Das Lied der Ewigen Braut


TSCHINGIS AITMATOW gelang ein großer Wurf

Von Irmtraud Gutschke

Erst denkt man vielleicht: vertrautes Gelände. Wer die bisherigen Werke des kirgisischen Autors kennt, wundert sich nicht über einen Schneeleoparden, der ob seiner plötzlichen Kurzatmigkeit erschrocken und traurig ist. Man erinnert sich an das alte Pferd Gülsary, an die kluge Wölfin Akbara und weiß schon: Irgendwie werden auch hier Tier und Mensch zusammentreffen. »Auch diesmal vollzog sich das Unausweichliche jenseits menschlichen Denkvermögens und, einmal vollzogen, vielleicht auch jenseits göttlicher Absichten.« So heißt es schon auf der ersten Seite.
Das Fatum der alten Epen – dass Tschingis Aitmatows Werke diesbezüglich auch etwas Archaisches haben, dabei bleibt es. Und es bleibt auch bei der Sympathie des Autors für einen modernen Don Quichotte, wie es der Hirte Tanabai aus »Abschied von Gülsary« ebenso war wie der Streckenarbeiter Edige aus »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« oder der Priesterschüler Awdi aus »Die Richtstatt«. In diesem Roman nun ist es der Journalist Arsen Samantschin, den seine Bekannten einen unheilbaren Romantiker nennen. Wird auch eine kirgisische Legende ins Spiel kommen, wie eigentlich in allen Werken Aitmatows? Aber sicher doch …
Wie gesagt: vertrautes Gelände. Vielleicht noch etwas geschickter ausgeformt. Entschiedener, kraftvoller. Der Autor hat ohne Zaudern von Anfang an seinen Ton gefunden, überblickt das Ganze – wie ein Bergfalke aus großer Höhe – und wie ein Akyn oder Manastschi, wie einer jener Sänger und Erzähler, die über Jahrtausende die mündliche kirgisische Literatur prägten, hält er die Zuhörer in Spannung. Leicht und angenehm ist es für den Leser, ihm zu folgen. Doch allmählich gewinnt der bequeme Weg an Steigung. Und plötzlich ein Zwischengipfel mit Blick in schwindelerregende Abgründe. Geht es etwa jetzt noch weiter hinauf? Atemlos liest man, vergisst schon die Vergleiche mit bereits Bekanntem. Und wenn sie einem in den Sinn kommen, will es scheinen, als ob Aitmatow mit diesem Alterswerk eine neue Höhe stürmen wollte, als ob es die Krönung seines Schaffens sei.
Das ist natürlich ungerecht Früherem gegenüber, spricht aber für jene starke Wirkung, der man sich nicht entziehen kann, wenn man sich einmal auf Aitmatows Stil eingelassen hat. Eindringlichkeit, Pathos, Emphase – ein eigener Ton in der Literatur. Ein Empfinden, das fast opernhaft ist. »Musik des pulsierenden Universums«, Verwandlung durch Ekstase. Erleuchtung. Verklärung. »Das Schicksal schenkt es dir einmal und urplötzlich, das erotische Elixier aus dem Universum der Unsterblichkeit und Ewigkeit, den Glanz aus Geist und Leib.« Eine große Liebesgeschichte, ein Epos über die Verbindung von Mensch und Natur – und das in die unmittelbare Gegenwart gebracht mit ihren sozialen Problemen, die sich immer mehr zuspitzen. All das ist in diesem Roman.
Kirgisische Wirklichkeit konkret: Diktatur des freien Marktes. Von wegen Demokratie! Radikal, wie man es von einem Diplomaten bei der Europäischen Union eigentlich nicht erwarten würde, rechnet Aitmatow mit dem Raubtierkapitalismus und der Globalisierung ab, die die Umverteilung lediglich beschleunigt. »Die Reichen haben mehr Geld, als ein Ozean fasst, und die anderen so viel Armut, dass sie in keinen Ozean passt.« Das sagt ein einstiger Schulkamerad von Arsen Samantschin, der ihn zu einer wahnwitzigen Tat überreden, besser gesagt, erpressen will. »Wir sind keine Terroristen, wir holen uns unseren Anteil des Weltkapitals, nicht mehr und nicht weniger.« Da sieht man hinter dem Mann aus dem kirgisischen Bergdorf plötzlich Millionen, Milliarden stehen, Menschen verschiedener Hautfarben, verzweifelt alle und bewaffnet. Prophetie, die Angst macht. »Duinö ordundaby? Steht die Welt noch?«, wie der Akyn singt. Oder ist schon alles aus den Fugen und wir täuschen uns nur?
