan und Usbekistan mußte der Anbau z.B. stark eingeschränkt werden, da die Bewässerung der riesigen Baumwollfelder und verschwenderischer Umgang mit dem Wasser zum großräumigen Eintrocknen des Aralsees geführt hatten, mit katastrophalen Folgen für die Menschen, die im Umfeld dieses riesigen Sees wohnten. ...

 

aus: Franz Alt, Rudolf Bahro, Marko Ferst: Wege zur ökologischen Zeitenwende