Die Ideen für einen "Berliner Frühling" in der DDR

Die sozialen und ökologischen Reformkonzeptionen von Robert Havemann und Rudolf Bahro

Marko Ferst

 

(Der Beitrag soll später einmal in einer neuen Fassung veröffentlicht werden. Insbesondere die erste Hälfte wäre gründlich neu zu bearbeiten. Die Fußnoten wurden in die Internetfassung nicht übernommen.)

1. Einleitung

In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, auf welche gesellschaftlichen Modelle hin die beiden schärfsten Kritiker des DDR-Regimes, die zugleich trotzdem sozialistische Optionen verfolgten, ihre Reformvorstellungen ausrichteten. Wie sollte die DDR nach einem "Berliner Frühling" aussehen, und welche Schritte wären dahin zu vollziehen gewesen? Insbesondere bei Havemann verzahnt sich die Suche nach einem DDR-Sozialismus mit menschlichem Antlitz sehr eng mit Fragen einer ökologischen Zukunftsgesellschaft. So stellt sich damit automatisch die Frage, was reicht in den Konzeptionen der beiden Kritiker über die DDR hinaus? Welche gesellschaftlichen Systemvorstellungen kommen neu auf? Man wird sehen, daß diese sich mit der Wende von 1989 in der DDR und dann im ganzen Ostblock nicht erledigen, im Gegenteil. Bei Bahro kann auch noch mal reflektiert werden, welche Folgerungen er aus dem Anschluß der DDR zieht. Havemann stirbt bereits einige Jahre vorher. Beide Kritiker bleiben bis ans Lebensende kommunistisch orientiert, Bahro will Kommunismus, Ökologie, spirituelle Weitsicht und seelische Größe zusammenbringen. Beide sehen in der ökologischen Herausforderung die Dominante für Weltveränderung und eine rettende Politik. Bahro betont in den Jahren nach seiner Ausreise aus der DDR ein universelleres Weltverständnis, in dem der kommunistische Zugang nur noch ein Teil einer umfassenderen Sicht ist. Er war in jedem Fall auf der Suche nach einer neuen Legierung des Ganzen.
Herangezogen wurden für diesen Beitrag insbesondere alle veröffentlichten Bücher der Autoren, soweit sie für die Fragestellungen von Belang waren. Sowohl bei Havemann existieren einzelne Zeitungsbeiträge, aber mehr noch bei Bahro gibt es sehr zahlreiche Wortmeldungen in der Presse etc., die hier nicht mit herangezogen werden konnten. Bei Bahro kommt hinzu, daß es über 80 Vorlesungen gibt, die vom Band abgeschrieben worden sind, die jedoch noch in einem Zustand sind, der nicht publikationsfähig ist. Derzeit gibt es auch noch keinen Zugriff darauf.

2. Für ein demokratisches Staatswesen

Havemann will in der DDR Opposition durch Oppositionsgruppen oder Oppositionsparteien zulassen. Er geht davon aus, die Wahlprozeduren müssen gänzlich geändert werden, macht die vorgefundene Situation zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Für jedes Mandat in der Volkskammer wären mehrere Kandidaten aufzustellen. Die Wahlentscheidung solle nicht nur zwischen der einen oder anderen Partei möglich sein. Es müsse mindestens auch die Wahlmög-lichkeit zwischen mehreren Personen geben. In Grunde geht Havemann hier bereits über das westdeutsche Wahlsystem hinaus, berücksichtigt Forderungen, wie man sie bei dem Parteienkriti-ker Hans Herbert von Arnim findet. Havemann meint generell, ersetzt werden müsse die stalini-stische Struktur des Staates durch einen modernen demokratischen Überbau.
Schluß sein müsse damit, der weise Staatsapparat wählt die Personen aus und stellt sicher , daß die Kandidaten der nationalen Front zu 99 Prozent gewählt werden. Wir brauchen keinen "de-mokratischen Zentralismus", der sich in einen Zentralismus ohne Demokratie verwandelt habe. Er empfiehlt dann auch, die Diskussion, wie mehr sozialistische Demokratie erreicht werden kann, massenhaft zu führen im privaten Freundeskreis, in den Betrieben, der Partei und anderen Massenorganisationen, an den Schulen und Universitäten. Dies sei überhaupt das Wichtigste, was in der DDR politisch zu bereden wäre, so wie sich die Lage mit Anbruch des dritten Jahrzehnts dieses Staates darstelle.
Havemann spricht bereits in einer Vorlesung von 1963 davon, die Menschen dürfen in der DDR nicht konfektioniert werden, man darf sie nicht den behördlich genehmigten Ansichten unterwerfen. Dies würde zu oberflächlichem und schematischem Denken führen. Dagegen müsse durch umfassende Informationen immer mehr qualifiziert werden, damit Zusammenhänge besser von den Menschen verstanden werden können. Warnend fügt er hinzu, wer die Folgen einer umfassenden uneingeschränkten Information fürchtet, zieht dadurch gerade unheilvolle Entwicklungen an, statt sie abzuwenden. Echte Freiheit der Meinungsbildung, die darauf beruht, daß man sich frei äußern kann, was ein Wesenszug der Demokratie ist, müsse gesichert werden.
Für die Volkskammer ist ein anderer Verhandlungsstil einzuführen. Die Abgeordneten hätten in freier Rede ihre Gedanken auszuführen. Dies sollte offen und ungeniert geschehen und keine Strafen nach sich ziehen. Fertige Manuskripte, die vorher geprüft und genehmigt werden, sind nicht zeitgemäß. Jeder kleine Schritt zu mehr Eigenständigkeit im Denken und Handeln der Ab-geordneten verleihe dem Parlament mehr Würde und Ansehen. Havemann fordert, es müsse in der DDR die wirkliche Freiheit der Presse hergestellt werden und Schluß sein mit einer Presse, die ganz mangelhaft informiert. Notwendig wäre nicht unbedingt, in der DDR dieselben Zeitungen erscheinen zu lassen wie in der Bundesrepublik oder anderen westlichen Ländern, geboten wäre aber, eigene Zeitungen anzubieten, die frei informieren können.
Zur schrittweisen Entspannung der politischen Verhältnisse in der DDR unterbreitet Robert Havemann eine Reihe Vorschläge. Z.B. durch die Absenkung des Alters für Westreisen soll all-mählich die Mauer zwischen Ost und West für DDR-Bürger durchlässiger werden. Auswanderung muß legal möglich sein. DDR-Bürger dürfen bei Reisen nicht mehr auf die Geldbörsen der Westverwandten angewiesen sein. Die Einnahmen durch Besucher aus westlichen Staaten in der DDR beim Zwangsumtausch sollen den eigenen Bürgern im Staat für ihre Reisen zur Verfügung stehen bei einem gerechten Umtauschkurs. Zu amnestieren sind alle politischen Gefangenen einschließlich der Grenzverletzer. Diese Schritte, so kann man aus Äußerungen in seinen Büchern schließen, sind zunächst mal als ein Anfang gedacht gewesen. Gerade die Reisefreiheit wird zur Wendezeit 1989 schnell zu einem zentralen Thema.
Weder Robert Havemann noch Rudolf Bahro wollten in der DDR eine Parteienherrschaft nach westlicher Spielart etablieren. Ein nur marginal auf den Wirtschaftsprozeß Einfluß nehmendes Parlament, das im Grunde die Herrschaftsstrukturen der etablierten Plutokratie nicht in Frage stellt, schien beiden mehr eine Farce zu sein, statt lebendige Demokratie. In jedem Fall existiert für sie in den westlichen Staaten ein zu begrenztes Demokratiemodell. Darin treffen sie sich im Grunde mit den Kritikern auf der anderen Systemseite, wie etwa Erich Fromm, der demokratische Strukturen auch für den Bereich der Wirtschaft forderte.
Bahro erschien reale Demokratisierung als Voraussetzung der ökonomischen Emanzipation der Massen. Selbstverwaltung könnte von unten in die Institutionen hineinwachsen. Die Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse der Gesellschaft müssen demokratisiert werden, aus den Klauen des hierarchischen Apparats herausgeführt. Die Wahrung der Menschenrechte und die Einführung politischer Demokratie sind wichtig, doch zentraler ist für ihn, daß man eine Aufklärungsbewegung zustandebringt, die den langfristigen Kampf um eine neue Gesamtpolitik führt. Für Bahro ist es völlig unzureichend, davon auszugehen, es müßte nur eine neue Opposition die Macht in die Hände bekommen, damit man zu einer emanzipatorischen Gesellschaftsentwicklung gelangt. Eine Oppositionsbewegung sollte auf das Vertrauen bauen, langfristig wächst ihr Einfluß, und sie wird irgendwann die Möglichkeit gewinnen, sich ungehindert selbst zu verständigen und organi-satorische und öffentlichkeitswirksame Möglichkeiten allmählich erweitert gebrauchen können. Mit Hilfe von Verfassungstexten und UNO-Resolutionen könnte sie versuchen die politische Polizei in ihren Repressionsgelüsten, soweit wie das möglich ist, zu bremsen.
Zunächst geht er davon aus, daß diese Schritte von einer kommunistischen Opposition gegangen werden, die ähnlich wie in der Tschechoslowakei 1968 bis zur Spitze der Staatspartei durchdrin-gen kann und in ihr Mehrheiten gewinnt, wobei sie auf Unterstützung aus der Bevölkerung bauen kann. Später sieht er auch in der Opposition, die sich im kirchlichen Bereich der DDR entwickelt, Chancen. Generell will er der Geschichte nicht vorschreiben, welche Optionen sich jeweils durchzusetzen hätten. Auffällig ist aber, daß Havemann in Fragen der Demokratieentwicklung in der DDR sehr viel konkretere Vorschläge macht und diesen Punkt deutlich stärker betont als Bahro.

