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Marko Ferst
Arktische Begegnung
Der ständig finstere Winterhimmel in der Arktis zog allmählich
auf. Schon wurde die Sonnenkraft schwächer und schwächer. Die
Bärin suchte weit oben an einem geschützten Berghang eine geeignete
Stelle für ihr neues Quartier, in dem sie die langen Monate der
Nachtzeit verbringen würde. Eifrig kundschaftete sie den besten
Standort aus, testete an mehreren Stellen, prüfte. Erst als sie
sich sicher war, grub sie eine Vertiefung in den Schnee. Halb Höhle,
halb offen richtete sie sich ein. Den Rest besorgten die ersten Schneestürme
im polaren Winter. Bald lag ihr Quartier unter dickem neuen Schnee. Niemand
konnte sie mehr stören. Mit ihren Pranken formte sie ihre Höhle
weiter aus. Hier drinnen war es zudem längst nicht so kalt wie draußen
im klirrenden Frost. Ihr Körper wärmte das Innere. Nun rückte
eine neue aufregende Zeit auf die Bärin zu - das erste Mal in ihrem
Leben. Eines Tages tauchten zwei winzige Wesen auf, kleiner noch als
ihre eigenen Pranken. Mit ihrer schwarzvioletten Zunge schleckte sie
die Geburtsreste ab. Später rollte sich die Mutterbärin kreisförmig
zusammen. Vor ihrem Bauch entstand ein Raum aus Fell und Wärme.
Alsbald saugten die beiden Häufchen die fette Milch aus ihren Zitzen.
Noch konnten sie nichts sehen, wirkten wie völlig unbeholfene Knäulchen.
Doch mit jeder Woche wuchsen die Winzlinge Schub für Schub. Draußen
im dauernden Nachtdunkel fackelten die grünen Polarlichter. Als
lange Schlangen spukten sie umher, entfachten immer neue Gebilde.
Als der Frühling nahte, verwandelten sich die beiden immer mehr
in richtige Bären, sehr klein zwar noch, aber jetzt eindeutig erkennbar.
Und die Kinderstube aus Schnee geriet zuweilen zum Tollhaus. Sie hechteten
hintereinander her, stiegen der Mutter auf Kopf und Rücken, zwickten
sie an ihrem Stummelschwanz und trieben allerlei Schabernack. Es schien,
langsam wurde ihnen ihr weißes Quartier zu eng. Die Bärin
verspürte, es war an der Zeit neuen Robbenspeck zu schlagen. Viele
Monate fastete sie schon. Im vergangenen Herbst hatte sie die letzte
Nahrung verschlungen. Spürbar magerte sie mit jeder Woche mehr ab.
Die polare Dauernacht löste allmählich ihre Himmelszangen.
Die Frosttemperaturen sanken weniger tief. Das Weiß der Ebenen
und Schneewehen kehrte zurück in die Welt des Lichts. Die Sonne
stieg, wenn die Erde erneut sich selbst umrundet hatte, jeweils ein wenig
höher über dem Arktishorizont. An einer weißen Anhöhe
bewegte sich etwas unter der dicken Schneedecke. Ein kleines Loch bildete
sich. Plötzlich griff die Tatze der Eisbärin aus der Schneetiefe.
Ein schmaler Streifen Tageslicht drang ein. Ein paar Minuten später
lugte ein kleiner Eisbärenkopf mit braunen, knopfartigen Augen aus
dem weißen Schneehang. Schwupp tauchte er wieder ab. Ein wenig
später drängten gleich zwei Eisbärenkinder ihre Schnute
nach draußen. Aber beide zugleich paßten sie noch nicht durch
die enge tatzengroße Öffnung. Sie kabbelten miteinander und
der Stärkere knurrte ärgerlich. So ging es nicht, so sehr sie
sich auch mühten. Sie krochen zurück in die dunkle Mutterhöhle.
Die Bärin weitete den Ausgang und ragte nun mit halbem Körper
hinaus. Auch sie mußte sich an die lange vermißte Helle gewöhnen.
Die Mutter prüfte lange und aufmerksam die gesamte Gegend. Wehte
nicht irgendwo ein Geruch heran, eine Gefahr. Aber alles verblieb in
völliger Stille, nichts deutete auf Derartiges. Kurze Zeit später
wagte sich eine junge Eisbärennase erneut ans grelle Licht. Sie
schnupperte ein wenig von den ihr noch fremden, neuen Düften. Mit
einem Satz sprang das Kleine dann hinaus in die neue Schneewelt. Doch
was passierte nun? Es verlor den Halt. Unter viel Geschrei und Gebrumm
rutschte es auf seinen Tatzen den Hang hinunter, wollte bremsen, doch
es gelang nicht. Noch eine seitliche Rolle dazu, dann kam es unten an,
sprang sofort wieder auf und schüttelte sich kräftig. Noch überrascht
von der Rutschpartie, rief es nach der Mutter. Oben lugte der kleine
Kollege Nummer zwei aus dem Bau und bewunderte die Akrobatik seines Vorgängers.
Soll ich jetzt auch da runter?, fragte er sich. Er schüttelte den
Kopf und dachte gar nicht daran. Hier im Bäreniglu ist es doch auch
ganz angenehm.
