Die ökologische Matrix und der seelisch-kulturelle Wandel

 

MARKO FERST

 

Was würde es heißen, heute jenseits der Illusionen zu leben bzw. dorthin aufzubrechen? Wo kämen wir da hin? Wie sähe eine Gesellschaft aus, die sich jenseits von Illusionen verorten wollte? Auf welche Menschen träfen wir? Welche Irrtümer dürften wir uns leisten und welche nicht?

Einstweilen könnte es sich als Illusion herausstellen, die heutige Zivilisation würde sich von ihrer Fortschrittsgläubigkeit, der ihr eigenen Siegerpose noch einmal abwenden. Wir stehen in einem Wettlauf mit der Zeit. Aber die Uhren der meisten Menschen sind darauf nicht geeicht. Überall wird uns eingetrichtert, wie der richtige Gang der Dinge zu sein habe. Dabei können wir uns noch sehr pluralistisch geben. Doch die Gefahr steht auf der Türschwelle, ob wir sie nun verdrängen oder nicht. Die ökologische Weltkrise stellt unsere gesamte Gesellschaftsverfassung in Frage bis in die tiefenpsychologischen Strukturen hinein. In ihr bündeln sich "symbolisch" auch noch mal alle Ungerechtigkeiten der bisherigen Menschheitsgeschichte von den Kreuzzügen bis zum heutigen Nord-Süd-Konflikt, wie in einem überdimensionalen Prisma. Der biosphärische Rückschlag wäre das Finale. Wir müssen sehr viele Illusionen abstreifen, wenn wir eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz erhalten wollen.

Unsere Vorstellungen von der Welt sollen einigermaßen sinnvoll zueinander passen, aber es sind Bruchstücke, umgeben von vielen Unbekannten. Wir denken in Strukturen, die immer nur kleine Ausschnitte unserer Wirklichkeit erfassen können. Alles wird durch die verschiedensten Filter wahrgenommen. Es ist also eine ständige Aufgabe, die Distanz zwischen der tatsächlichen Wirklichkeit und der eigenen Wahrnehmung zu verringern. Erich Fried spitzte dies in dem Gedicht "Die lautere Wahrheit" auf den Hinweis zu, die Teilwahrheiten müßten sich miteinander auseinandersetzen, sonst entstünden daraus ganze Lügen. Unser heutiger Kulturkanon besteht aus sehr vielen ganzen Lügen bzw. halben Wahrheiten. Zumindest darf als zweifelhaft gelten, daß unsere modernen Verhältnisse weniger von gesellschaftlicher Verdrängung geprägt würden als früher, man könne weitgehende Fortschritte feststellen. Was an einer Stelle gewonnen sein mag an kritischer Reflexion, geht anderswo im Mainstream unter. Womöglich fehlt uns gerade dort Klarheit, wo sie am nötigsten gebraucht würde.

Erich Fromm hielt offenbar wenig davon, die Chancen für den Fortbestand der Menschheit zu überschätzen. In einem Fernsehinterview von 1977 zu seinem Buch "Haben oder Sein" meinte er, die Lage wäre fast hoffnungslos. Wir würden uns wie Bankrotteure in bezug auf die ökologische Dimension verhalten. Ebenso problematisch schätzte er die sich immer weiter vertiefende Kluft zwischen den reichen Industriestaaten und den ärmeren Ländern der Welt ein. Es sprächen sehr viele Argumente dafür, daß alles so weiter läuft wie bisher. Er räumte dem menschlichen Geschlecht eine Überlebenschance von ein bis zwei Prozent ein. Es steht zu befürchten, er könnte mit dieser Prognose recht behalten. Solange es aber noch eine Hoffnung gibt, meinte Erich Fromm, auch wenn sie noch so gering ist, muß man darum ringen, Alternativen zu sichten, und darf nicht aufgeben für sie zu kämpfen.
Mich überraschte die Schärfe seiner Illusionslosigkeit, weil ich sie in seinen Büchern so bislang nicht wahrgenommen hatte. Gewiß, die Hochrüstungsspirale und die daraus resultierende Atomkriegsgefahr mußten jeden kritischen Zeitgenossen in Aufruhr versetzen. Seine Aussagen in dem Interview verwiesen mich jedoch darauf, daß Erich Fromm meiner eigenen Auffassung zur ökologischen Problematik weit näher lag, als ich es bisher vermutet hatte.