3. Charakterisierung der spätstalinistischen Systeme

Die Ordnungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts teils das mittlere und das östliche Europa prägten, im Speziellen auch die DDR, charakterisiert Havemann als sozialistischen Feu-dalismus und schränkt zugleich ein, dies sei eigentlich eine widersinnige Bezeichnung. Man habe einen Staat mit absolut pyramidaler Hierarchie. An der Spitze stehe ein Mann mit fast absolutisti-scher Herrschaftsmacht. Darunter gibt es stufenförmig einander untergeordnete Herrschaftsebe-nen, und dann spielt er mit dem Begriff Feudalismus. Diese Ebenen würden belegt von "Großfürsten, Fürsten, Grafen und Landvoigten".
In der DDR sieht Havemann das Diktat einer Clique von Parteifunktionären am Werk, eine Par-teibürokratie. All dies habe nichts mit dem Theorem von der Diktatur des Proletariats zu tun. Die Bevölkerung habe gar kein Interesse, diktatorischen Zugriff auszuüben. Ganz analog spricht Bahro von einer Diktatur des Politbüros, in dem er eine verhängnisvolle Übersteigerung des bürokratischen Prinzips sieht. Der gehorchende Parteiapparat sei Kirchenhierarchie und Überstaat in einem und würde als Struktur quasitheokratisch funktionieren. Bahro nutzt tatsächlich diese Terminologie. Er spricht dann auch weiter von Inquisition. Die Tendenz, diese auszuüben, habe die Partei, die selbst schon wie eine politische Polizei funktioniere. Die geistige Gewalt, die der Parteiapparat im Lande ausübe, käme einem säkularisierten Gottesstaat gleich. Die Parteiobrigkeit beansprucht den Status göttlicher Allwissenheit für alle grundlegenden Entwicklungsfragen der Gesellschaft. Havemann meint, wenn die meisten Menschen im Staat davon abhängig seien, was eine winzig kleine Gruppe entscheidet, so ist dies kein sozialistisches System.
In der DDR wurde nach Bahro der Bürokratismus die Existenzform einer großen Gruppe von Menschen mit ausgeprägten Sonderinteressen. Sie haben sich fest in den verschiedenen Rängen um den Machtapparat eingerichtet, der Bürokratismus ist nicht eine degenerative Erscheinung, sondern längst eine Form für sich.
Problematisiert wird von Havemann, es gäbe in jedem hierarchischen System Menschen, die an-dere beherrschen wollen. Besonders die Deutschen hätten die Methode des nach oben Strebens, des über anderen Stehens zur Perfektion ausgebaut. Nach oben würde gebuckelt und nach unten getreten. In der DDR habe sich tendenziell ein System aus Karrieristen und Speicherleckern, von Duckmäusern und Lobhudlern herausgebildet. Da diese Verhaltensweisen Erfolg versprechen, könne man sie so oft antreffen.

4. Die politökonomischen Probleme

Als Problem formuliert Bahro, die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln führte nicht zu realem vom Volk verfügten Eigentum. Statt dessen steht die ganze Gesellschaft eigentumslos ihrer Staatsmaschine gegenüber. Die Produktionsverhältnisse beschreibt Havemann als staatsmonopolitisch, von sozialistischem Anstrich könne keine Rede sein. Dabei würde der Staatsmonopolismus im Kapitalismus vermutlich effektiver funktionieren als in den polit-bürokratischen Ländern, in denen elementare demokratische Verkehrsformen fehlen.
Havemann hält es für notwendig, daß die Werktätigen alle Rechte des Eigentümers erhalten. Durch sie würde bestimmt werden, wie der Gewinn des Unternehmens zu verwenden wäre. Zugleich will er die Werktätigen entscheiden lassen, wieviel an Produktionsanlagen erneuert, ergänzt und erweitert werden soll. Gleiches gilt für die Frage, wieviel finanzielle Mittel man für die Einführung neuer Technologien, zur Erweiterung oder Spezialisierung des Sortiments der erzeugten Produkte und für soziale Einrichtungen sowie kulturelle Leistungen aufgewendet werden sollen. Bestimmt werden muß überdies wieviel die Arbeiter zum eigenen Verbrauch erhalten. Klar markiert Havemann, bei diesen tiefgreifenden Veränderungen ginge es um eine endgültige Wandlung von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Produktionsweise. Dies erfordere auch vielfältige und strukturelle Umwälzungen im gesellschaftlichen Überbau. Mit solchen allgemeinen Aussagen am Schluß bleibt er dann aber stehen, sieht die Umwälzungen nicht mit einem vorgefaßten Plan vollziehbar, sondern betont, es ginge um einen permanenten Prozeß.
Wie bricht man nun aber die gesellschaftlich verfestigten politökonomischen Strukturen auf? Auch Bahro beschreibt sehr genau: Die monopolistische Verfügung über den Produktionsapparat, über den Löwenanteil des Mehrproduktes, über die Proportionen der Wirtschaftsentwicklung, über Verteilung und Konsumtion führte zu einem bürokratischen gesellschaftlichen Mechanismus, der im Produktionsprozeß jede subjektive Initiative abtötet oder auf private Interessen lenkt. Zudem schaltet und waltet der Apparat mit den von den Werktätigen erarbeiteten Werten häufig in sehr verschwenderischer Weise, oft gehen durch Schlamperei und chaotische Wirtschaftsorganisation gigantische Ressourcen verloren.
In seinem "Spiegel"-Interview zum Erscheinen seines Buches "Die Alternative" verdeutlicht er, die östlichen Gesellschaften lassen der "natürlichen" menschlichen Trägheit und Nachlässigkeit mehr Raum als der Kapitalismus. Die Arbeitsintensität und Arbeitsdisziplin ist niedriger. Diese Situation findet man nicht nur in den Betrieben und Büros vor, sondern auch in den oberen Etagen der Gesellschaft. Die tendenzielle Interesselosigkeit gegenüber den Aufgaben in Betrieb und Gesellschaft tritt bei den Werktätigen, Bürokraten und Spezialisten gleichermaßen auf. Zwischen Aufwand und Ergebnis bei den Produktionsprozessen oder gesellschaftlichen Maßnahmen ist zumeist ein charakteristisches Mißverhältnis festzustellen.
In einem in zwei Bänden 1980 dokumentierten Gesprächsaustausch mit Ernest Mandel und Peter von Oertzen in der Bundesrepublik hält Bahro fest, zwar sei die DDR-Ökonomie neben der tschechischen die funktionsfähigste im ganzen Ostblock, jedoch gibt es einen erheblichen Anteil von ständigem und zudem eingewöhntem Produktionsverlust. Gearbeitet würde ständig etwa 20 Prozent unter der möglichen Kapazität, die herauskommen würde, wenn man unter kapitalistischer Verwaltung mit den selben Maschinen arbeiten würde. Kapazitäten würden nicht ausgelastet, weil Maschinen nicht ausreichend gewartet würden, Ersatzteile nicht besorgt werden können etc.. Dieser Ineffektivitätsfaktor nimmt langsam zu. Problemverschärfend wirkt sich aus, die DDR ist an den uneffektiver laufenden Wirtschaftsmechanismus der UdSSR gekoppelt, der sehr viel schwerfälliger funktioniert.
In einem Essay nach der 89er Wende beschreibt Bahro am Beispiel der Militärtechnik, er bezieht sich auf eine Begebenheit mit einem russischen und amerikanischen Flugzeugträger, wie hoff-nungslos unterlegen die sowjetische Technik gewesen sein dürfte. Der sowjetische Flugzeugträger hatte massive Schwierigkeiten, seine Flieger starten und landen zu lassen und soll sich beim Lan-devorgang vom Feind helfen lassen haben. In der Wirtschaft verschwanden oft ganze Ladungen moderner Investitionsgüter für Jahre und vergammelten einfach.
Bei Bahro werden wir jedoch nie erfahren, welche strukturellen Veränderungen oder erst mal Ideen, die politökonomische Verfahrenheit der östlichen Gesellschaften überwinden helfen könnte. Allein ein emanzipatorischer ausgelegtes Bildungssystem, weniger Subalternativiät und das Aufbrechen der alten Arbeitsstrukturverhältnisse hätten dies mit Sicherheit nicht leisten können. Aber es gibt einen aufschlußreichen Hinweis von ihm, warum er sich damit nicht beschäftigt, der 1984 in dem Buch, in dem die Beiträge zur Politik der Grünen dokumentiert sind, auftaucht. Er meint, betriebliche Selbstverwaltung sei nur möglich in überschaubaren sozialen Einheiten. Dies habe auch das Scheitern des jugoslawischen Modells der Selbstverwaltung gezeigt, wo in einem hierarchischen System formell das Eigentum vergenossenschaftet wurde. Selbstverwaltung sei in der gegebenen Technostruktur des Industriesystems nicht realisierbar, dieses Fazit kann man bei Bahro erkennen, und das geht auch in die späteren Konzeptionen ein.
Havemann zieht sich da etwas intelligenter aus der Affäre. In seiner Sozialutopie vom künftigen ökologischen Kommunismus wird die meiste Arbeit automatisiert sein, die niemand übernehmen will. Also stellt sich das Problem einer anderen Politökonomie nicht mehr so dringlich. Allerdings ist stark zu bezweifeln, daß dieser Weg im Kontext der weit überrannten ökologischen Bela-stungsgrenzen gangbar ist. Gewiß setzt Havemann eine sehr selbstgenügsame Lebensweise voraus. Betrachtet man die ökologischen "Rucksäcke", also alle Nebenbelastungen, die entstehen, so spricht einiges dagegen, alle Güter in automatisierten Fabriken herzustellen und dann dazu noch so extrem zentralisiert, wie er sich das vorgestellt hat, schon wegen der Transportwege. Die Un-terschiede in den Lösungsansätzen zwischen Bahro und Havemann in diesem Punkt, werden hier noch zu diskutieren sein.
Die Frage nach wirklichem Volkseigentum nach einer emanzipatorisch sozialistischen Politöko-nomie, die nicht nur eine Propagandalüge der herrschenden Politbürokratie und ihrer willigen Wissenschaftsvollstecker darstellt, kommt durch Glasnost und Perestroika ab 1985 in der So-wjetunion noch mal für kurze Zeit auf die Tagesordnung. Natürlich passiert dies nur ganz rudi-mentär. Auf dem Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR im Sommer 1989 stellt Michail Gor-batschow fest, die Gesellschaft soll Eigentümer des Volksvermögens bleiben. Der Hauptteil dieses Eigentums wird den Arbeitskollektiven und Einzelpersonen in verschiedenartigen Pachtverträgen zur Verfügung gestellt. Sie übernehmen dafür die volle Verantwortung für den Produktionsprozeß. Gegenüber dem Staat gehen sie bestimmte ökonomische Verpflichtungen ein. In der Rede wird nicht weiter ausgeführt, wie diese aussehen sollen. Die Arbeitskollektive sollen mit eigenen Mitteln und Krediten wirtschaften und ihre Waren auf dem Wirtschaftsmarkt austauschen. Ihre Einkommen bestimmen sich aus Ergebnissen der eigenen Arbeitstätigkeit. Diese knappen Hinweise zeigen, man dachte in dieser Zeit im sowjetischen Machtzentrum durchaus über einen grundsätzlichen Bruch in der bisherigen Eigentumsordnung der spätstalinistischen Systeme nach. Freilich werfen die Absichten jede Menge Fragen auf, wie man dazu hätte konkret kommen wollen und welche Verwerfungen durch diese Umstellung dann hätten entstehen können.
Bei Bahro und Havemann wird man da keine weitergehenden Reformvorschläge finden. Die sozialen Degradationen, die im Zuge der Auflösung der Sowjetunion entstehen, natürlich an die vormaligen maroden Zustände in der Wirtschaft nahtlos anknüpfend, können ganz sicher nicht als akzeptable Lösung im Sinne der damaligen Gorbatschowschen Absicht angesehen werden. Gerade in der ehemaligen Sowjetunion blieb die absolute Mehrheit der Bevölkerung auf der Strecke, und nur ganz wenige konnten sich die Taschen mit Geld füllen. Es entstand eine ganz widerliche Form von Mafiakapitalismus. Gerade in Rußland und anderen GUS-Staaten wäre es interessant gewesen, mit anderen politökonomischen Regularien als in den kapitalistischen Industrieländern zu versuchen, die schlimmsten gesellschaftlichen Entgleisungen im Bereich sozialer Extremlagen abzuwehren.
Eine emanzipative Sozial- und Eigentumsverfassung bleibt als Herausforderung für eine Ordnung, die auf Herz und Geist gebaut sein soll, wie Bahro das nennt, bestehen. Dafür die besten realisierungsfähigen Ideen für Gesamtgesellschaften im globalen Netzwerk zu entwerfen, bleibt nach wie vor Nobelpreisverdächtig.

