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Die Ideen für einen "Berliner
Frühling" in der DDR
Die sozialen und ökologischen Reformkonzeptionen von Robert Havemann
und Rudolf Bahro
Marko Ferst
(Der Beitrag soll später einmal in einer neuen Fassung veröffentlicht
werden. Insbesondere die erste Hälfte wäre gründlich neu
zu bearbeiten. Die Fußnoten wurden in die Internetfassung nicht
übernommen.)
1. Einleitung
In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, auf welche gesellschaftlichen
Modelle hin die beiden schärfsten Kritiker des DDR-Regimes, die zugleich
trotzdem sozialistische Optionen verfolgten, ihre Reformvorstellungen
ausrichteten. Wie sollte die DDR nach einem "Berliner Frühling"
aussehen, und welche Schritte wären dahin zu vollziehen gewesen?
Insbesondere bei Havemann verzahnt sich die Suche nach einem DDR-Sozialismus
mit menschlichem Antlitz sehr eng mit Fragen einer ökologischen Zukunftsgesellschaft.
So stellt sich damit automatisch die Frage, was reicht in den Konzeptionen
der beiden Kritiker über die DDR hinaus? Welche gesellschaftlichen
Systemvorstellungen kommen neu auf? Man wird sehen, daß diese sich
mit der Wende von 1989 in der DDR und dann im ganzen Ostblock nicht erledigen,
im Gegenteil. Bei Bahro kann auch noch mal reflektiert werden, welche
Folgerungen er aus dem Anschluß der DDR zieht. Havemann stirbt bereits
einige Jahre vorher. Beide Kritiker bleiben bis ans Lebensende kommunistisch
orientiert, Bahro will Kommunismus, Ökologie, spirituelle Weitsicht
und seelische Größe zusammenbringen. Beide sehen in der ökologischen
Herausforderung die Dominante für Weltveränderung und eine
rettende Politik. Bahro betont in den Jahren nach seiner Ausreise aus
der DDR ein universelleres Weltverständnis, in dem der kommunistische
Zugang nur noch ein Teil einer umfassenderen Sicht ist. Er war in jedem
Fall auf der Suche nach einer neuen Legierung des Ganzen.
Herangezogen wurden für diesen Beitrag insbesondere alle veröffentlichten
Bücher der Autoren, soweit sie für die Fragestellungen von Belang
waren. Sowohl bei Havemann existieren einzelne Zeitungsbeiträge,
aber mehr noch bei Bahro gibt es sehr zahlreiche Wortmeldungen in der
Presse etc., die hier nicht mit herangezogen werden konnten. Bei Bahro
kommt hinzu, daß es über 80 Vorlesungen gibt, die vom Band
abgeschrieben worden sind, die jedoch noch in einem Zustand sind, der
nicht publikationsfähig ist. Derzeit gibt es auch noch keinen Zugriff
darauf.
2. Für ein demokratisches Staatswesen
Havemann will in der DDR Opposition durch Oppositionsgruppen oder Oppositionsparteien
zulassen. Er geht davon aus, die Wahlprozeduren müssen gänzlich
geändert werden, macht die vorgefundene Situation zum Ausgangspunkt
seiner Überlegungen. Für jedes Mandat in der Volkskammer wären
mehrere Kandidaten aufzustellen. Die Wahlentscheidung solle nicht nur
zwischen der einen oder anderen Partei möglich sein. Es müsse
mindestens auch die Wahlmög-lichkeit zwischen mehreren Personen geben.
In Grunde geht Havemann hier bereits über das westdeutsche Wahlsystem
hinaus, berücksichtigt Forderungen, wie man sie bei dem Parteienkriti-ker
Hans Herbert von Arnim findet. Havemann meint generell, ersetzt werden
müsse die stalini-stische Struktur des Staates durch einen modernen
demokratischen Überbau.