Nach einer Weile deutete die Muttertatze an, der Ausgang da vorn sei
doch lohnenswert, schau doch mal, was es da draußen alles gibt.
So wagte sich auch der zweite Fellkamerad in die freie Natur. Aber er
testete vorsichtiger das neue Terrain. Mit kleinen Tapsschritten tastete
jener sich voran, prüfte, wo er sicheren Stand bekam. Doch dann
merkte er, auch mit ihm sollte es den Abhang hinuntergehen. Mit aller
Kraft klammerte er sich fest und wollte hinauf zur Höhle zurück.
Ein paar Schritte schaffte er wieder nach oben. Doch dann verlor er den
Halt und rutschte mit dem Hinterteil voran dem anderen Bärenkind
entgegen. Ein dicker hartgefrorener Eiszacken ragte auf, stand wie ein
Prellbock im Weg. Schrill jaulte das Kleine auf. Das tat weh!
Oben verließ auch die Bärenmutter das Winterquartier. Träge,
aber mit gekonnter Balance folgte sie ihren Kindern. Sie rutschte den
Hang auf dem Bauch hinunter und hatte ihren Spaß dabei. Unten richtete
sie sich auf, stand ein paar Minuten auf zwei Beinen und nahm die Gerüche
der weiteren Umgebung wahr. Aber alles schien in Ordnung. Die Alte drehte
mit ihren Kindern eine erste kleine Runde. Die schnupperten überall,
wo es etwas zu entdecken geben könnte, noch vorsichtig. Dann spielten
die beiden eine Runde Fangen. Einer biß den anderen ins Ohr, immer
wieder, bis der Reiz vorbei war. Dann tappten sie bald gemächlich
hinter der Mutter her. Oben segelte eine weiße Elfenbeinmöwe
und kehrte zum Eismeer zurück. Wieder angekommen in der Schneehöhle
hatten die beiden Weißfelligen richtig Hunger. Sie bettelten und
die Bärin ließ sie zu sich. So zapften sie mal an einer, mal
an einer der anderen vier Zitzen von der fettreichen Milch. Hernach fühlten
sie sich wohl und schliefen im weichen Fell am Mutterbauch ein. Auch
sie gönnte sich wohlverdienten Schlaf.
So ging es nun jeden Tag auf Erkundungstour in die weißen Landschaften.
Immer weitere Strecken pilgerten sie durch die Froststarre. Die kleinen
Rabauken mußten ans Laufen gewöhnt werden, damit sie bald
längere Touren meistern konnten, die Muskeln nicht zu schwach blieben.
Bei einem ihrer Ausflüge gelangten sie an einen eisbedeckten See.
Spiegelglatt und eben lag die Fläche vor ihnen. Zunächst mit
Bedacht strichen die beiden über das Eis, rutschten immer mal weg.
Da machte ihnen die Bärin vor, wie es geht. Einfach mal schlittern.
Elegant und ohne Patzer glitt sie über das Eis. Beim Nachwuchs haperte
es noch etwas am Stil. Man landete auf dem Hinterteil oder kippte zur
Seite weg. Beim Rangeln und Spielen gelangten die Bärenjungen wieder
in Ufernähe. Dort entdeckte einer der beiden einen kleinen Eisklumpen.
Er machte sich daran zu schaffen. Etwas festgefroren ließ er sich
nicht so einfach lösen. Doch das Bärenjunge gab nicht so schnell
auf. Dann versuchte sich das zweite daran. Irgendwann schepperte der
Eispuck über den gefrorenen See. Die beiden Bären stürzten
hinterdrein. Nun entfesselte sich eine wilde Jagd um den flinken Eisball.
Einer der beiden Weißen hatte die Nase zunächst vorn. Das
Schwesterchen speikte hinterher, konnte aber zunächst nicht mithalten.
Doch sie ließ nicht locker. Als das Brüderchen etwas außer
Atem innehielt, versuchte es den Anspruch auf das Spielzeug zu sichern,
indem es ihn mit dem Maul und Zähnchen festhielt und schnaufte.
Nur, warum mußte dieser Eispuck so kalt sein? Im rechten Moment
luchste das Schwesterchen jenes begehrte Teil ab und speikte dem Brüderchen
davon. Als die Bärin dem Treiben ihrer Kinder schon eine Weile zugesehen
hatte, raffte sie sich selbst auf und beteiligte sich an dem amüsanten
Hockeyspiel. Die Sonne zog schon immer weiter nach Westen, als sich alle
drei im Schnee am Ufer niederließen. Nach einer Milchmahlzeit plazierten
sich die beiden Spitzenspieler auf dem Fell der langgestreckt ruhenden
Mutter und hielten ein kurzes Nickerchen. Vor Einbruch der Dunkelheit
kehrten sie zu ihrem Abhang mit der Geburtshöhle zurück.
Einige Tage später hieß es für die Bärenfamilie
Abschied nehmen vom gewohnten Heim. Die Bärin brach auf zu jener
großen Wanderung, die auf das gefrorene Eismeer führen sollte.
Der Hunger nach Robbenspeck trieb sie. Sie zogen noch nicht lange in
nördliche Richtung, plötzlich schien der Bärin ein verdächtiger
Geruch an die Nase zu dringen. [...]
aus: Die Ostroute. Erzählungen
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