5. Allgemeine Emanzipation

Rudolf Bahro sieht den Weg zu einer emanzipatorischeren Gesellschaft über eine kulturelle Revolution führen. Die Individuen sollen von ihren sozial bedingten Entwicklungsschranken befreit werden. Es geht darum, die Daseinsform und Denkweise "kleiner Leute" zu überwinden. Damit verknüpft ist die massenhafte Überwindung der damit verbundenen Bedürfnisrichtung und -struktur. Einhergehend müssen die gewohnten Institutionen und Verfahrensweisen in der Gesellschaft und Wirtschaft radikal verändert werden. Die geschichtliche Aufgabe wäre, die Subalternität als Massenphänomen zu überwinden.
Subaltern ist jemand, der geistig unselbständig ist, sich unterwürfig verhält, auf niederem geistigen Niveau steht, nur eingeschränkt selbständige Entscheidungen treffen kann. Indem diese Verhal-tensmodi zurückgedrängt würden, darin sieht Bahro die Chance, Alternativen zu etablieren, die von der grenzenlosen Expansion der materiellen Bedürfnisse wegführen. Die Subalternität in ihren verschiedenen Graden und Ausprägungen begreift er als Folge der ganzen modernen Pro-duktionsweise, die daher nur überwunden werden kann, wenn man sie umgestaltet. Von ihm wird auch problematisiert, die Herrschaft der vergangenen, vergegenständlichten Arbeit über die gegenwärtige Gesellschaft. Diese aufgebauten Potentiale würden den Produktionsapparat, die Infrastrukturen, den bürokratischen Überbau und die Ideologieproduktion derart prägen, daß an den allseitig entwickelten Menschen, den Marx noch wünschte, überhaupt nicht mehr zu denken sei.
Havemann hält Bahros Begriff von der Subalternität der Massen nicht für glücklich gewählt. Sein Argument ist, man könne der Bevölkerung nicht vorwerfen, sich nicht genügend für wissen-schaftliche Zusammenhänge zu interessieren. Der Mangel sei eher, es gäbe nicht genügend Lehrer, die Zusammenhänge auf einfache, anschauliche und direkte Weise übermitteln können. Havemanns Argument ist sicher nicht falsch, aber er trifft damit meiner Meinung nach nicht die ganze Breite des Subalternitätsbegriffes. Zudem geht er davon aus, die gebildeteren Schichten in der DDR, also etwa Universitätslehrer u.a. hätten diesbezüglich eine Bringeschuld. Dies kann man akzeptieren. Dennoch bleibt die Frage, ob die durchschnittliche Verfaßtheit in der Psychostruktur der Bevölkerung, die Art der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt dominant emanzipatorischen Charakter trägt oder ob dies eher nicht zutrifft. Da spricht einiges dafür, dies so zu thematisieren wie Bahro, wobei man ein genaueres Instrumentarium bräuchte für die Beschreibung der Verhältnisse. Erich Fromm spricht zum Beispiel für die westliche Gesellschaft davon, daß die Marketingorientierung sehr stark in der Bevölkerung ausgeprägt ist, als ein Basiselement subalterner Daseinweise. Für die östlichen Gesellschaften ergeben sich da ein paar Verschiebungen gerade in dem Bereich, aber das ließe sich sicher genauer beschreiben. Und im weiteren Sinne, mehr auf die heutige Situation zugeschnitten, angesichts der Option, daß die jetzigen Generationen faktisch mit ihrem Lebensstil die zukünftigen Generationen geradezu hinrichten, darf man begründete Zweifel haben, daß es das Problem der gesellschaftlichen Subalternität nicht gäbe.
Der Reformprozeß, so Bahro, muß eine Umverteilung der Arbeit zur Folge haben. Alle sollten etwa gleichen Anteil an Tätigkeiten ausüben können auf den verschiedenen Funktionsniveaus. Niemand dürfte mehr auf eine Funktion festgelegt werden. Also der Physiker hätte eben auch seinen Anteil an den niederen Arbeiten zu leisten und niemand sollte nur auf Reinigungsarbeiten festgelegt werden. Dieser Gedanke dürfte nach wie vor interessant sein für jede emanzipatorisch ausgelegte Gesellschaftsveränderung. Dies ist natürlich nicht nur eine fundamentale Kritik am stalinistischen Pseudosozialismus, sondern zugleich auch an den westlichen Plutokratien.
Aufgehoben soll die Schichtdifferenzierung nach Bildungsgraden werden und sozial inkompetentes Spezialistentum zurückgedrängt. Unbeschränkten Zugang zu höchster Allgemeinbildung will Bahro geschaffen wissen. Jeder kann universitäre Bildung in Anspruch nehmen. Ein Erziehungsstil, der die Individuen auf eine patriarchale Leistungsgesellschaft hin trimmt, darf nicht weiter verfolgt werden. Vordringen solle die Freiheit der Selbstbildung. Erziehungspraktiken, die im Kind nur Angst erzeugen und das Vertrauen in sein soziales Umfeld unterminieren, wollte er abgeschafft wissen. Wo die Initiative der Kinder mit Schuldgefühlen vergiftet wird, seine Leistungen abgewertet und der eigene Wille gebrochen werden, kann keine freie Persönlichkeit entstehen.
Ziel einer sozialistischen Ökonomie könne nicht sein, sagt Havemann, immer mehr Produktion aufzubauen und den Konsum der Menschen zu erhöhen. Statt dessen müsse die notwendige Ar-beitszeit ständig gesenkt werden. Die Individuen dürften selbst entscheiden, in welchen Lebens-abschnitten sie wieviel Zeit arbeiten. Sie sollten Zeit gewinnen, um sich mehr Wissen anzueignen, Kunst kennenzulernen und verstehen zu lernen und selbst als Lehrende in verschiedenen Bereichen tätig werden. Er thematisiert dann noch die Sorge, die deutliche Verringerung der Lebens-arbeitszeit könnte dazu führen, daß mehr Zeit für den Bau des eigenen Hauses z.B. oder mehr Genuß von Alkohol zur Folge habe. Letztlich vermag er jedoch nicht schlüssig begründen, wie man einen erheblichen Anteil der Menschen für das von ihm favorisierte Tätigsein gewinnen könne. Das spricht freilich nicht gegen das Anliegen selbst.
Analog artikuliert Bahro, daß der Industrialismus in einigen Weltregionen bereits das zuträgliche Maß überschritten hat. Wir vernutzen, worauf andere Völker und spätere Generationen ein An-recht für ihr Leben hätten. Unser Erfolg in der Beherrschung der Natur droht uns als ökologische Selbstvernichtung einzuholen. Gesellschaftlicher Fortschritt müsse also in Zukunft völlig anders verstanden werden.

6. Parteiumbau und Sozialismus mit menschlichem Antlitz

Die Apparateherrschaft, die papstkirchliche Struktur und der durch und durch kuriale Geist der Parteihierarchie muß restlos beseitigt werden, so Bahro. Ohne diesen radikalen Schnitt wird es niemals innerparteiliche Demokratie geben. Die Mitgliedschaft muß die kollektive Souveränität über den Parteiapparat hinweg herstellen. Die herrschenden Parteiapparate haben mit der kom-munistischen Idee rein gar nichts zu tun. Sie verhalten sich wie der Großinquisitor zu Jesus Chri-stus.
Bahro sieht in der "Alternative", sie erscheint 1977 in der Bundesrepublik, die kommunistische Idee müsse organisatorisch neu formiert werden. Dabei sei es geschichtlich offen, ob sich ein kommunistischer Bund, so nennt er die reformorientierten Kräfte, als eine neue Partei neben der alten konstituiere oder aus der alten eine neue Partei sich herausentwickelt , wie dies beim "Prager Frühling" der Fall war. Erinnert sei daran, daß er bereits in seinen ersten Jahren in West-deutschland auch den DDR-Widerstand, der sich im Kirchenbereich zu entwickeln beginnt, für unterstützenswert hält.
Robert Havemann mißversteht Bahro in dem Punkt Parteientwicklung. Er sieht nur den Hinweis auf den kommunistischen Bund als sprachliche Formel, den er als eine neue Partei identifiziert, wozu sicher auch diverse andere Ausführungen Bahros verleiten. In der "Alternative" ist jedoch ganz klar ausgeführt, man kann der Geschichte nicht vorschreiben, ob sich die SED selbst ändert oder von außen geändert werden muß. 1989 zeigte sich dann in der spezifischen DDR-Konstellation, der Anstoß zur Veränderung mußte von außen kommen, während in der UdSSR aus dem Apparat selbst Perestroika und Glasnost initiiert wurden. Zudem fällt auf, wie wichtig einzelne Persönlichkeiten werden können.
Havemann macht sich stark für die Option, die SED zu reformieren. Eine legale Gründung eines kommunistischen Bundes sieht er in der DDR nicht für möglich an. Eine illegale Gründung würde nur die Arbeit der Staatssicherheit erleichtern. So könnte die innerparteiliche Opposition, da mit Namen und Adresse verfügbar, sehr viel schneller ausgebootet werden. Sorge hat er auch, daß sich dort eine rein ideologische Gegenpartei herausbildet, die unter Umständen mit verschärftem Anspruch auftritt, Avantgarde und elitäre Kaderpartei zu sein. Diese Gefahr sieht er, wenn eine entspanntere Lage in der DDR ein solches Projekt zulassen würde. Gewiß, ganz auszuschließen wäre die Dominanz unproduktiven Besserwissens nicht gewesen, jedoch nicht unbedingt zwingend. Allerdings in einem anderen Text, der früher entstanden ist, dokumentiert Havemann noch einen anderen Blickwinkel auf das Problem. Wenn die SED aufgelöst würde, dann müßte man einen Bund der Kommunisten gründen, aber man sollte das anders nennen, die Bezeichnung wäre nicht glücklich. Dies ist aber keine Frage, die in der gegenwärtigen Situation schon zur Debatte stünde. Wohl auch die Erfahrung von 1968 in Prag läßt ihn eher auf Opposition in der bestehenden Partei setzen. Zwar sieht er die Partei durch zahlreiche Lobhudler und Karrieristen zersetzt, doch fühlt er sich mit den Genossen auch verbunden. Da ist kein unversöhnlicher Gegner, den man bekämpfen muß, so wie es die Nazis gewesen sind.
Das kann natürlich von ihm auch eine etwas taktische gefärbte Äußerung sein, auch zu verstehen als Signal an Parteimitglieder, sich selbst in Bewegung zu setzen, statt sich an die gegebenen Um-stände anzupassen. Er wirkte eben von der DDR aus auf die DDR ein. Bahro meint im Gegensatz zu Havemann ganz klar, man müsse damit aufhören zu glauben, man habe es nur mit oberflächlich bürokratisierten Kommunisten zu tun, denen man nur mal gründlicher ins verkrustete Gewissen reden müsse. Dies sei eine Illusion, die die Eigeninteressen bürokratischer Verstrebungen nicht berücksichtige.
Die herrschenden Parteien im stalinistischen Pseudosozialismus in ihrem Ist-Zustand bieten für Bahro keine Basis für eine emanzipatorische Umgestaltung der Gesellschaft. Ihre "führende" Rolle trage eine gänzlich repressive Kontur. Sie haben sich völlig an die Apparatinteressen ausverkauft und bilden deren militante Spitze, wachen in eifersüchtigster Weise über die Staatsautorität. Die Unkontrollierbarkeit des Politbüros und die bis an die Basis reichenden Apparate sind ein zentrales Problem , an dem die Weichen umgelegt werden müssen. In diesen Punkten scheint mir Bahros Kritik schärfer als Havemanns.
Bahro rechnet damit, daß wenn ein Reformprozeß in Gang kommt, es zu einer Art Doppelherr-schaft kommt. Schritt um Schritt müßte die etatistische Seite an Gewicht verlieren. Er sieht die Möglichkeit, daß ein Bündnis aller Kräfte und Strömungen zustande kommt, die sich aus der Gefangenschaft der selbstgeschaffenen Zwänge herausführen. Was er ablehnt, ist ein Parteimo-nopol oder ein Monopol einer bestimmten weltanschaulichen Richtung. Gewinnen sollte man für ein Reformprojekt alle, die sich von der versteinerten Parteibürokratie und deren Sachzwängen in den pseudosozialistischen Ländern befreien wollen. Dies ohne Rücksicht darauf, welch offizielles Gesicht man bisher gezeigt hat. Er selbst sagt, es könne nicht um eine Sekte von Kryptokommu-nisten gehen, die sich in Szene setzt. Hier hebt sich Bahro selbst von der Befürchtung Havemanns ab, da könne am Ende ein extra Verein für Besserwisserei stehen.