Schluß sein müsse damit, der weise Staatsapparat wählt
die Personen aus und stellt sicher , daß die Kandidaten der nationalen
Front zu 99 Prozent gewählt werden. Wir brauchen keinen "de-mokratischen
Zentralismus", der sich in einen Zentralismus ohne Demokratie verwandelt
habe. Er empfiehlt dann auch, die Diskussion, wie mehr sozialistische
Demokratie erreicht werden kann, massenhaft zu führen im privaten
Freundeskreis, in den Betrieben, der Partei und anderen Massenorganisationen,
an den Schulen und Universitäten. Dies sei überhaupt das Wichtigste,
was in der DDR politisch zu bereden wäre, so wie sich die Lage mit
Anbruch des dritten Jahrzehnts dieses Staates darstelle.
Havemann spricht bereits in einer Vorlesung von 1963 davon, die Menschen
dürfen in der DDR nicht konfektioniert werden, man darf sie nicht
den behördlich genehmigten Ansichten unterwerfen. Dies würde
zu oberflächlichem und schematischem Denken führen. Dagegen
müsse durch umfassende Informationen immer mehr qualifiziert werden,
damit Zusammenhänge besser von den Menschen verstanden werden können.
Warnend fügt er hinzu, wer die Folgen einer umfassenden uneingeschränkten
Information fürchtet, zieht dadurch gerade unheilvolle Entwicklungen
an, statt sie abzuwenden. Echte Freiheit der Meinungsbildung, die darauf
beruht, daß man sich frei äußern kann, was ein Wesenszug
der Demokratie ist, müsse gesichert werden.
Für die Volkskammer ist ein anderer Verhandlungsstil einzuführen.
Die Abgeordneten hätten in freier Rede ihre Gedanken auszuführen.
Dies sollte offen und ungeniert geschehen und keine Strafen nach sich
ziehen. Fertige Manuskripte, die vorher geprüft und genehmigt werden,
sind nicht zeitgemäß. Jeder kleine Schritt zu mehr Eigenständigkeit
im Denken und Handeln der Ab-geordneten verleihe dem Parlament mehr Würde
und Ansehen. Havemann fordert, es müsse in der DDR die wirkliche
Freiheit der Presse hergestellt werden und Schluß sein mit einer
Presse, die ganz mangelhaft informiert. Notwendig wäre nicht unbedingt,
in der DDR dieselben Zeitungen erscheinen zu lassen wie in der Bundesrepublik
oder anderen westlichen Ländern, geboten wäre aber, eigene Zeitungen
anzubieten, die frei informieren können.
Zur schrittweisen Entspannung der politischen Verhältnisse in der
DDR unterbreitet Robert Havemann eine Reihe Vorschläge. Z.B. durch
die Absenkung des Alters für Westreisen soll all-mählich die
Mauer zwischen Ost und West für DDR-Bürger durchlässiger
werden. Auswanderung muß legal möglich sein. DDR-Bürger
dürfen bei Reisen nicht mehr auf die Geldbörsen der Westverwandten
angewiesen sein. Die Einnahmen durch Besucher aus westlichen Staaten in
der DDR beim Zwangsumtausch sollen den eigenen Bürgern im Staat für
ihre Reisen zur Verfügung stehen bei einem gerechten Umtauschkurs.
Zu amnestieren sind alle politischen Gefangenen einschließlich der
Grenzverletzer. Diese Schritte, so kann man aus Äußerungen
in seinen Büchern schließen, sind zunächst mal als ein
Anfang gedacht gewesen. Gerade die Reisefreiheit wird zur Wendezeit 1989
schnell zu einem zentralen Thema.
Weder Robert Havemann noch Rudolf Bahro wollten in der DDR eine Parteienherrschaft
nach westlicher Spielart etablieren. Ein nur marginal auf den Wirtschaftsprozeß
Einfluß nehmendes Parlament, das im Grunde die Herrschaftsstrukturen
der etablierten Plutokratie nicht in Frage stellt, schien beiden mehr
eine Farce zu sein, statt lebendige Demokratie. In jedem Fall existiert
für sie in den westlichen Staaten ein zu begrenztes Demokratiemodell.
Darin treffen sie sich im Grunde mit den Kritikern auf der anderen Systemseite,
wie etwa Erich Fromm, der demokratische Strukturen auch für den
Bereich der Wirtschaft forderte.
