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Marko Ferst
Einzug in die Stille
(Leseprobe)
Angelika lernte Schneiderin, einen Beruf den sie mehr ergriff, weil
sie etwas auswählen mußte, als aus wirklichem Interesse. Sie
konnte darin bestenfalls Mittelmaß an Geschick erreichen. Der Betrieb,
in dem sie nach der Lehre arbeitete, stellte ein Sortiment an Bekleidung
her, das sich nur schwer in die Lieferketten, die nun westdeutsch geprägt
waren, plazieren ließ. Die technische Ausrüstung und der bauliche
Zustand mußten veraltet genannt werden. Zuweilen munkelte die Chefin
von Investoren, die vielleicht Interesse hätten, doch jede konkrete
Absicht zerschlug sich binnen weniger Wochen. So schloß die Produktionsstätte
anderthalb Jahre nach der 89er Wende ihre Tore für immer, und Angelika
und alle anderen Kollegen wurden an die frische Luft der freien Marktwirtschaft
gesetzt. Wie die Dinge lagen, blieb Schneiderei im allgemeinen ostdeutschen
Niedergang ein wenig gefragter Job und zeigte sich überdies als
uneinträglich. Arbeitsamtsflure lernte Angelika zur Genüge
kennen. Geschleust wurde sie durch wenig sinnvolle ABM-Maßnahmen,
Beschäftigungstherapie. Neue Arbeit fand sie später immer nur
für ein, zwei Jahre, dann ging die Formularbürokratie von neuem
los.
Während ihrer Lehre knüpfte sie Kontakt zu einer Arbeitsgruppe
Archäologie. Zufälle spielten eine Rolle, ihr damaliger Freund
kannte jemanden, der ihr den Kontakt vermittelte. Schon in der Schulzeit
interessierte sie sich für frühe Grabanlagen und die Geheimnisse
jahrhundertealter Gemäuer. Buch um Buch zu archäologischen
Themen gesellte sich in ihrer kleinen Wohnung dazu, mit dem sie mehr
Wissen über Ausgrabungen und ihre Ergebnisse anhäufte. Praktische
Erfahrungen kamen durch die Hobby-Archäo-logen und ihre Kontakte
wie Ausgrabungen vor Ort hinzu.
Da die Spur der Arbeitslosenzeiten über die Jahre nicht abreißen
wollte und als ihr erneut eine Kündigung übermittelt wurde,
wuchs der Zorn, aber auch die Einsicht, man müßte sich noch
einmal anders einrichten in diesem Leben. Herbert, einer der ältesten
und erfahrensten unter den Hobbyarchäologen, meinte: „Warum
studierst du nicht in Köln, du bist intelligent, du kannst das!“
Dank seinem Rat und seiner Kontakte, stellte sie sich in der Fakultät
vor, wurde angenommen und zog ein halbes Jahr später in die Rheinmetropole.
Das Studium schaffte sie mit Bravour. Zuverdienste in Gastwirtschaften
sicherten ihr neben dem Bafög die Existenz. Doch auch mit erfolgreichem
Diplom flogen ihr Arbeitsmöglichkeiten nicht ohne weiteres zu. Sie
zog zurück in die ostdeutsche Provinz, ein Fehler gewiß, aber
sie wollte auch ihren Freund Henrik, den sie vor zwei Jahren im Ort ihrer
Eltern kennengelernt hatte, nicht länger mit Wochenendbesuchen vertrösten.
Sie zogen zusammen in eine eigene Mietwohnung, richteten sich ein und
begannen ihr gemeinsames Leben.
Im Jobcenter hatte man nichts Besseres zu tun, als Archäologie mit
Besenkenntnissen in Verbindung zu bringen. Man drückte ihr einen
Ein-Euro-Job auf, verbunden mit der brieflichen Drohung die spärlichen
Tantiemen zu streichen, wenn dem nicht Folge geleistet würde. Konnte
man voraussetzen, daß Frau Pöhnl vom Hartz-IV-Amt Ahnung davon
hatte, wozu ein Archäologie-Studium befähigte, gerade frisch
diplomiert? Aber vielleicht hätte der Geist doch reichen können
für ein persönliches Gespräch? Wozu die Mühe! So
durfte sie den örtlichen Friedhof von Laubresten und anderem Unrat
befreien und auch den einen oder anderen Straßenzug vom Winterstaub.
Archäologische Funde ließen sich so eher nicht orten. Zu denken
gab dagegen anderes. Dem festangestellten Mitarbeiter für technisch-praktische
Arbeiten in der Gemeinde wurde mit den drei neuen Billigarbeitern die
Arbeitszeit gekürzt. Dank Hartz IV durfte dieser nun nur noch sechs
statt acht Stunden für die Gemeinde tätig sein und mußte
mit weniger Geld für sich und seine Familie auskommen.
Die amtliche Rechnung ging für Angelika nicht auf, ging sogar so
gründlich schief, wie sie es sich nicht hätte vorstellen können.