7. Die deutsche Widervereinigung und zwei verschieden gescheiterte Systeme

Bis hierher sollten ein paar wesentliche Züge gezeigt werden, auf was für eine DDR und was für eine Art sozialistisches System Robert Havemann und Rudolf Bahro orientierten und wie der Weg dorthin hätte aussehen können. Viele Aspekte gelten natürlich auch für die anderen spätsta-linistischen Staaten, von denen die meisten fast zur selben Zeit wie die DDR implodieren.
Bei Havemann findet sich der Hinweis auf die DDR-Verfassung, und daß der Artikel 27 jedem Bürger das Recht auf freie Meinungsäußerung gewährt und auch die Forderung, der Staat müsse dieses Recht endlich auch gewähren. Genau diese Forderung wird man bei der größten Demon-stration gegen das bisherige System in der DDR am 4. November 1989 in hervorgehobener Form wiederfinden. Doch viel mehr wird nicht bleiben von der Idee eines "Berliner Frühlings" und dem Wunsch einer kulturellen Umwälzung der "DDR-deutschen" Gesellschaft. Es bleiben auf der politischen Ebene nur regressive Verhaltensmuster, der Anschluß an das wirtschaftsstärkere Deutschland. Die vormaligen gesellschaftlichen Zustände hatten dafür sozialpsychologisch optimal die Bahn geschaffen.
Jedoch, und dies ist in der Tat bemerkenswert, beide Systemkritiker hatten über diesen Punkt hinausgedacht, gleichwohl sie nicht unbedingt zwangsläufig diesen Gang der Geschichte voraus-gesehen haben, Bahro räumt auch ganz klar ein, daß er mit einer so schnellen Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht gerechnet hatte, eine Einschätzung, die wohl fast alle Menschen zur damaligen Wendezeit geteilt haben. Dennoch kalkulierten beide Kritiker eine solche Möglichkeit ein. So sieht Bahro 1987, mit Perestroika und Glasnost wäre der Weg geöffnet für eine Wiedervereinigung Europas. Und weiter meint er, somit hat auch die Wiedervereinigung Deutschlands begonnen. Es wird möglich, den eisernen Vorhang samt Mauer zu überwinden. Diese Behauptung kann für diese Zeit schon als sehr kühn gelten. Es ist zu vermuten, er wird eher ein partnerschaftliches längerfristiges Zusammenwachsen gemeint haben, ganz sicher keine Schlüsselübergabe an den Westen.
Dies geht auch ganz klar aus einem Beitrag in seinem ersten Buch hervor, das er nach seiner Haftentlassung aus Bautzen schieb. In "Elemente einer neuen Politik" führt er 1980 aus, eine Wiedervereinigung Deutschlands ist nur sinnvoll diskutierbar in zwei Fällen, die geschichtlich bedeutende Veränderungen voraussetzen. Die Blockkonfrontation müßte sich aufgelöst haben oder beide deutsche Staaten sich aus dem jeweils östlichen bzw. westlichen Block herauslösen, was nur in einer begonnenen Entspannungssituation realistisch wäre. Bahro geht davon aus, Havemann stellt sich dies ähnlich vor, wenn er von Wiedervereinigung spricht.
Man kann nicht umhin, Bahro ein sehr feines Gespür für die Einwicklungen im Ostblock zu atte-stieren. So hält er in einem weiteren Band über die Friedensbewegung, 1982 erschienen, fest, vor dem Hintergrund der Krise in Polen kann man sehen, der Ost-West-Konflikt geht in seiner jetzi-gen Gestalt zu Ende. Er weist auf seine Vorträge zum Buch "Die Alternative" hin, wo er ausführte, die Sowjetunion könnte die osteuropäischen Länder für ihren Block verlieren. Jetzt sei völlig klar, sie wird ihre Peripherie verlieren.
Havemann meint, die politökonomischen Verhältnisse in der DDR bieten einen besseren Aus-gangspunkt für eine emanzipatorische Gesellschaft. Produktionsmittel, Grund und Boden sind weitgehend verstaatlicht, Privateigentum an der Industrie wie in den westlichen Ländern gäbe es nicht mehr. Diese Ausgangslage ist in der Tat ein erheblicher Vorteil, um zu einer ökologischen Selbstbegrenzungsordnung zu kommen. Allein die Stillegung großer Teile der heutigen Industrie-anlagen im Kontext ökologischer Erfordernisse dürfte eigentumsrechtlich den westlichen geprägten Gesellschaften fundamentale Schwierigkeiten bereiten. Schon ein Blick auf die Regelungen für den versuchsweisen Atomausstieg in Deutschland gibt einen Vorgeschmack darauf, wie kompliziert das wird.
Die andere Seite ist selbstverständlich, und da liegt ein Engpaß, den Havemann nicht formuliert: Die DDR-Bürger waren in ihrer Mehrheit natürlich von den Wohlstandsmöglichkeiten des Westens fasziniert und wollten diese für sich selbst in Anspruch nehmen. Beschränkung der eigenen Wohlfahrt, um die nachfolgenden Generationen nicht in Elend und Siechtum zu stürzen, das war nicht im Denkhorizont vorhanden. Und da liegt auch die entscheidende kulturellpsychologische Barriere. Von daher war die DDR und andere Ostblockstaaten kein günstigerer Ausgangspunkt für einen Wandel hin zu einem Ökosozialismus. Eher schlechter, weil der Sog, die Entwicklung des Westens nachzuholen, sehr groß war.
Jedoch zu sagen, wie Rudolf Bahro, die Abwicklung der DDR ist in erster Linie auch eine Erlösung und Entlastung, um sich dann mit etwas Zeitabstand den wirklichen epochalen Herausforderungen der ökologischen Krise zu stellen , ist auch nur eingeschränkt zutreffend. Der ökonomische Anpassungsprozeß in Ostdeutschland, wie verkehrt auch immer in seinen Zielstellungen, ist jetzt sicher ein Problem des siegreichen Systems. Dadurch ist der materiellen Nachholjagd nach DDR-spezifischem Muster der Boden entzogen, zudem erübrigen sich zahlreiche Feindbilder und ideologische Scheingefechte. Selbstverständlich konnte man auch den Ballast des Ost-West-Konfliktes ablegen und damit auch die Gefahr des atomaren Overkills zurückdrängen. Da ist schon ein erheblicher Gewinn enthalten, unter Umständen aber nur von vorübergehender Natur. Es bauen sich längst zahlreiche neue gravierende Weltkonflikte auf, deren Ausgang schwer abzuschätzen ist. Auch um die letzten Öl- und Gasressourcen kann man weltumspannende Kriege führen, im Zweifel mit Atomwaffen. Selbst Terroristen lassen sich als Ersatzweltmacht hochpäppeln.
Doch die globalen sozialen Degradationen, die im Zuge der Globalisierung Fuß fassen, verringern zumindest partiell den Freiraum für ein Gegensteuern auf ökologischem Gebiet erheblich. Immer mehr zeigt sich die extrem parasitäre Selbstentwicklungslogik der westlichen Systeme. Wer über mehr Vermittlungsmacht in diesen Gesellschaften verfügt, hat beim gesellschaftlichen Gierausgriff die besseren Karten, und selbst die innere Peripherie im System, im eigenen Land wird skrupellos ausgeplündert. Das mag auf dem jetzigen Level noch existentiell betrachtet unbedrohlich scheinen, wird aber in den kommenden Niedergangsperioden dieser Zivilisation zu absurd extremen sozialen Ungleichgewichten führen, wie wir sie schon heute aus anderen Weltregionen kennen. Das könnte sich zu sehr explosivem Zündstoff auswachsen, von dem auch weitergehende gesellschaftliche Entgleisungen ihren Ausgang nehmen, noch bevor die ökologische Weltzerstörung zur Dominante gesellschaftlichen Reagieren-müssens wird.
Alles in allem ist das wiederum keine Basis für ein emanzipatorisches Kultursystem, auch wenn klar sein sollte, daß wir unsere sozialen Interessen nicht auf Kosten zukünftiger Generationen bedienen dürfen und hier eine Rücknahme unserer Ansprüche unvermeidlich ist. Es ist eine Illusion, wenn Bahro meint, daß durch den Untergang der DDR Impulse weitergehen könnten, die in diesem Systemprojekt mitgemeint waren und die nur durch das Absterben des östlichen Anlaufs erst wirklich sich entfalten können. Man hat bestenfalls den theoretischen Freiraum für eine neue Alternative. Einstweilen dominieren die von Bahro auch festgestellten geschichtlich beispiellosen Trägheitskräfte.
Gewiß ist es begrüßenswert, daß die spätstalinistischen Systeme weitgehend abgeschafft sind. Doch es ist auch klar zu sehen, das Fehlen der östlichen Systeme als Gegenmacht führte dazu daß in den westlichen Ländern soziale und demokratische Zukunftsfähigkeit im Gegensatz zu früher, immer mehr als überflüssig betrachtet wird. Überdies ist der Blickwinkel DDR viel zu eng. Sieht man die Verhältnisse in Rußland und anderen Nachfolgestaaten der UdSSR, stellt sich schon die Frage, ob nicht eine erfolgreiche Perestroika, die auch ihre eigenen Mängel zu überwinden in der Lage gewesen wäre, eine günstigere Option hätte sein können, als der heutige mafiaartige Kapitalismus und ein teilweise völliger Rückfall in soziale Verelendung, dort wo es in der jeweiligen Region keine Entwicklungspotentiale gibt.
Bahro schreibt 1995, das östliche System mußte an jedem Reformversuch kaputtgehen, dies sei zwangsläufig gewesen. Ich teile diese Einschätzung grundsätzlich nicht, obwohl, diese Ein-schränkung scheint mir sinnvoll, das kulturelle Niveau, das die systemtragenden Eliten repräsen-tierten, das mußte in der Tat weg, das mußte scheitern oder "gescheitert" werden. Damit ist das "Wie" und "Wohin" noch nicht festgelegt. Immerhin räumt Bahro ein, man hätte trotzdem Reform versuchen müssen, auch wenn sie nicht erfolgreich hätte sein können. An dem Punkt, bin ich mit ihm insoweit einverstanden, daß etwa eine DDR-Perestroika ab 1986 vielleicht auch zu einer Vereinigung hätte führen können. Doch man würde mit ganz anderen Verhandlungspotentialen in diesen Prozeß gegangen sein, und dieser Anschluß auf niedrigstem Level, so wie er stattgefunden hat, wäre vermeidbar gewesen. Auch diese Art deutsch-deutscher "Vernietung" wäre sicher nicht gleichgewichtig gewesen.
Viel spricht für die Idee Havemanns, über eine grundsätzliche Reform der östlichen Systeme zu einem neuen Gesellschaftsmodell zu gelangen. Er betonte sie immer wieder. Bahro hatte diese Idee natürlich genauso, stellte sie nur mit dem Zusammenbruch des Ostblocks zur Debatte. Ich glaube nicht, daß man den "Prager Frühling" 1968 und "Glasnost und Perestroika" in der UdSSR als tatsächlich realisierte Versuche, dies zu beginnen, völlig aus den Augen verlieren darf. Diesen politischen Aufbrüchen nur die Möglichkeit des Scheiterns zu attestieren, ist zu kurz gedacht, gleichwohl man ihre unglückliche Positionierung nicht leugnen muß. Nur wenig veränderte ge-schichtliche Konstellationen würden genügt haben, und es gäbe nach wie vor den Ostblock, und da könnte immer noch die Frage sein, wohin reformiert man diese gesellschaftliche "Fehlgeburt", wenn Plutokratien nach westlichem Muster eine Option mit Aussicht ist, sich den nächsten möglichen Totalitarismus, aus der ökologischen Begrenzungsproblematik heraus, an den Hals zu holen, so angenehm ihre unmittelbaren Wohlstandsversprechen, beschränkt auf die Kernstaaten, sind.
Mir scheint die Auseinandersetzung Bahros mit der DDR und den östlichen Systemen nach der Wende zu wenig durchdacht. Man kann auf seine Aussagen kommen, angesichts der massiven publizistischen Drücke, die damals überall spürbar waren und des offensichtlichen geistigen Bankrotts der DDR. Die Aufgabe dieses Reformimpulses war aber auch, das sollte man nicht vergessen, durch die Wunschvorstellung vom goldenen Westen gespeist, sowohl bei der Bevölke-rung und in kehrseitiger Ausführung beim politbürokratischen Personal. Man jagte dem selben Modell auf fast analoge Weise nach, einmal in DDR-Fassung und einmal im Original. Dahinter steht eine Vorstellung von gesellschaftlicher Entwicklung, die im 21. Jahrhundert geschichtlich gerichtet werden wird und deren Nichtaufgabe mit hoher Wahrscheinlichkeit totalitäre Systeme produzieren wird.
Auf die Idee zu kommen, nur aus dem westlichen System heraus könne man eine ökologische Begrenzungsordnung etablieren mit nichtkapitalistischem Anspruch, scheint mir eine unerlaubte Einschränkung zu sein. Das ist die Schlußfolgerung, die man aus Bahros Aussagen ziehen muß. Etwa in "Logik der Rettung" sagt er ganz klar, der kapitalistische Systemantrieb und der dazuge-hörige Kulturzusammenhang müssen überwunden werden. Seine späten Aussagen, zur Reform-möglichkeit der östlichen Systeme stehen im Wiederspruch zu seinen Aussagen in welche Richtung die westlichen Staaten systemüberwunden werden müssen, noch in seinen Vorlesungen zum zukunftsfähigen Deutschland 1996 betont er gerade diese Komponente.
Nun mag dieser Streitpunkt sich praktisch weitgehend erledigt haben, auch wenn man nicht weiß, ob Kuba und China dem europäischen Beispiel folgen werden oder was auch möglich ist, eine negative gesellschaftliche Lösungsvariante einschlagen, so wie wir sie z.B. in Jugoslawien sehen mußten. Auf Grund der Erfahrungen, die seit 1989 gesammelt werden konnten, läßt sich jedoch inzwischen darauf kommen, die Einführung "rohkapitalisitischer" Verhältnisse speziell in weniger entwickelten Ländern kann selbst unter der konventionellen Wohlstandsoption zu zweifelhaften Ergebnissen führen.