Bahro erschien reale Demokratisierung als Voraussetzung der ökonomischen
Emanzipation der Massen. Selbstverwaltung könnte von unten in die
Institutionen hineinwachsen. Die Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse
der Gesellschaft müssen demokratisiert werden, aus den Klauen des
hierarchischen Apparats herausgeführt. Die Wahrung der Menschenrechte
und die Einführung politischer Demokratie sind wichtig, doch zentraler
ist für ihn, daß man eine Aufklärungsbewegung zustandebringt,
die den langfristigen Kampf um eine neue Gesamtpolitik führt. Für
Bahro ist es völlig unzureichend, davon auszugehen, es müßte
nur eine neue Opposition die Macht in die Hände bekommen, damit man
zu einer emanzipatorischen Gesellschaftsentwicklung gelangt. Eine Oppositionsbewegung
sollte auf das Vertrauen bauen, langfristig wächst ihr Einfluß,
und sie wird irgendwann die Möglichkeit gewinnen, sich ungehindert
selbst zu verständigen und organi-satorische und öffentlichkeitswirksame
Möglichkeiten allmählich erweitert gebrauchen können. Mit
Hilfe von Verfassungstexten und UNO-Resolutionen könnte sie versuchen
die politische Polizei in ihren Repressionsgelüsten, soweit wie das
möglich ist, zu bremsen.
Zunächst geht er davon aus, daß diese Schritte von einer kommunistischen
Opposition gegangen werden, die ähnlich wie in der Tschechoslowakei
1968 bis zur Spitze der Staatspartei durchdrin-gen kann und in ihr Mehrheiten
gewinnt, wobei sie auf Unterstützung aus der Bevölkerung bauen
kann. Später sieht er auch in der Opposition, die sich im kirchlichen
Bereich der DDR entwickelt, Chancen. Generell will er der Geschichte nicht
vorschreiben, welche Optionen sich jeweils durchzusetzen hätten.
Auffällig ist aber, daß Havemann in Fragen der Demokratieentwicklung
in der DDR sehr viel konkretere Vorschläge macht und diesen Punkt
deutlich stärker betont als Bahro.
3. Charakterisierung der spätstalinistischen Systeme
Die Ordnungen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts teils
das mittlere und das östliche Europa prägten, im Speziellen
auch die DDR, charakterisiert Havemann als sozialistischen Feu-dalismus
und schränkt zugleich ein, dies sei eigentlich eine widersinnige
Bezeichnung. Man habe einen Staat mit absolut pyramidaler Hierarchie.
An der Spitze stehe ein Mann mit fast absolutisti-scher Herrschaftsmacht.
Darunter gibt es stufenförmig einander untergeordnete Herrschaftsebe-nen,
und dann spielt er mit dem Begriff Feudalismus. Diese Ebenen würden
belegt von "Großfürsten, Fürsten, Grafen und Landvoigten".
In der DDR sieht Havemann das Diktat einer Clique von Parteifunktionären
am Werk, eine Par-teibürokratie. All dies habe nichts mit dem Theorem
von der Diktatur des Proletariats zu tun. Die Bevölkerung habe gar
kein Interesse, diktatorischen Zugriff auszuüben. Ganz analog spricht
Bahro von einer Diktatur des Politbüros, in dem er eine verhängnisvolle
Übersteigerung des bürokratischen Prinzips sieht. Der gehorchende
Parteiapparat sei Kirchenhierarchie und Überstaat in einem und würde
als Struktur quasitheokratisch funktionieren. Bahro nutzt tatsächlich
diese Terminologie. Er spricht dann auch weiter von Inquisition. Die Tendenz,
diese auszuüben, habe die Partei, die selbst schon wie eine politische
Polizei funktioniere. Die geistige Gewalt, die der Parteiapparat im Lande
ausübe, käme einem säkularisierten Gottesstaat gleich.