Einst verfehlte sie auf der Leiter eine Sprosse und stürzte nach
unten. Die Brüche am Fußknöchel heilten nicht gut und
manches Zipperlein blieb dauerhaft Gast. Mitunter gerieten Wanderungen
zu weit und zeitigten Folgen. Jetzt in Fegekünsten gefordert, meldeten
sich diese unschönen Begleiter schmerzstark. Und sie verschwanden
nicht wie sonst, sondern sie blieben. Irgend etwas riß in Knöchelhöhe
tief innen. Sie hinkte und es hörte nicht auf, wurde von Tag zu
Tag schlimmer. Erst in der Folgewoche, viel zu spät, reagierte sie
auf diese innere Verletzung. So beendete sie ihre jüngste Karriere
mit einem Krankenschein. Frohen Mutes wurde sie bei Orthopäden und
Chirurgen vorstellig und als nach vielen Wochen ein erstes MRT vorlag,
attestierte man ihr, alles sei in Ordnung, sie solle mal schön konservativ
den Fuß beüben. Operation wozu? Ihr war längst klar,
ohne operativen Eingriff konnte in dieser Situation nichts mehr ins Lot
kommen.
Angelika suchte sich neue Heilkundige, doch immer wieder hörte sie
nur ratlose oder gar wenig hilfreiche Auskünfte, währenddessen
sie bereits an zwei Stützen ging. Sie hatte sich ihre uralten Stützen
vom Dachboden der Eltern heruntergeholt. Ein Chirurg verstieg sich zu
der Frage: „Warum gehen Sie nicht arbeiten?“
Einmal ging sie einkaufen, nur wenige Meter zu Fuß. Schon ein halbes
Jahr zog sich ihre Schmerzodyssee hin. Unterwegs merkte sie währenddessen,
sie schafft den Weg nicht mehr zurück. Sie rief zu Hause an und
ihr Freund Henrik holte sie ab. Doch jetzt brach in ihrer gesundheitlichen
Lage ein viel gewaltigerer Damm. Am Abend wollte sie einen Brief an eine
Freundin weiterschreiben, doch sie konnte sich überhaupt nicht mehr
konzentrieren. Schon nach wenigen Minuten brannte und glühte ihr
Kopf, als ob sie in einen Fiberzustand hineinschriebe. In der Nacht zog
sich etwas vom Fuß bis zu den Knien hinauf, etwas wie dünne
heiße Stäbe auf beiden Seiten des Fußes, hinter den
Knöcheln beginnend. Selbst Schlaftabletten konnten keine Nachtruhe
anstoßen. So ging das drei, vier Tage, bis sich die Lage etwas
entspannte. Doch der Vorfall webte sich in den ganzen Körper hinein.
Die Konzentration blieb schwer gestört, ein Romméspiel zu
Silvester im Kreise der Familie gab sie entnervt auf. Sie merkte, wie
beim Lesen der regionalen Tageszeitung öfter die Hände zu zittern
anfingen.
Ü
ber drei Jahre ihres Studiums hinweg besuchte Angelika in Köln wöchentlich
einen Französisch-Sprachkurs. Auch nach ihrem Studium nahm sie noch
einmal an einem Intensivkurs teil, eine komplette Woche lang. Einen weiteren
Abendkurs brach sie kurz vor Ende ab. Sie konnte ihre Füße
nicht mehr stillhalten, und gerade bei schwierigen Grammatikübungen
hebelte ihr Nervensystem sie geradezu aus. Sie sah, wie sehr sie sich
damit selbst schädigte. Mit der Lehrkraft sprach sie über das
Problem, hielt noch ein paar Wochen durch und sah dann ein, so ging es
nicht. Den Kurs fortzusetzen wäre ein Martyrium.
Einige Monate waren ins Land gezogen und es kam noch schlimmer. Es geschah
während eines Krimis, er verlief ungewöhnlich spannend: Genau
das schien das Verhängnis heraufzubeschwören. Plötzlich
konnte sie weder sitzen noch stehen. Irgend etwas stach in einer Tour
an der unteren Wirbelsäule. Spannungsketten zogen sich durch weite
Teile des Körpers. Bei einem Gespräch im Einkaufszentrum tippte
sie mit beiden Krücken ständig auf den Boden und hob sie wieder
an, um sich überhaupt unterhalten zu können, die völlig
unnatürlichen Reaktionen des Körpers zu entspannen. In der
Notaufnahme des Krankenhauses wartete sie später drei lange Stunden
lang. Mehr als Psychopharmaka fiel der Ärztin nicht ein. Zwar ergab
das eine „Achterbahnfahrt“ besonderer Art, aber leider keine
Hilfe. Die Fahrt zum Krankenhaus war sinnlos, überdies gefährlich
in ihrem Zustand. Auf dem gelben Zettel las sie später die Diagnose
Panikattacke, deren psychologische Hintergründe sie im Internetlexikon
Wikipedia nachlas und zu dem Schluß kam, damit hat es ganz sicher
nichts zu tun.
Der Vorfall engte ihren Spielraum weiter ein. Ein Rockkonzert, das sie
mit ihrem Freund Henrik besuchte, mußte sie fluchtartig verlassen.
Er zeigte sich wenig begeistert davon: „Das wird immer toller mit
deiner ominösen Krankheit“, rief er ihr wütend hinterher.
Noch Tage danach ließ er sie seinen Unmut über das geplatzte
Konzert spüren. Keine drei Lieder konnte sie im Radio noch hören,
dann fing ihr Nervensystem an, den Aufstand zu proben, und der ging jedesmal
eindeutig zu Lasten der Delinquentin aus. Spannende Filme wurden nun
vollends zum Problem. Bewerbungen schrieb sie längst nicht mehr,
denn ihr war klar, in diesem Zustand ließ sich daran nicht im Traum
denken. Wenn wir gerade von Träumen reden, selbst in diesem Zustand
in der Nacht träumte sie sich mit Stützen inzwischen. So weit
hatte sich das Problem bereits in die Schichten ihres Unbewußten
eingelagert. [...]
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