8. Über die DDR hinaus: Die ökologische Herausforderung

Ein bemerkenswerter Umstand ist, daß beide bedeutenden Regimekritiker aus der DDR über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Staat auf die Ökologieschiene übergehen und das als Do-minante für die Zukunft dieser Zivilisation begreifen. In diesem Kontext ist eigentlich auch noch Wolfgang Harich zu nennen, der ebenfalls diese Notwendigkeit in seinem Buch "Kommunismus ohne Wachstum" zum Ausdruck bringt, gleichwohl hier die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen System nicht geführt wird. Es ist an der Zeit, dieses umfassende Einbetten von Rot in Grün, womit auch eine völlige Neupolung von Rot verknüpft ist, als Zeichen an die Nachgeborenen zu begreifen, als ein Warnhinweis, der eindringlicher gar nicht sein kann.
Havemann konstatiert, die Erforschung der ökologischen Gleichgewichte und Regelsysteme des Planeten stehe ganz am Anfang. Für die Gesellschaften sieht er das Problem, ökologische Systeme reagieren mit erheblicher zeitlicher Verzögerung auf die vom Menschen vorgenommenen Eingriffe. Damit befindet sich die Zivilisation in einer Art Zeitfalle. Selbst wenn intensive Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um die ökologische Degradation aufzuhalten, können die menschengemachten Wirkungen nicht mehr abgewendet werden, auch wenn die Ursachen dafür längst beseitigt sind. So formuliert er hier schon indirekt, die jetzigen Generationen leben auf Kosten der zukünftigen Generationen. Für ihn ist längst die Grenze der zulässigen Umweltverschmutzung erreicht, und eine weitere Zunahme sei unakzeptabel. Überdies macht er auf die begrenzten Rohstoffvorkommen des Planeten aufmerksam.
Bei Rudolf Bahro findet man den Versuch, gestützt auf Wolfram Ziegler, den Energiedurchsatz pro Quadratkilometer mit einem "Schadäquivalent" für den regional ermittelten Umfang an Stoffumwandlung und die Natureingriffe in Beziehung zu setzen. Ausgangspunkt ist, die eingesetzte technische Fremdenergie sei der entscheidende Hebel unseres Eingriffs. Mittelbar gekoppelt wäre daran auch der Materialverbrauch und die Naturvergiftung- und Zerstörung. Es ist natürlich außerordentlich kompliziert, die biosphärischen Belastungsgrenzen in konkrete Maßzahlen und Anhaltspunkte zu übersetzen, schon weil sich viele nichtlineare Entwicklungen in den Ökosystemen nur schwer wissenschaftlich exakt beschreiben lassen. Dennoch ist es ein interessanter Ansatz zu sagen, wir markieren mit einer Kennzahl den "Belastungsdruck" auf die Biosphäre, angegeben in Kilowatt(äquivalent)stunden pro km2 je Tag. Damit geht man in jedem Fall einen deutlichen Schritt weiter, als die meisten anderen auch aktuellen Bücher im Umweltbereich. Diese Kennzahl kann aber bestenfalls der Versuch einer groben Näherungsgröße sein.
Verdeutlicht wird von Bahro auch das Übergewicht der menschengemachten Infrastruktur. Er zieht hier ebenfalls Daten von Ziegler heran. Der Mensch bringt in bezug auf Westdeutschland 150 Kilogramm Lebendgewicht pro Hektar auf die Waage, während alle anderen Tiere der freien Wildbahn, einschließlich Vögel nur mit 8 bis 8,5 Kilogramm pro Hektar ins Gewicht fallen. Für den Menschen kommen noch mal 300 Kilogramm pro Hektar hinzu an Tieren, die er für den eigenen Verzehr und Gebrauch hält. Insgesamt belastet der Mensch jeden Hektar im Schnitt mit 2 Tonnen an Infrastruktur.
Für Bahro ist klar, wir müssen das Schadensprodukt aus Energie- und Materialdurchsatz um eine Zehnerpotenz zurücknehmen. Er propagiert den Ausstieg aus der Megamaschine, auch aus dem kleinen Auto. Militärische und industrielle Abrüstung stünde an. Wir müßten das Industriesystem hinter uns lassen. Wenn man darauf insistiert, man muß auf ungefähr 90 Prozent industrieller Struktur hierzulande verzichten, dann kann man verlangen, daß dies gründlicher belegt wird, als Bahro dies vornimmt. Es reicht nicht aus, die eben angeführten Fakten auszubreiten und ein paar Hinweise auf den extremen Anstieg des Artensterbens, die Probleme des Bevölkerungswachstums und den Ozonschwund in der Stratosphäre zu geben, um diese These zu belegen. Man wird aus den Büchern und Artikeln Bahros gewiß eine ganze Reihe Bruchstücke an Beweismaterial zusammentragen können. Ausreichend als Beleg ist dies nicht. Ähnliche Probleme kann man ohne Zweifel auch bei anderen Ökologen beobachten, wenngleich daß Mißverhältnis von Behauptung und Beweislage nicht so stark ist.
Dies heißt nun keineswegs, diese Überlegung von Bahro wäre falsch. Die Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" stellt 1996 fest, bis 2050 müsse Deutschland seinen Kohlendioxidausstoß um 90 Prozent zurücknehmen. Nimmt man noch die formulierte Notwendigkeit der Studie hinzu, die Materialverbräuche drastisch zu reduzieren, kommt man der Problembeschreibung Bahros schon sehr nahe, auch wenn die Studie ihre eigenen Erkenntnisse in den aufgezeigten gesellschaftlichen Leitbildern noch dem Publikum schönt. Die Schwierigkeit ist letztlich, daß man unzählige Daten zusammenführen kann und dennoch den Faktor 10 nicht streng wissenschaftlich zu untermauern vermag. Die andere Seite ist die, wer sich die vielfältigen Auswirkungen der menschengemachten Klimagefahr, des Artensterbens und andere Prozesse gründlich besieht, kommt sehr schnell darauf, daß uns besonders die nichtlinearen Auswirkungen, schon die, die uns bekannt sind, sehr schnell umfassend weltzerstörerische Kontur annehmen dürften. Nur, hier umfassende Belege beizubringen, macht sich Bahro nicht die Mühe, er setzt diese Kenntnis voraus. Auch folgender Umstand spricht für Bahro: Wenn unsere Gesellschaften sich weiter mit kosmetischen Kleinkorrekturen begnügen, sonst aber kein Kurswechsel erfolgt, ist absehbar, daß sich die Konfliktpotentiale immer mehr aufbauen. Jedes Jahr, das unverrichteterdinge verstreicht, bedeutet eine steigende Altlast. Je mehr Treibhausgase in der Stratosphäre angekommen sind, desto höher müssen die Reduktionsquoten ausfallen, um die schlimmsten Folgen, z.B. der Klimaerwärmung, abzuwenden. Auf diesem Weg kann man sehr schnell zu einer begründbaren Option gelangen, daß man vollständig vom heutigen Industriesystem Abschied nehmen muß. Die intelligenteste gesellschaftliche Zukunftsplanung ist dies freilich nicht, nur die wahrscheinlichste, die wir angesichts der verfehlten gesellschaftlichen Systeme, die wir uns heute noch halten, zu erwarten haben und auch weil der Mensch in ihnen sich so verhält, wie er sich verhält.
Welche gesellschaftlichen Konsequenzen und Zukunftsbilder folgen nun für die beiden Vordenker daraus, daß man die ökologischen Gleichgewichte erhalten will? Sehen wir uns das näher an, ihre Problemgewichtungen fallen nämlich teilweise unterschiedlich aus.
In Havemanns utopianischer Gesellschaft gibt es keinen Staat mehr, keine Regierung, kein Militär und keine Polizei mehr. Die Menschen sind so emanzipiert und selbstorganisiert in der Gesellschaft aktiv, daß diese Einrichtungen nicht mehr nötig sind. Nur noch erforderlich ist die Verwaltung von Sachen. Bahro meint, Deutschland könnte in einen ziemlichen Haufen voneinander unabhängiger Ökorepubliken zerfallen. Dabei würde nur noch wenig Instanz von Seiten der Bundesrepublik oder einer Europäischen Union nötig sein. Die NATO wäre überflüssig. Nur einen internationalen Rechtsrahmen würde er gerne geschaffen wissen. Später formuliert er das etwas vorsichtiger und sagt, ein wichtiger Ansatz von Verfassungsänderungen wäre, daß die je regionaleren politischen Einheiten auf der Ebene Kommune oder Landkreis z.B. ein leichtes Übergewicht in ihrem Entscheidungsspielraum bekommen.
Insgesamt hält Bahro mehr Staat für nötig als Havemann. Dieser geht mir bei seinem idealen Gesellschaftsbild von zuviel gesellschaftlicher Selbstregelung aus, wo dann schon kritische Nach-fragen fällig sind, ob es nicht sinnvoll sein kann, ein Mindestmaß an staatlicher Form zu wahren. Über den Aufbau und den Wandel dieser Strukturen, über die beste Regierungsform läßt sich sicher trefflich streiten. Da sind die Ergebnisse, die die östlichen und westlichen Systeme hervor-gebracht haben, sicher kaum vollendete Optimalformen. Die kommunistische Idee vom völligen Absterben des Staates steht jedoch auf dem Prüfstand. Ich würde sie für nicht zukunftsfähig hal-ten. Auch aus vielen Äußerungen Bahros geht hervor, daß er staatliche Regelung für sinnvoll hält, insbesondere für den ökologischen Transformationsprozeß. So macht er deutlich, wir sollten den Staat neu denken und schaffen jenseits der bisherigen repressiven Muster. Abgestreift werden müsse die Tradition der Kämpfe um Machtmonopolisierung.
Notwendig ist, auf allen gesellschaftlichen Ebenen und Bereichen des gegebenen Systems finden sich Menschen, die sich für eine grundlegende ökologische Reform einsetzen und dafür versuchen, Einfluß zu erlangen. Unterstützen kann den Weg zu einer Politik der ökologischen Zeitenwende eine institutionelle Neuordnung. Dabei würde der Bundestag zum Unterhaus, in dem die gesellschaftlichen Verteilungsinteressen ausgetragen würden. Im ökologischen Oberhaus, als einer übergeordneten parlamentarischen Kammer würden die langfristigen Interessen der Gesellschaft abgesteckt und als Handlungsrahmen an den Bundestag weitergegeben. Das Oberhaus wäre dabei kein Ort, den das Parteienkartell unter sich aufteilen könnte. Das zu institutionalisieren ist, so denke ich, gewiß keine leichte Aufgabe und setzt neben geeigneten demokratischen Zugangsregeln ein umfassendes Bewußtsein über die Aufgabenstellung einer ökologischen Rettung voraus. Dabei ist für Bahro klar, Macht darf für eine andere Politik nur zur Begrenzung des überhandnehmenden Unheils eingesetzt werden. Gute Zwecke kann sie nicht aus sich heraus stiften, nur fördern. Keine noch so wohlmeinende Diktatur kann eine emanzipatorische Gesellschaft befördern.