Die Parteiobrigkeit beansprucht den Status göttlicher Allwissenheit
für alle grundlegenden Entwicklungsfragen der Gesellschaft. Havemann
meint, wenn die meisten Menschen im Staat davon abhängig seien,
was eine winzig kleine Gruppe entscheidet, so ist dies kein sozialistisches
System.
In der DDR wurde nach Bahro der Bürokratismus die Existenzform einer
großen Gruppe von Menschen mit ausgeprägten Sonderinteressen.
Sie haben sich fest in den verschiedenen Rängen um den Machtapparat
eingerichtet, der Bürokratismus ist nicht eine degenerative Erscheinung,
sondern längst eine Form für sich.
Problematisiert wird von Havemann, es gäbe in jedem hierarchischen
System Menschen, die an-dere beherrschen wollen. Besonders die Deutschen
hätten die Methode des nach oben Strebens, des über anderen
Stehens zur Perfektion ausgebaut. Nach oben würde gebuckelt und nach
unten getreten. In der DDR habe sich tendenziell ein System aus Karrieristen
und Speicherleckern, von Duckmäusern und Lobhudlern herausgebildet.
Da diese Verhaltensweisen Erfolg versprechen, könne man sie so oft
antreffen.
4. Die politökonomischen Probleme
Als Problem formuliert Bahro, die Abschaffung des Privateigentums an
den Produktionsmitteln führte nicht zu realem vom Volk verfügten
Eigentum. Statt dessen steht die ganze Gesellschaft eigentumslos ihrer
Staatsmaschine gegenüber. Die Produktionsverhältnisse beschreibt
Havemann als staatsmonopolitisch, von sozialistischem Anstrich könne
keine Rede sein. Dabei würde der Staatsmonopolismus im Kapitalismus
vermutlich effektiver funktionieren als in den polit-bürokratischen
Ländern, in denen elementare demokratische Verkehrsformen fehlen.
Havemann hält es für notwendig, daß die Werktätigen
alle Rechte des Eigentümers erhalten. Durch sie würde bestimmt
werden, wie der Gewinn des Unternehmens zu verwenden wäre. Zugleich
will er die Werktätigen entscheiden lassen, wieviel an Produktionsanlagen
erneuert, ergänzt und erweitert werden soll. Gleiches gilt für
die Frage, wieviel finanzielle Mittel man für die Einführung
neuer Technologien, zur Erweiterung oder Spezialisierung des Sortiments
der erzeugten Produkte und für soziale Einrichtungen sowie kulturelle
Leistungen aufgewendet werden sollen. Bestimmt werden muß überdies
wieviel die Arbeiter zum eigenen Verbrauch erhalten. Klar markiert Havemann,
bei diesen tiefgreifenden Veränderungen ginge es um eine endgültige
Wandlung von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Produktionsweise.
Dies erfordere auch vielfältige und strukturelle Umwälzungen
im gesellschaftlichen Überbau. Mit solchen allgemeinen Aussagen
am Schluß bleibt er dann aber stehen, sieht die Umwälzungen
nicht mit einem vorgefaßten Plan vollziehbar, sondern betont, es
ginge um einen permanenten Prozeß.
Wie bricht man nun aber die gesellschaftlich verfestigten politökonomischen
Strukturen auf? Auch Bahro beschreibt sehr genau: Die monopolistische
Verfügung über den Produktionsapparat, über den Löwenanteil
des Mehrproduktes, über die Proportionen der Wirtschaftsentwicklung,
über Verteilung und Konsumtion führte zu einem bürokratischen
gesellschaftlichen Mechanismus, der im Produktionsprozeß jede subjektive
Initiative abtötet oder auf private Interessen lenkt. Zudem schaltet
und waltet der Apparat mit den von den Werktätigen erarbeiteten Werten
häufig in sehr verschwenderischer Weise, oft gehen durch Schlamperei
und chaotische Wirtschaftsorganisation gigantische Ressourcen verloren.
