Auf den Spuren der Wolhyniendeutschen

Interview mit Lena Kelm

1993 zog Lena Kelm von Kasachstan nach Berlin. Ihre Vorfahren, arme deutsche Bauern, wanderten aus Ostpreußen und Schlesien nach Wolhynien in die Ukraine ein, als Zar Alexander die Leibeigenschaft aufhob. In ihrem Buch „Manchmal dauert ein Weg ein Leben lang. Vom Gulag nach Berlin“ zeichnet sie ihre eigene Lebensgeschichte nach und gibt Einblicke in das Schicksal der Wolhyniendeutschen. 1914 lebten noch rund 250.000 Deutsche in Wolhynien. Marko Ferst befragte die Autorin.

Sie wuchsen viele Jahre in „Berlin“ auf. Das Besondere: Als Berlin bezeichnete sich ein Stadtteil der kasachischen Kleinstadt Maikain, in dem Deutsche zwangsweise angesiedelt waren. Wie erfuhren sie, daß sie im GULAG gelebt haben?

Dass ich in einer GULAG-Abteilung geboren und bis 1953 lebte, erfuhr ich 2007 aus dem Internet. Mich quälte eine Frage: Wieso schwiegen Eltern und Lehrer darüber? Erst beim Schreiben fand ich die Antwort. Schweigen hilft beim Verdrängen der unangenehmen Erinnerungen. Ein anderer Stadtteil hieß inoffiziell „Schanghai“, da die Kasachen gewisse Ähnlichkeit mit Chinesen aufwiesen. Es gab keinen Stacheldrahtzaun, Spürhunde und bewaffnete Überwachung, man lebte „nur“ unter Spezial-Kommandantur.

Ihr Vater versteckte sich vor der stalinschen Geheimpolizei, lebte getrennt von der Familie, kam später in ein sibirisches Lager. Gab es je eine Wiedergutmachung oder Entschädigung?

Vaters Beschäftigung als Zimmermann für die Gold-Buntmetall-Gewinnung war Zwangsarbeit bis 1953 unter Kommandantur und auch danach gab es kein Rückkehrrecht in die Heimat. Von Wiedergutmachung war nie die Rede. Nach unserer Ausreise gab es irgendwann eine kleine Entschädigung, die sogenannte „Kommandanturskie“, für die die dort geblieben sind.

Viele ihrer Vorfahren und Verwandten kamen ums Leben …

Von Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts bis 1914 lebten meine wohlhabenden Vorfahren friedlich und glücklich in der deutschen Kolonie Solodyri. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden die Deutschen zum ersten Mal nach Sibirien deportiert. Unterwegs starben meine Großmutter, der Urgroßvater und Onkel. Meine Verwandten kehrten 1915 zurück, erlebten die Revolution 1917, den Knüppelbürgerkrieg von 1918 bis 1922, Enteignung, zwangsweise Kollektivierung, Repressalien. Es starben meine Großväter, der eine blieb nach dem Arrest 1937 verschollen. Meinem Vater gelang die Flucht aus Gefängnissen, danach jagten ihn Stalins Schergen fast ein Jahrzehnt durch das Land. Er überlebte die Jahre 1941 bis 1947 im GULAG hinter dem Polarkreis. Mutters Brüder verbrachten über zehn Jahre in Gefangenschaft. Das erzählten meine Eltern. Ich wuchs mit zwei Wahrheiten auf. In den Geschichtsbüchern kam unsere nicht vor.

Ihre Angst vor der Polizei verloren Sie erst in Deutschland. Woher kam diese?

Die Angst, als Deutscher wieder verhaftet zu werden, ließ meinen Vater bis zu seinem Tode nicht los. Meine Mutter sagte, angekommen in Berlin: „Erst hier habe ich keine Angst vor Polizisten“. Das Ausmaß der Angst meiner Eltern wurde mir dadurch bewusst. Ich hatte keine Angst. Umso dankbarer bin ich meinen Eltern für die behütete Kindheit.

Maikain liegt nicht weit vom Atomwaffentestgelände Semipalatinsk entfernt. Wie haben sie die Tests erlebt und was wissen sie über die gesundheitlichen Folgen vor Ort?

Das Polygon lag ungefähr 150 Kilometer entfernt. Ich erinnere mich an die Druckwelle unheimlicher Kraft, fliegende Stachelgewächse, den am Horizont wachsenden schwarzen Pilz und den strengen Offizier. Er befahl den hinter dem kleinen Hügel liegenden Menschen, Ruhe bis zum Ende der Militärübungen zu bewahren. Bis 1966 führte man überirdische Tests durch. Wir lebten im Regen von Strontium, Plutonium, Cäsium. Über die Ausmaße der Folge-Schäden erfuhr ich erst in Deutschland. Es gab keine Entschädigungen. Erst seit ein paar Jahren soll es sie in zwei benachbarten Rayons geben. Krebserkrankungen, Mutationen treten in diesen Regionen signifikant häufiger auf.

In Berlin stellten sie fest, manche Erfindung oder Geschichtsdaten stellten sich plötzlich anders dar, wie sie das als Lehrerin und Schuldirektorin bislang kannten?

Laut Schulbüchern der 50er bis 80er Jahre hat das Radio Popow, die Glühbirne Jablotschkow erfunden. Im Geschichtsunterricht wurde der Engländer Urkart als Pionier der Rohstoff-Gewinnung in Maikain seit 1913 nicht erwähnt. Die begann mit der Gründung der Kasachischen Republik 1922. Sowjetische pädagogische Ideen habe ich in Werken amerikanischer Pädagogen an der TU Berlin 1994 entdeckt.

Sie besuchten fünfmal die DDR und Berlin vor der Übersiedlung. Was begeisterte sie an der neuen Heimat und was an der alten?

Der erste Gedanke bei der Ankunft in Deutschland 1976 war: Hier bin ich nicht fremd. Er entstand durch das Gefühl der Sprache. Ich unterhielt mich zu Hause nur in meiner deutschen Muttersprache, in der war ich beheimatet. Die Reisen waren immer ein Abenteuer, die Korruption an den Moskauer Bahnhöfen, aber auch unvorhersehbare Vorfälle, die ich in meinem Buch beschreibe. In der DDR tauchte ich in eine völlig andere Welt ein. Hier gab es seltener Warteschlangen, weniger Hektik, nicht so oft Ware unter dem Ladentisch. Der Duft des Kaffees und der Seife fiel mir besonders auf. Liebgewonnen habe ich meine Verwandten, die die Sprache meiner Eltern gesprochen haben. Auch der russischen Sprache gilt meine Liebe. Nicht die „russischen Birken“ machten für mich Heimat aus, sondern die offenen, herzlichen Menschen.

In Russland und Kasachstan ist autoritäres Regieren noch immer in Mode. Was müsste sich kulturell ändern?

Den wunderbaren Völkern wünsche ich einen korruptsfreien Alltag. Dieser wird „von Oben“ bestimmt. Autoritäres Regieren kommt vom autoritären Lernen. Kommende Generationen sollten nicht nur wie die „neuen Russen“ Marktwirtschaft lernen, sondern das selbständige, demokratische Denken. Dafür benötigen sie Lehrmethoden, die diese Art von Denken fördern.

 

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