Kommen wir zu einigen materiellen Rahmenbedingungen. Die Gegenstände des Gebrauchs sind in Havemanns Zukunftsvision äußerst langlebig. Es gibt sie nur in einer sehr hochwertigen Ausführung und nicht hunderte verschiedene Ausführungen, die auf einem kapitalistischen Markt miteinander konkurrieren. Die Aufgaben der Technik werden nicht mehr aus der naturwissenschaftlich-technologischen Sphäre heraus entwickelt, sondern leiten sich ab von den gesellschaftlichen Zielsetzungen der neuen ökologischen Ordnung Utopias.
Privaten Autoverkehr, auch öffentlichen Verkehr gibt es nicht mehr. Straßen besitzen Selten-heitswert. Eisenbahnen existieren nur noch, wo einzelne schwere Lasten, wie Eisenerze, bewegt werden müssen. Die meisten Güter transportiert man über den Seeweg. Der Flugverkehr ist ebenfalls eingestellt worden. Autos oder kleine Flugzeuge gibt es nur noch für Forschungszwecke und spezielle Arbeitsaufgaben. Ebenso sind Städte in Utopia unbekannt. Viele Menschen ernähren sich vegetarisch, der Fleischverbrauch ist gering
In Havemanns Wunschland kommt man mit 10 Prozent des Energiebedarfs aus, der einst in den Industriegesellschaften benötigt wurde. Die Abschaffung jeglichen Militärs und der Verzicht auf den Auto- und Flugverkehr ermöglichte diese Einschränkungen. Die Verwendung von Kohle und Erdöl um Energie zu erzeugen, soll zunächst durch erneuerbare Energien weitgehend ersetzt werden. Mit Hilfe von Sonnenenergie, Gezeiten, Erdwärme, Wind- und Wasserkräften wäre der benötigte Energiebedarf zu decken. Damit kann man einverstanden sein. Ob diese Energieproduktion später durch Wasserstoff-Fusionskraftwerke ersetzt werden sollte, scheint dann aber doch hochgradig fraglich. Da kommt dann der Naturwissenschaftler sehr kräftig durch, vermutlich würde er es heute auch anders sehen.
Bahro setzt auf die ursprünglichen Zyklen und Rhythmen des Lebens die Priorität, nicht auf Fortschritt und Entwicklung. Für den ökologisch ausgerichteten Kulturzusammenhang müßten eigentlich viele Gebrauchsgegenstände zum zweiten Mal erfunden werden. Technik und Techno-logie werden gebraucht, aber nur noch im Rahmen einer Grundversorgung. Auch er will bedin-gungslos ohne Rüstung leben. Tiere dürfen nicht gequält und vernutzt werden. Zur Debatte steht die touristische Reise, das Autofahren, Medikamente sollte man wenig benutzen, nicht am Geld-kreislauf der Banken teilnehmen und keine positivistische Wissenschaft betreiben. Seine Positionen hier sind natürlich jetzt unmittelbarer als lebbare Gegenalternative zur bundesrepublikanischen Gesellschaft formuliert, während Havemann ein ökokommunistisches Zukunftsmodell beschreibt. Bahro ist überdies sehr skeptisch darin, Vorstellungen vom Zukunftssystem auf dem Reißbrett zu zeichnen.
Weiter geht Bahro davon aus, daß die Wirtschaft nicht mehr der zentrale Bereich einer Gesell-schaft und des sozialen Lebens sein darf, die industriell-kapitalistische Wirtschaftsgesellschaft unheilbarer Natur ist. Dies sieht Havemann ganz analog und meint, indem der Kapitalismus die Produktivkräfte auf das Äußerste antreibt und antreiben muß, kann er nur existieren als Gesell-schaft, die auf Wachstum setzt. Ohne die Nutzung dieser Triebkräfte geht er unter. Das scheint auf den ersten Blick zutreffend zu sein. Nur sollte man heute bedenken, diese Ordnung kann sich auch in eine eher totalitäre Perspektive hinein verwandeln, und vielfach gibt es in weniger entwikkelten Staaten ein kapitalistisches Grundmuster, daß Massenverelendung mit einschließt und auf Wachstum nur sehr partiell angewiesen ist. Warum sollte dies für die Metropolenländer nicht irgendwann auch zutreffen? Spätestens, wenn uns der ökologische Boden wegbricht, wird diese Gefahr akut werden, auch wenn man nicht sicher sein kann, wie sich das im einzelnen geschichtlich konfiguriert.
Bahro sieht einen auf freiwilliger Einfachheit gegründeten Lebensstil als Lösung. Er empfiehlt eine selbstversorgerische Regionalökonomie. Geschaffen werden müßte ein hochproduktives Werkzeugsystem, so daß nicht mehr als vier Stunden täglich notwendig sind, um alle materiellen Erfordernisse herzustellen. Die Arbeitsteilung würde wesentlich von lokalen, kommuneartigen Lebensgemeinschaften her aufgebaut. Alle Grundversorgung wird in einem Transportradius von 25-30 Kilometern abdeckt. Kleine Einheiten werden als notwendig angesehen, damit die Distanz zu den Gegenständen unseres Handelns, Wünschens und Denkens wieder enger zusammengeführt werden können.
Und jetzt das Havemannsche Kontrastprogramm dazu: Bei ihm wird die verbleibende Produktion, wie gesagt ein winziger Bruchteil des heutigen Warenausstoßes nur, der sehr langlebig ist, in vollständig automatisierten Fabriken hergestellt. Nur wenige Spezialisten überwachen diesen gan-zen Produktionsprozeß. Auf dem ganzen Planeten gibt es drei riesige unterirdische Werke, in denen alle Produkte hergestellt werden. Eingespart wird die ganze wirtschaftliche Verwaltungsbürokratie. Geld gibt es in Utopia nicht mehr. Jeder kann sich in Versorgungszentren mitnehmen, was er an Waren braucht. Man darf Zweifel haben, ob das gut gehen wird. Bahro argumentiert im Punkt Geld im übrigen etwas vorsichtiger. Die große Masse der Bevölkerung ist also nach Havemanns Modell weitgehend von Industriearbeit freigestellt. Viele Menschen sind jedoch als Lehrer und Erzieher tätig, Lernende und Lehrende zugleich, erst im höheren Alter nehmen andere Tätigkeiten mehr Raum ein.
Wir haben hier also zwei recht verschiedene Optionen vorliegen, wie ökologische Begrenzungs-ordnung verstanden werden kann. Beide dürften einige Probleme aufwerfen und bieten zugleich interessante Lösungsansätze. Sie gehen beide davon aus, man möchte den nächsten Generationen die Luft zum Atmen lassen. Wenn zugleich akzeptiert wird, daß man innerhalb der ökologischen Begrenzungen keine unnötig zwanghafte und extreme Askese betreibt, sondern auch ein gewisses Maß an Annehmlichkeiten organisieren will, kommt man unter Umständen dazu, an dieser Stelle einiges zusammenzudenken. Wenn ich 80 bis 90 Prozent dessen, was ich brauche, wieder vor Ort in meiner Kommune herstellen will oder doch im engsten Umkreis , so spricht einiges dafür, daß dies in eine extreme Arbeitsgesellschaft ausartet und nicht zu dem von Bahro gewünschten Vier-Stunden-Arbeitstag führt. Andererseits halte ich es für ein Unding, daß man alle Arbeiten voll automatisieren könnte bis hin zur landwirtschaftlichen Produktion, wie das Havemann vorschwebt. Vom Prinzip her ist Bahros Herangehen richtig, wenn er sagt, alles was man in unmittelbarer Nähe herstellen kann, sollte dort hergestellt werden. Dies gilt insbesondere für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Auch sein hochproduktives Werkzeugsystem scheint mir ein plausibler Ansatz. Man muß vielleicht auch noch mit viel mehr Phantasie und Kreativität herangehen, was sich alles in diesem engeren Radius herstellen läßt. Aber es gibt, denke ich, auch etliche Technologien oder Geräte, die industrielle Produktionsrahmen voraussetzen, auf die man auch im ökologischen Zeitalter Wert legt. Da sind dann vielleicht nicht Havemanns globale Fabriken gefragt, sondern sinnvollere Größenordnungen, und im Einzelfall kann es auch effektiver sein, mal einen Automatisierungsschritt dabei zu haben. So wird man möglicherweise bei verschiedenen medizinischen Geräten darauf kommen, daß diese unter Umständen in modifizierter Form ganz hilfreich sein dürften. Zahnärztliche Behandlungsinstrumente werde ich nicht drei Dörfer weiter herstellen können. Da wird man schnell darauf kommen, daß man solche Geräte in einer Produktionsstätte für ganz Deutschland herstellt. Dieses Industriesegment, daß sicher auch etliches andere einschließt, wird gewiß nur einen Bruchteil der heutigen Ausmaße haben können, und man muß jeweils prüfen, welcher Versorgungsradius der jeweils ökologisch sinnvollste ist. Man darf diesbezüglich nicht allzu dogmatisch vorgehen, sollte aber klar im Blick haben, wir müssen bei niedrigst möglichen Material- und Stoffverbräuchen ankommen. Die verbleibende Energieversorgung wäre komplett solar zu bestreiten, und die Produkte benötigen höchste Öko-effizienz und längstmögliche Gebrauchsdauer. Diese Art von Wirtschaftsorganisation setzt aller-dings starke Planelemente voraus, wo es erforderlich sein wird, auch neue Ansatzpunkte für In-novationsfähigkeit zu finden, die nicht von den Steigerungen des Betriebsgewinns ihre aus-schließlichen Triebkräfte bezieht.