In seinem "Spiegel"-Interview zum Erscheinen seines Buches "Die
Alternative" verdeutlicht er, die östlichen Gesellschaften lassen
der "natürlichen" menschlichen Trägheit und Nachlässigkeit
mehr Raum als der Kapitalismus. Die Arbeitsintensität und Arbeitsdisziplin
ist niedriger. Diese Situation findet man nicht nur in den Betrieben und
Büros vor, sondern auch in den oberen Etagen der Gesellschaft. Die
tendenzielle Interesselosigkeit gegenüber den Aufgaben in Betrieb
und Gesellschaft tritt bei den Werktätigen, Bürokraten und Spezialisten
gleichermaßen auf. Zwischen Aufwand und Ergebnis bei den Produktionsprozessen
oder gesellschaftlichen Maßnahmen ist zumeist ein charakteristisches
Mißverhältnis festzustellen.
In einem in zwei Bänden 1980 dokumentierten Gesprächsaustausch
mit Ernest Mandel und Peter von Oertzen in der Bundesrepublik hält
Bahro fest, zwar sei die DDR-Ökonomie neben der tschechischen die
funktionsfähigste im ganzen Ostblock, jedoch gibt es einen erheblichen
Anteil von ständigem und zudem eingewöhntem Produktionsverlust.
Gearbeitet würde ständig etwa 20 Prozent unter der möglichen
Kapazität, die herauskommen würde, wenn man unter kapitalistischer
Verwaltung mit den selben Maschinen arbeiten würde. Kapazitäten
würden nicht ausgelastet, weil Maschinen nicht ausreichend gewartet
würden, Ersatzteile nicht besorgt werden können etc.. Dieser
Ineffektivitätsfaktor nimmt langsam zu. Problemverschärfend
wirkt sich aus, die DDR ist an den uneffektiver laufenden Wirtschaftsmechanismus
der UdSSR gekoppelt, der sehr viel schwerfälliger funktioniert.
In einem Essay nach der 89er Wende beschreibt Bahro am Beispiel der Militärtechnik,
er bezieht sich auf eine Begebenheit mit einem russischen und amerikanischen
Flugzeugträger, wie hoff-nungslos unterlegen die sowjetische Technik
gewesen sein dürfte. Der sowjetische Flugzeugträger hatte massive
Schwierigkeiten, seine Flieger starten und landen zu lassen und soll sich
beim Lan-devorgang vom Feind helfen lassen haben. In der Wirtschaft verschwanden
oft ganze Ladungen moderner Investitionsgüter für Jahre und
vergammelten einfach.
Bei Bahro werden wir jedoch nie erfahren, welche strukturellen Veränderungen
oder erst mal Ideen, die politökonomische Verfahrenheit der östlichen
Gesellschaften überwinden helfen könnte. Allein ein emanzipatorischer
ausgelegtes Bildungssystem, weniger Subalternativiät und das Aufbrechen
der alten Arbeitsstrukturverhältnisse hätten dies mit Sicherheit
nicht leisten können. Aber es gibt einen aufschlußreichen
Hinweis von ihm, warum er sich damit nicht beschäftigt, der 1984
in dem Buch, in dem die Beiträge zur Politik der Grünen dokumentiert
sind, auftaucht. Er meint, betriebliche Selbstverwaltung sei nur möglich
in überschaubaren sozialen Einheiten. Dies habe auch das Scheitern
des jugoslawischen Modells der Selbstverwaltung gezeigt, wo in einem hierarchischen
System formell das Eigentum vergenossenschaftet wurde. Selbstverwaltung
sei in der gegebenen Technostruktur des Industriesystems nicht realisierbar,
dieses Fazit kann man bei Bahro erkennen, und das geht auch in die späteren
Konzeptionen ein.