Die Geschichte in groben Zügen: Arsens Onkel, einst Kolchosvorsitzender, hat eine Jagd-Firma auf die Beine gestellt, die betuchten Leuten zu Abenteuern und Trophäen verhilft. Für ein ganz besonders großes Geschäft hat er seinen Neffen als Dolmetscher und »Tour-Manager« engagiert: Zwei arabische Prinzen sind bereit, wer weiß was zu zahlen, um Schneeleoparden zu erlegen, wie sie in vier- bis fünftausend Metern Höhe im Tienschan noch zu finden sind. Arsen, in dem Moment fast irrsinnig vor Liebeskummer – die Opernsängerin Aidana hat ihn verlassen um einer Popkarriere willen –, wird mit der Fahrt in sein Heimatdorf alles Bisherige hinter sich lassen. Ihm wird das Geschenk einer Liebe zuteil, die nun wirklich in Versalien zu schreiben ist. Und er muss sich entscheiden auf Leben und Tod.
Im russischen Original heißt der Roman »Die Ewige Braut« – nach einer Legende, die sich in Arsens Gedankenwelt eingenistet hat, aber für den Leser auch etwas Objektives gewinnt. Eine Frau, verdammt auf ewig im Gebirge umherzuirren und ihren Geliebten zu suchen, der sich zu Unrecht von ihr verraten glaubt. »Wo bist du, wo bist du, ich eile zu dir?« Es ist ein herzzerreißendes Lied, ein Flehen, eine Hilflosigkeit, die uns im Mitgefühl erschaudern lässt: Denn der klagende Schatten weiß nichts von seiner Macht, über seinen Schmerz hinaus ein Gebot zu sein, das über allen Menschen steht, ob sie ihm zu folgen vermögen oder nicht.
Was Aitmatow bezüglich seiner Novelle »Der weiße Dampfer« von engstirnigen Kritikern vorgeworfen wurde – der Mythos führe ihn zu einem Entweder-Oder, wohingegen das Leben immer wieder Auswege biete – hier wird diese Denk- und Gestaltungsweise mit der Wucht einer antiken Tragödie von ihm noch einmal ganz bewusst eingesetzt.
Geradezu ein Juwel ist das Fragment einer Erzählung, das den Epilog bildet und in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückführt, die in diesem Roman ansonsten keine Rolle spielt, aber für die Kindheit des Autors prägend war. »Töten – Nicht töten« steht Aitmatows früher Novelle »Aug in Auge« gegenüber, nimmt lange für selbstverständlich Gehaltenes auf und deutet es neu.
Und noch ein Gedanke hat mich begleitet: Vom ersten Wort bis zum letzten habe ich, wie früher so oft am Telefon, die Stimme des Aitmatow-Übersetzers Friedrich Hitzer gehört, mitreißend leidenschaftlich, in überschwenglicher Freude auch, dass dem 79-jährigen Autor, der als Botschafter der Republik Kyrgyzstan in Brüssel lebt, noch einmal so ein großer Wurf gelungen ist. Friedrich Hitzer aus Wolfratshausen, politisch engagierter Publizist, ist Aitmatows Freund, sein Inspirator und, auf seine Weise sogar, Mitautor gewesen. Auf einer ausgedehnten Lesereise durch mehrere deutsche Städte wollte er ihn begleiten. Am 15. Januar ist er gestorben. Man sagt, er habe gegen Mittag diese Übersetzung beendet, und als er am Abend schlafen gehen wollte, sei er in der Bewegung erstarrt.

Tschingis Aitmatow: Der Schneeleopard. Roman. A. d. Russ. v. Friedrich Hitzer. Unionsverlag. 320 S., geb., 19,90 EUR.

Neues Deutschland, 21.03.07


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