Havemann spricht davon, in seinem Utopia gäbe es kein privates Eigentum. Bahro will die innere Staatssouveränität gegenüber dem Kapital und den individuellen Interessen wieder herstellen. Soweit es die Produktionssphäre betrifft, wird man ohne Zweifel sehr ernste Probleme mit der kapitalistischen Reproduktionsweise und Gesellschaftskultur bekommen, mit ihrem Drang zur Nimmersattheit. In dem Band "Wege zur ökologischen Zeitenwende" hatte ich den Vorschlag gemacht, die Eigentumsfrage in der Richtung zu bedenken, daß 50 Prozent gesellschaftlich ver-waltet werden einschließlich starker wirtschaftsdemokratischer Instrumente und dazu die Werktätigen zu 50 Prozent reales Volkseigentum an ihrer Arbeitsstätte besitzen. Darüber hinaus sind über einen gewissen Freiraum hinaus auch politische Steuerinstrumente zur Reichtumsbegren-zung in der Gesellschaft sinnvoll. Soweit nur ein paar Umrisse dieses Vorschlages. Auch das Pro-blem, in der Landwirtschaftskooperative kann man weniger finanzielle Existenzmittel erwirt-schaften, als in der Produktionsstätte, wo die Zahnarztbohrer hergestellt werden, muß man be-rücksichtigen und in geeignete Regeln binden. Die 50 Prozent können im einzelnen demokratisch auch modifiziert werden durch das Wirtschaftsparlament. Wichtig ist es, eine Gesamtgerechtigkeit zu erreichen.
Mit einem Zitat von Ivan Illich verweist Bahro darauf, es wäre nicht sinnvoll, eine begrenzte In-dustriegesellschaft zu akzeptieren. Diese würde eine konviviale, also lebensfreudige, Produkti-onsweise in noch weitere Ferne rücken und die bürokratische Verwaltung stärken. Natürlich besteht die Gefahr, daß im ökologischen Notstand nur noch privilegierte Gesellschaftsschichten sich mit Gütern versorgen können und der Rest der Bevölkerung auf der Strecke bleibt und das Ganze mit einem restindustriellen Sektor organisiert wird. Die heutige Asozialität der Plutokratien würde dann auf ein ökologisches Begrenzungsmodell übertragen. Nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft, geschützt durch Mauer und Stacheldraht, hat dann noch ihr Auskommen, Analoges findet man heute bereits in armen Ländern.
Eine solche Perspektive ist natürlich jenseits jeglicher Akzeptanz und mit den alternativen Über-legungen, die angedeutet sind, nicht gemeint. Meine Kommentierung des Illich-Zitats war jetzt sehr wohlwollend, gleichwohl denke ich, daß es in bezug auf Zukunftsmodelle nicht aussagefähig ist und vorschnell Optionen in Frage stellt.
Ein letzter Gedanke zu diesem Themenensemble. Vorausgeschickt sei, Bahro hat sich zu Lebzeiten Havemanns auch in Beiträgen von der Bundesrepublik aus nach seiner Ausreise 1979 für dessen Engagement stark gemacht. Havemanns ökologisch-sozialutopisches Werk "Morgen" erschien 1980, zwei Jahre später stirbt er in Grünheide. Ihm fehlen also wichtige Jahre beim Fortgang der ökologischen Debatte, zudem war er auch erheblich isoliert, mit von der Stasi beräumter Bibliothek.
Bahro kritisiert Havemann, er wäre zu sehr auf die Naturwissenschaften fixiert gewesen und hätte ihnen eine Führungsrolle für die gesellschaftliche Entwicklung zugedacht. Dies findet er vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der Politbürokratie verständlich. Bahro verweist dar-auf, daß Technik und Wissenschaft maßgeblich die heutige Zivilisationskrise mitverursacht haben. Jetzt dort die Hoffnungen zu konzentrieren, auf einen materiellen Zugang zur Lösung zu setzen, greife zu kurz.
Nun ist zutreffend, Havemann setzt auf einige gewagte gesellschaftliche Modellalternativen, die auf technischen Fortschritt gestützt sind, deren problematische Seiten auch hier im Text schon angerissen wurden. Unabhängig davon gibt es ein Gesamtangebot, das Havemann bat, kritisch zu hinterfragen, was ich so eindimensional, wie Bahro das tut, nicht disqualifizieren würde. In jedem Fall ist Havemann der kreativere Zukunftsforscher, das muß man erst mal zugeben.
Anführen kann man zudem, daß er sich in seiner Sozialutopie keinesfalls auf technische Artefakte beschränkt, sondern die Formen des gesellschaftlichen, familiären und wahlverwandtschaftlichen Zusammenlebens viel Raum einnehmen. Kunst, Kultur und selbstbestimmte Formen des Lernens spielen bei Havemanns Sicht eine sehr dominante Rolle. Der Gedankenwelt des chinesischen Weisen Laotse räumen beide Denker Raum in ihrem Werk ein, und auch in der Befürwortung freien Liebeslebens scheinen sie sich sehr einig zu sein. Also Havemanns Zugang zu gesell-schaftlichen Alternativmodellen ist nur partiell technisch fixiert.
Macht man den Zeitvergleich und setzt die "Alternative" von Bahro mit dem "Morgen" von Ha-vemann in Beziehung, die "Alternative" erschien 1977, so wird man unschwer feststellen, bei Havemann ist die ökologische Komponente sehr viel dominanter ausgeprägt. Erst mit "Elemente einer neuen Politik", 1980 nach Bahros Haft erschienen, wird die grüne Schiene deutlicher, aber auch in diesem Vergleich werden die Konsequenzen der ökologischen Krise von Havemann, so scheint mir, deutlicher angesprochen. Diese Gewichtung kehrt sich erst mit den späteren Veröf-fentlichungen Bahros um. Insofern ist es vielleicht nicht ganz fair, wenn Bahro davon spricht, Havemann hätte sich am konventionellsten mit dem ökologischen Thema auseinandergesetzt im Vergleich mit Harich und Bahro. Harich behandelt sicher das ökologische Thema sehr zentral und zeigt unmißverständlich die Grenzen unseres Wohlstandsmodells auf. Jedoch seine gesell-schaftlichen Lösungsvorschläge wirken dann doch nicht sehr überzeugend, vor allen Dingen, weil er damit in der politbürokratisch-stalinistischen Matrix verbleibt.
Bahro konzentriert sich sehr dominant auf den seelischen Innenbau des neuen Kultursystems. Er will eine Ordnung, die nicht auf Geld, Beton und Mikrochips gebaut ist, sondern eine mit men-schenwürdigem Antlitz, die Herz und Geist in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Projekts rückt. Bahro setzt auf eine anthropologische Revolution. Die Gesellschaft soll auf bisher unerschlossene, unentfaltete Bewußtseinskräfte gegründet werden. Unsere Kultur und Zivilisation muß sich verabschieden von ihrem Aktionszwang, weg von einer Grundhaltung, in der der Geist nur als kompensatorisches Machtinstrument dient. Nötig ist, die Ich-besorgten Verhaftungen zu überwinden, zu einem Tiefenwandel des Bewußtseins zu kommen und die menschlichen We-senskräfte neu zu integrieren. Herausbilden muß sich ein Wertesystem mit überpersönlicher Gül-tigkeit und Verbindlichkeit, in dem aufsteigen kann, was die Menschheit in ihren besten Augen-blicken spirituell erarbeitet hat. Wir brauchen eine Emanzipation von der Selbstsucht und vom Habenmüssen.
Die anthropologische Revolution versteht Bahro so, daß sie von schöpferischen Minderheiten auf den Weg gebracht wird und hier nicht statistische quantitative Wahrscheinlichkeiten entscheiden. Dennoch scheint mir das terminologisch eher ein evolutionärer Vorgang als eine anthropologische Revolution, eine Sphäre, die so unterschiedliche Ideen verbindet wie die Existenzweise des Sein von Erich Fromm oder die aperspektivische Weltsicht Jean Gebsers. Entscheidend dürfte sein, nach den menschlichen Maßen des inneren Wandels zu fragen. Was ist zuträglich, und wo beginnt die Überdehnung von Ansprüchen mit intellektuellen Mitteln, wo verläßt spiritueller Aktionszwang die ausschließlich heilende Perspektive? Ist das ganze Bezugssystem richtig zueinander geordnet? Die Bemerkung Volker Brauns in seinem Vortrag anläßlich der gedenkenden Veranstaltung in der Berliner Humboldt-Universität zum 65. Geburtstag Bahros, wo er zum Ausdruck brachte, er hätte Sorge Bahro könnte sich zu sehr "verglaubt" haben, kann vielleicht auch ein Indiz sein, daß generell mehr Transparenz im spirituellen Dialog hilfreich sein kann.
Besonders in den letzten 10-12 Lebensjahren besinnt sich Bahro sehr auf die geistigen Grundla-gen, die ihm für eine ökologische Ordnung und Politik grundlegend und ausschlaggebend er-scheinen. Angesichts dessen, da dies oft ausgeblendet bleibt bei der Betrachtung gesellschaftlichen Zukunftsoptionen, ist dies mehr als sinnvoll. Nur wenn man dann die gesellschaftsstrukturellen, materiellen und technologischen Reformelemente und Zukunftsbausteine nur noch rudimentär thematisiert, erwächst daraus ein Schwachpunkt.
Bevor man überdies die Probleme des "Verglaubens" vertieft, sei jedoch nachdrücklich darauf hingewiesen, sich erst mal die Substanz anzusehen, die Bahro für die Aufklärung nach innen, für den inneren Wandel des Menschen zusammengetragen hat, besonders in "Logik der Rettung", aber auch sein letzter Aufsatz zum "Homo Integralis" sei empfohlen. Das ist dann ein völlig anderes Level, von dem aus man Fragen stellt. Man hat es mit sehr lohnenden Ansätzen zu tun. Mir scheint dafür auch eine gewisse sozialpsychologische Vorbildung hilfreich.
Havemann thematisiert, daß die Menschen in seinem Utopia in einer fast widerspruchslosen Harmonie leben, aggressive Verhaltensweisen sehr in den Hintergrund getreten sind, es aber ver-stecktere Disharmonien als heute gäbe, die aus höheren Formen der Selbstverwirklichung herrüh-ren. In der jetzigen Zeit würde viel menschliche Aktivität um das Haben von Menschen und Sa-chen vergeudet. Diese Art des unersättlichen In-Besitznehmens sei in der neuen Ordnung über-wunden worden. Das Nichthaben wird als innerer Reichtum gelebt. Das "Ich" der Menschen, steht sich nicht mehr ein Leben lang selbst im Wege. Angeführt wird bei der Reise nach Utopia auch Laotses Hinweis, das hohe Leben sei Handeln ohne Absicht. Es macht den Eindruck, als ob Havemanns ganze neue Ordnung von diesem Grundsatz her aufgebaut sein könnte. Auch hier liegen Havemann und Bahro in der Suchrichtung dicht beieinander, auch wenn dieser Stoff bei Bahro in einer umfassenden Gründlichkeit durchgearbeitet wurde, zu der Havemann nicht gekommen ist.