Havemann zieht sich da etwas intelligenter aus der Affäre. In seiner
Sozialutopie vom künftigen ökologischen Kommunismus wird die
meiste Arbeit automatisiert sein, die niemand übernehmen will. Also
stellt sich das Problem einer anderen Politökonomie nicht mehr so
dringlich. Allerdings ist stark zu bezweifeln, daß dieser Weg im
Kontext der weit überrannten ökologischen Bela-stungsgrenzen
gangbar ist. Gewiß setzt Havemann eine sehr selbstgenügsame
Lebensweise voraus. Betrachtet man die ökologischen "Rucksäcke",
also alle Nebenbelastungen, die entstehen, so spricht einiges dagegen,
alle Güter in automatisierten Fabriken herzustellen und dann dazu
noch so extrem zentralisiert, wie er sich das vorgestellt hat, schon wegen
der Transportwege. Die Un-terschiede in den Lösungsansätzen
zwischen Bahro und Havemann in diesem Punkt, werden hier noch zu diskutieren
sein.
Die Frage nach wirklichem Volkseigentum nach einer emanzipatorisch sozialistischen
Politöko-nomie, die nicht nur eine Propagandalüge der herrschenden
Politbürokratie und ihrer willigen Wissenschaftsvollstecker darstellt,
kommt durch Glasnost und Perestroika ab 1985 in der So-wjetunion noch
mal für kurze Zeit auf die Tagesordnung. Natürlich passiert
dies nur ganz rudi-mentär. Auf dem Kongreß der Volksdeputierten
der UdSSR im Sommer 1989 stellt Michail Gor-batschow fest, die Gesellschaft
soll Eigentümer des Volksvermögens bleiben. Der Hauptteil dieses
Eigentums wird den Arbeitskollektiven und Einzelpersonen in verschiedenartigen
Pachtverträgen zur Verfügung gestellt. Sie übernehmen
dafür die volle Verantwortung für den Produktionsprozeß.
Gegenüber dem Staat gehen sie bestimmte ökonomische Verpflichtungen
ein. In der Rede wird nicht weiter ausgeführt, wie diese aussehen
sollen. Die Arbeitskollektive sollen mit eigenen Mitteln und Krediten
wirtschaften und ihre Waren auf dem Wirtschaftsmarkt austauschen. Ihre
Einkommen bestimmen sich aus Ergebnissen der eigenen Arbeitstätigkeit.
Diese knappen Hinweise zeigen, man dachte in dieser Zeit im sowjetischen
Machtzentrum durchaus über einen grundsätzlichen Bruch in der
bisherigen Eigentumsordnung der spätstalinistischen Systeme nach.
Freilich werfen die Absichten jede Menge Fragen auf, wie man dazu hätte
konkret kommen wollen und welche Verwerfungen durch diese Umstellung dann
hätten entstehen können.
Bei Bahro und Havemann wird man da keine weitergehenden Reformvorschläge
finden. Die sozialen Degradationen, die im Zuge der Auflösung der
Sowjetunion entstehen, natürlich an die vormaligen maroden Zustände
in der Wirtschaft nahtlos anknüpfend, können ganz sicher nicht
als akzeptable Lösung im Sinne der damaligen Gorbatschowschen Absicht
angesehen werden. Gerade in der ehemaligen Sowjetunion blieb die absolute
Mehrheit der Bevölkerung auf der Strecke, und nur ganz wenige konnten
sich die Taschen mit Geld füllen. Es entstand eine ganz widerliche
Form von Mafiakapitalismus. Gerade in Rußland und anderen GUS-Staaten
wäre es interessant gewesen, mit anderen politökonomischen Regularien
als in den kapitalistischen Industrieländern zu versuchen, die schlimmsten
gesellschaftlichen Entgleisungen im Bereich sozialer Extremlagen abzuwehren.
Eine emanzipative Sozial- und Eigentumsverfassung bleibt als Herausforderung
für eine Ordnung, die auf Herz und Geist gebaut sein soll, wie Bahro
das nennt, bestehen. Dafür die besten realisierungsfähigen Ideen
für Gesamtgesellschaften im globalen Netzwerk zu entwerfen, bleibt
nach wie vor Nobelpreisverdächtig.
5. Allgemeine Emanzipation
Rudolf Bahro sieht den Weg zu einer emanzipatorischeren Gesellschaft
über eine kulturelle Revolution führen. Die Individuen sollen
von ihren sozial bedingten Entwicklungsschranken befreit werden. Es geht
darum, die Daseinsform und Denkweise "kleiner Leute" zu überwinden.