Heute sieht man noch klarer wie damals, wenn man sich gründlich mit den Eckdaten des Treibhauseffektes, dem Ozonschwund, dem Artensterben und anderen weltzerstörerischen Faktoren befaßt, ohne eine grundlegende Transformation der jetzigen Kulturverfassung, werden die Chancen für eine dauerhafte Zivilisation verspielt. Man kann diese Aussage nun mit allerlei milderndem Beiwerk versehen, um ihr die Härte zu nehmen, ich fürchte aber, man betrügt sich und andere, indem man die globale Dramatik der Dinge vertuscht.

Sehr auffällig ist im Werk Erich Fromms, wenn man es von der ökologischen Perspektive her in den Blick nimmt, daß er bereits 1955 in seinem Buch "Wege aus einer kranken Gesellschaft", also lange bevor man eine Umweltbewegung im umfassenderen Range feststellen kann, eine massive Kritik an der Konsumorientierung des Menschen und der kapitalistischen Industriegesellschaft als ganzer vornimmt. Er hält fest, der konsumierende Mensch ist ein passiver Mensch, er hakt sich fest in einer Mentalität des Habens, und die Bedürfnisse entwachsen den realen Notwendigkeiten. Die übliche Art des Konsums führt dazu, daß wir niemals befriedigt sind. Erich Fromm schreibt: "Der Akt des Kaufens und Konsumierens ist zu einem zwanghaften irrationalen Ziel geworden, weil er zum Selbstzweck ohne Beziehung zum Gebrauch der gekauften und konsumierten Dinge oder zu der Freude an ihnen geworden ist. Den "letzten Schrei", das neueste Modell von irgend etwas zu kaufen, was auf dem Markt zu haben ist, ist Traum eines jeden, mit dem verglichen die echte Freude an seiner Benutzung völlig sekundär ist."

Dabei bestreitet Erich Fromm nicht, daß Grundbedürfnisse befriedigt sein sollten und dies in einer Weise, bei dem Konsum ein humaner Akt bleibt, aber er meint, es ist eine Scheinfreiheit, König im Supermarkt zu sein. Wir müßten den Zusammenhang zu den realen Bedürfnissen des Menschen wieder herstellen. Es sei eine Illusion, mit Hilfe des Konsums von immer mehr und besseren Dingen zu einem glücklicheren und zufriedeneren Leben zu gelangen. Die ständige Zunahme unserer Bedürfnisse schränke unsere Freiheit überdies ein, da wir mehr und mehr Lebensenergie aufwenden müssen, um diese Konsumsucht zu stillen. Sie ist ein Ausdruck innerer Ruhelosigkeit und der Flucht vor sich selbst.

Weiterführend könnte man sagen, eine Gesellschaft, die sich primär auf das Herstellen von Produkten konzentriert, die den potenzierten materiellen Aufstieg des Menschengeschlechts zum Dogma erhebt, baut im Grunde genommen seelische Pathologie regelrecht in ihr eigenes Planwerk ein. Generell kann man feststellen, die materielle Entwicklung erhielt immer Vorfahrt gegenüber der geistigen Entwicklung im Zivilisationsprozeß. Dieser Grundfehler spiegelt sich natürlich auch im Konsumstreben, das unsere heutigen Überflußgesellschaften prägt, wider.
Die Realität ökologischer Zerstörungsprozesse ist für den alltagsgestreßten Normalbürger bestenfalls am Rande der Hierarchie von Aufmerksamkeiten angesiedelt. Diese Wirklichkeit ist verdeckt von dem täglichen Gang zur Arbeit, den Besorgungen, die man zu tätigen hat, und der Spielfilm am Abend lenkt dann unser überschüssiges Bewußtsein ein weiteres Mal weg von Fragen, die die Gefahr mitführen, unangenehm zu sein. Wir sind umstellt von unserer selbstgeschaffenen Kunstwelt. Wir wollen nicht wissen, was da geschieht, die Motivation vieler Menschen ist eher auf Abwehr gepolt. Das ist offensichtlich der bequemere Umgang mit der Materie. Gewiß, tote Wälder im Riesengebirge, dort werden sie nicht abgeholzt, wer sehen will, der sieht. Schon schwieriger erfahrbar bleibt: Alle 90 Minuten ist im brasilianischen Regenwald ein Gebiet von der Größe Kölns abgerodet. Mit 3000 m² pro Sekunde vernichten wir global den Wald, mit 1000 Tonnen pro Sekunde erodiert der Boden. Erst aus einer zusammenhängenden Panoramaschau einer Vielzahl solcher Daten kommt langsam zum Vorschein, was da eigentlich auf uns zurollt. Dabei sei aber festgehalten, rein mit den verschiedenen messenden Rastern, kann man bestenfalls einige Grundrisse aufzeigen; nichtlinearen Entwicklungen, die schwer abschätzbar sind, kommt man so nur sehr begrenzt bei.