9. Schluß

Rudolf Bahro und Robert Havemann hatten durch die repressive DDR-Situation und weil sie sich den Mund und das Denken nicht verbieten ließen, nie Gelegenheit zu einem direkten Gespräch und intensiven Gedankenaustausch. Es hätte beiden nützlich sein können, sich die Ideen des anderen genauer anzuhören. All das ist inzwischen Geschichte. Ein "Berliner Frühling" steht nicht mehr zur Debatte. Jedoch der Kampf um eine ökologische Rettung der Zivilisation muß erst beginnen. Selbst wenn, was wahrscheinlich ist, es nur noch darum gehen wird, die schlimmsten sozialökologischen Degradationen abzuwenden, bleibt die Aufgabe. Sie muß dann unter extrem erschwerten Bedingungen erfolgen. Alles wird auf neuen Bahnen zu denken sein. Das selbstideologisierte westliche System, zumindest seine prominentesten Teile, hat Perspektiven, wie sie hier angedeutet sind, nicht nötig zu diskutieren. Man gefällt sich im Nichtwissen, Nichtsehen und Nichtkönnen. Das kommt allen teuer zu stehen.
Wird es eine Generation von neuen Querdenkern geben, die vielleicht auch in manchem weit-blickender über bessere Gesellschaftssysteme nachdenken als sie bisher bedacht wurden? Oder wird man sich damit zufrieden geben, ein System zu hofieren, hier und da ein bißchen zu kritisieren, das schuldhaft jegliche Zukunftschancen unter seiner Siegespose zertrümmert? Machen wir uns nichts vor, der Scherbenhaufen, den wir mit dem jetzigen Lebens- und Systemmodell anrichten, wird schlimmer sein, als das was 12 Jahre deutscher Faschismus am Ende hinterlassen haben. Im globalen Klimafieber wird es über Jahrhunderte kein Ende geben, wenn überhaupt noch Bes-serung der biosphärischen Situation möglich ist. Unter Umständen wird die Gattung Mensch erst erlöst sein, wenn wir Wüstenplanet sind. Bahro wußte, auch Havemann thematisierte das schon, wir könnten auf eine dunkle Zeit zugehen. Es wird vermutlich einiges an gesellschaftlichen Verwerfungen auf uns zukommen. Es spricht viel dafür, wir gehen in das dunkelste Zeitalter der menschlichen Geschichte. Ich erinnere mich, Bahro sprach in einer Vorlesung davon, es wird eine Pflasterstraße durch die Hölle werden. Es ist die Botschaft der beiden Vordenker, eine Alternative zu dieser Entwicklung zu suchen. Das ist ein bleibendes Verdienst.
Bahro verdeutlicht in "Logik der Rettung", natürlich wird die westliche Demokratie ganz schnell im Notstand enden, mit einer zugehörigen Regierung, eine diktatorische Junta, wenn die ökologischen Katastrophen auf uns zukommen. Die Menschen werden vermehrt zu Objekten gemacht und damit der Gesamtzustand der Gesellschaft nur verschlimmert. So eine Notstandsregierung stellt dann in aller Klarheit unser geistiges Versagen heraus. Lauter menschenfreundliche Begründungen und ehrenwerte Motive könnten ausgenutzt und umgedreht werden. Für polizeiliche Rationierung werden wir noch dankbar sein, weil so noch ein Mindestmaß an Lebenssicherheit für einige Zeit gesichert werden könnte. All dies wird nicht die perfide Verabredung von herrschenden Personenkreisen sein, sondern resultiert aus der nicht vorhandenen Bereitschaft, eine eman-zipatorische Gesellschaft rechtzeitig gesellschaftlich auf den Weg zu bringen, die ökologische Selbstbegrenzung versucht umzusetzen.


Literatur:

Alt, Franz/ Bahro, Rudolf/ Ferst, Marko; Wege zur ökologischen Zeitenwende. Reformalternati-ven und Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem, Berlin, 2002
Bahro, Rudolf; "Ich werde meinen Weg fortsetzen". Eine Dokumentation, Köln, 1979
Bahro, Rudolf/ Mandel, Ernest/ von Oertzen, Peter; Was da alles auf uns zukommt... . Perspek-tiven der 80er Jahre. Band 1, Berlin, 1980
Bahro, Rudolf; Elemente einer neuen Politik. Zum Verhältnis von Ökologie und Sozialismus, Berlin, 1980
Bahro, Rudolf; Wahnsinn mit Methode. Über die Logik der Blockkonfrontation, die Friedensbe-wegung, die Sowjetunion und die DKP, Berlin, 1982
Bahro, Rudolf; Pfeiler am anderen Ufer. Beiträge zur Politik der Grünen von Hagen bis Karlsruhe, Berlin, 1984
Bahro, Rudolf; Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Berlin, 1990
Bahro, Rudolf; Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Berlin, 1990
Bahro, Rudolf; Rückkehr. Die In-Weltkrise als Ursprung der Weltzerstörung, Berlin, Frankfurt am Main, 1991
Bahro, Rudolf; Manchmal genügt eine Umschaltung in der Psyche, Neues Deutschland, 30.5.1992
Bahro, Rudolf; Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit, 1995
Bahro, Rudolf; Das Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR (unveröffentlichtes Manuskript), 1995
Bahro, Rudolf/ Bisky, Lothar/ Ferst, Marko; Scheitern die Parteien an der ökologischen Krise? Podiumsdiskussion am 12.4.1996 in der Berliner Humboldt-Universität (unveröffentlichtes Ma-nuskript), 1996
BUND, Misereor; Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Ent-wicklung, Basel, 1996
Gorbatschow, Michail u.a.; Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR. Dokumente und Materia-lien. 25. Mai - 9. Juni 1989, Moskau, 1989
Havemann, Robert; Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung, Hamburg, 1964
Havemann, Robert; Berliner Schriften, Berlin, 1976
Havemann, Robert; Berliner Schriften (ergänzte Fassung), Berlin, 1977
Havemann, Robert; Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie, Frankfurt am Main, 1982
Havemann, Robert; Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde. Texte eines Unbequemen, Berlin, 1990
Havemann, Robert; Die Stimme des Gewissens. Texte eines deutschen Antistalinisten, Hamburg, 1990
Havemann, Robert; Fragen Antworten Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, Berlin, 1990