Damit verknüpft ist die massenhafte Überwindung der damit verbundenen
Bedürfnisrichtung und -struktur. Einhergehend müssen die gewohnten
Institutionen und Verfahrensweisen in der Gesellschaft und Wirtschaft
radikal verändert werden. Die geschichtliche Aufgabe wäre, die
Subalternität als Massenphänomen zu überwinden.
Subaltern ist jemand, der geistig unselbständig ist, sich unterwürfig
verhält, auf niederem geistigen Niveau steht, nur eingeschränkt
selbständige Entscheidungen treffen kann. Indem diese Verhal-tensmodi
zurückgedrängt würden, darin sieht Bahro die Chance, Alternativen
zu etablieren, die von der grenzenlosen Expansion der materiellen Bedürfnisse
wegführen. Die Subalternität in ihren verschiedenen Graden und
Ausprägungen begreift er als Folge der ganzen modernen Pro-duktionsweise,
die daher nur überwunden werden kann, wenn man sie umgestaltet. Von
ihm wird auch problematisiert, die Herrschaft der vergangenen, vergegenständlichten
Arbeit über die gegenwärtige Gesellschaft. Diese aufgebauten
Potentiale würden den Produktionsapparat, die Infrastrukturen, den
bürokratischen Überbau und die Ideologieproduktion derart prägen,
daß an den allseitig entwickelten Menschen, den Marx noch wünschte,
überhaupt nicht mehr zu denken sei.
Havemann hält Bahros Begriff von der Subalternität der Massen
nicht für glücklich gewählt. Sein Argument ist, man könne
der Bevölkerung nicht vorwerfen, sich nicht genügend für
wissen-schaftliche Zusammenhänge zu interessieren. Der Mangel sei
eher, es gäbe nicht genügend Lehrer, die Zusammenhänge
auf einfache, anschauliche und direkte Weise übermitteln können.
Havemanns Argument ist sicher nicht falsch, aber er trifft damit meiner
Meinung nach nicht die ganze Breite des Subalternitätsbegriffes.
Zudem geht er davon aus, die gebildeteren Schichten in der DDR, also etwa
Universitätslehrer u.a. hätten diesbezüglich eine Bringeschuld.
Dies kann man akzeptieren. Dennoch bleibt die Frage, ob die durchschnittliche
Verfaßtheit in der Psychostruktur der Bevölkerung, die Art
der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt dominant emanzipatorischen
Charakter trägt oder ob dies eher nicht zutrifft. Da spricht einiges
dafür, dies so zu thematisieren wie Bahro, wobei man ein genaueres
Instrumentarium bräuchte für die Beschreibung der Verhältnisse.
Erich Fromm spricht zum Beispiel für die westliche Gesellschaft davon,
daß die Marketingorientierung sehr stark in der Bevölkerung
ausgeprägt ist, als ein Basiselement subalterner Daseinweise. Für
die östlichen Gesellschaften ergeben sich da ein paar Verschiebungen
gerade in dem Bereich, aber das ließe sich sicher genauer beschreiben.
Und im weiteren Sinne, mehr auf die heutige Situation zugeschnitten,
angesichts der Option, daß die jetzigen Generationen faktisch mit
ihrem Lebensstil die zukünftigen Generationen geradezu hinrichten,
darf man begründete Zweifel haben, daß es das Problem der gesellschaftlichen
Subalternität nicht gäbe.
Der Reformprozeß, so Bahro, muß eine Umverteilung der Arbeit
zur Folge haben. Alle sollten etwa gleichen Anteil an Tätigkeiten
ausüben können auf den verschiedenen Funktionsniveaus. Niemand
dürfte mehr auf eine Funktion festgelegt werden. Also der Physiker
hätte eben auch seinen Anteil an den niederen Arbeiten zu leisten
und niemand sollte nur auf Reinigungsarbeiten festgelegt werden. Dieser
Gedanke dürfte nach wie vor interessant sein für jede emanzipatorisch
ausgelegte Gesellschaftsveränderung. Dies ist natürlich nicht
nur eine fundamentale Kritik am stalinistischen Pseudosozialismus, sondern
zugleich auch an den westlichen Plutokratien.