Offensichtlich hat das Wegsehen aber auch Umschlagpunkte. Wenn etwa das atomare Zwischenlager und das geplante Endlager gleich neben der Haustür liegen, sieht die Lage schon ganz anders aus. Wer schon mal im Wendland war, weiß, dort wo üblicherweise Gartenzwerge ihre Präsenz ausüben, kann man statt dessen auch auf Symbole der Anti-AKW-Bewegung stoßen. Die Bevölkerung trägt das. Auch wenn die Autobahn oder der Flugplatz dem eigenen Areal zu nahe kommen, bringt das zuweilen widerständigen Geist hervor. Aber Bürgerinitiativen aus Betroffenheit bleiben, so sehr sie eine Ausbruchsstelle sind und sich über den eigentlichen Anlaß erheben können, zunächst mal gefangen in der Logik des Ungenügens. Erich Fromm würde in ihnen sicher auch ein stückweit Rückgewinnen seelischer Gesundheit verorten. Dies ist unstrittig so. Aber wir müssen uns auch genauer anschauen, wie das gesamte Netzwerk der ökologischen Krise gefügt ist. Wir dürfen uns keine Illusionen über ihr Wesen zurechtschneiden. Es ist zu hinterfragen, mit welchen gesellschaftlichen Filtern betrachten wir dieses Phänomen.

Zunächst mal fällt auf: Umweltschutz ist nicht gleich Ökologie, und wer über Reparaturbetrieb an den Schwachstellen des Industrialismus hinausgehen will, der kann sich nicht zufrieden geben mit einem zusätzlichen Naturschutzgebiet oder verbesserten Grenzwerten für diesen oder jenen Gefahrenstoff, so sinnvoll dies als erste Hilfe sein kann.
Es ist notwendig zu erkennen, daß unsere technisch-industrielle Infrastruktur durchzogen ist von einem ganzen System selbstzerrstörerischer Nebenwirkungen. Man kann ganz offensichtlich nicht mehr davon sprechen, hier oder da wäre eine Korrektur erforderlich, sondern man muß diese Schattenlasten als umfassend verdrängte Realitäten anerkennen. Man richtete die Blicke immer nur auf die erreichten Vorteile und Bequemlichkeiten, auf das Plusmachen, aber der mitgeführte Ballast, da er häufig erst in die Zukunft verschoben auftritt, kommt in der Gesamtrechnung nicht vor.

Die fossile Energieproduktion, der schnittige Mittelklassewagen oder das neue Haus: Das alles ist universell verknüpft etwa mit dem Treibhauseffekt. Jeder Bundesbürger schickt jährlich ungefähr 12 Tonnen Kohlendioxid gen Himmel. Im Grunde gibt es kaum ein industrielles Produkt in dem nicht diese zerstörerische Folgewirkung eingebaut ist. Wir können ökoeffizienter produzieren, dies ist möglich und notwendig, aber wenn man das Thema gesellschaftliche Selbstbegrenzung nicht mit einbezieht, wird man mit den erforderlichen Reformschritten wohl auf halbem Weg stecken bleiben. Man könnte auch sagen und das wäre genauer: Man geht einen Schritt vor und zwei Schritte zurück. Guten Gewissens kann man und frau sich einreden, etwas getan zu haben für die Umwelt, und das ist auch so, aber weil man sich über das wirkliche Ausmaß der menschlichen Störkapazitäten gegen die natürlichen Gleichgewichte hinwegtäuscht, nehmen die Risikozonen nach wie vor zu.

Gewiß, bei der Erzeugung von Elektroenergie läßt sich ein großer Teil der Klimagase durch eine vollständige solare Energiewende und Sparpotentiale bei effizienterem Umgang vermeiden. Ökologisch rentabler können in allen Bereichen die Rohstoffe bis zum Fertigprodukt verarbeitet werden. Doch vielerorts lassen sich die Klimagase nicht verbannen. Bei der Herstellung von Metallen aller Art, von Glas, Beton oder auch Plaste bzw. anderen Folgeprodukten aus Erdöl wird bei den energetischen Umwandlungen Kohlendioxid unvermeidbar entstehen. Alle übrigen thermisch-industriellen Prozesse gehören dazu. Filtertechniken sind aussichtslos. Allein die Zementwerke setzen weltweit sieben Prozent der CO2-Gesamtmenge frei, und das bei einer jährlichen Zunahme der Weltproduktion von Zement um fünf Prozent.

Es fragt sich nun aber, all die Veränderungen für eine ökologische Zeitenwende, sind sie nicht eher technologischer und politischer Natur, und was will man mit Sozialpsychologie in diesen Zusammenhängen? Franz Alt schreibt: "Das Überleben der Menschheit hängt zum erstenmal von einer radikalen geistigen und seelischen Umkehr ab." Stimmt das? Oder was stimmt daran wie?

Immerhin beginnt jeder Akt der Veränderung im Materiellen mit einem Wandel des eigenen Denkens, der eigenen Einstellungen. Auf viele Veränderungen hat der Einzelne jedoch gar keinen Einfluß, und trotzdem liegt der Ausgangspunkt dafür immer im Bereich menschlichen Handelns.

Andererseits gilt, daß wir in einer Art Megamaschine organisiert sind. Die Bezeichnung stammt von dem amerikanischen Denker Lewis Mumford. Erich Fromm faßt dessen Auffassung, was Megamaschine bedeutet, folgendermaßen zusammen: "Er meint damit eine neue Form der Gesellschaft, die sich so radikal von der bisherigen Gesellschaft unterscheidet, daß die Französische Revolution und die Russische Revolution im Vergleich zu diesen Veränderungen verblassen: eine Gesellschaftsordnung, in der die Gesamtgesellschaft zu einer Maschine organisiert ist, in der das einzelne Individuum zum Teil der Maschine wird, programmiert durch das Programm, das der Gesamtmaschine gegeben wird. Der Mensch ist materiell befriedigt, aber er hört auf zu entscheiden, er hört auf zu denken, er hört auf zu fühlen und er wird dirigiert von dem Programm. Selbst jene, die die Maschine leiten - das muß man hinzufügen -, werden vom Programm dirigiert." Diese Ambivalenz zwischen der menschlichen Entscheidungsfreiheit und der Herrschaft vergegenständlichten Geistes wird immer mitzudenken sein, wenn man über den möglichen Wirkradius von der Arbeit des Einzelnen an sich selbst spricht. Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr weitgehend vom Gewinnprinzip gesteuert ist, das Marketing ist zum Teil bis in die Wertstrukturen des einzelnen Menschen verinnerlicht. Die eigene Entscheidung ist also eingebettet in strukturelle Einschränkungen, die jedoch nicht als ewig gegeben hingenommen werden dürfen.
Jede Veränderung der Gesellschaft beginnt im Menschen, hat dort ihren Vorlauf. Auch die Rettung vor den Folgen unserer heutigen zerstörerischen Lebensweise beginnt in der seelischen Arena jedes einzelnen. Mit den Umschaltungen in der Psyche gedeihen neue Keime, die heranwachsen können. Sie sind am Ende die einzige Hoffnung, mit der wir uns verbünden können. Dort liegen die Fundamente für eine gesellschaftliche Ordnung, die auf Herz und Geist gebaut ist. [...]