Aufgehoben soll die Schichtdifferenzierung nach Bildungsgraden werden
und sozial inkompetentes Spezialistentum zurückgedrängt. Unbeschränkten
Zugang zu höchster Allgemeinbildung will Bahro geschaffen wissen.
Jeder kann universitäre Bildung in Anspruch nehmen. Ein Erziehungsstil,
der die Individuen auf eine patriarchale Leistungsgesellschaft hin trimmt,
darf nicht weiter verfolgt werden. Vordringen solle die Freiheit der Selbstbildung.
Erziehungspraktiken, die im Kind nur Angst erzeugen und das Vertrauen
in sein soziales Umfeld unterminieren, wollte er abgeschafft wissen. Wo
die Initiative der Kinder mit Schuldgefühlen vergiftet wird, seine
Leistungen abgewertet und der eigene Wille gebrochen werden, kann keine
freie Persönlichkeit entstehen.
Ziel einer sozialistischen Ökonomie könne nicht sein, sagt Havemann,
immer mehr Produktion aufzubauen und den Konsum der Menschen zu erhöhen.
Statt dessen müsse die notwendige Ar-beitszeit ständig gesenkt
werden. Die Individuen dürften selbst entscheiden, in welchen Lebens-abschnitten
sie wieviel Zeit arbeiten. Sie sollten Zeit gewinnen, um sich mehr Wissen
anzueignen, Kunst kennenzulernen und verstehen zu lernen und selbst als
Lehrende in verschiedenen Bereichen tätig werden. Er thematisiert
dann noch die Sorge, die deutliche Verringerung der Lebens-arbeitszeit
könnte dazu führen, daß mehr Zeit für den Bau des
eigenen Hauses z.B. oder mehr Genuß von Alkohol zur Folge habe.
Letztlich vermag er jedoch nicht schlüssig begründen, wie man
einen erheblichen Anteil der Menschen für das von ihm favorisierte
Tätigsein gewinnen könne. Das spricht freilich nicht gegen das
Anliegen selbst.
Analog artikuliert Bahro, daß der Industrialismus in einigen Weltregionen
bereits das zuträgliche Maß überschritten hat. Wir vernutzen,
worauf andere Völker und spätere Generationen ein An-recht für
ihr Leben hätten. Unser Erfolg in der Beherrschung der Natur droht
uns als ökologische Selbstvernichtung einzuholen. Gesellschaftlicher
Fortschritt müsse also in Zukunft völlig anders verstanden werden.
6. Parteiumbau und Sozialismus mit menschlichem Antlitz
Die Apparateherrschaft, die papstkirchliche Struktur und der durch und
durch kuriale Geist der Parteihierarchie muß restlos beseitigt werden,
so Bahro. Ohne diesen radikalen Schnitt wird es niemals innerparteiliche
Demokratie geben. Die Mitgliedschaft muß die kollektive Souveränität
über den Parteiapparat hinweg herstellen. Die herrschenden Parteiapparate
haben mit der kom-munistischen Idee rein gar nichts zu tun. Sie verhalten
sich wie der Großinquisitor zu Jesus Chri-stus.
Bahro sieht in der "Alternative", sie erscheint 1977 in der
Bundesrepublik, die kommunistische Idee müsse organisatorisch neu
formiert werden. Dabei sei es geschichtlich offen, ob sich ein kommunistischer
Bund, so nennt er die reformorientierten Kräfte, als eine neue Partei
neben der alten konstituiere oder aus der alten eine neue Partei sich
herausentwickelt , wie dies beim "Prager Frühling" der
Fall war. Erinnert sei daran, daß er bereits in seinen ersten Jahren
in West-deutschland auch den DDR-Widerstand, der sich im Kirchenbereich
zu entwickeln beginnt, für unterstützenswert hält.
Robert Havemann mißversteht Bahro in dem Punkt Parteientwicklung.
Er sieht nur den Hinweis auf den kommunistischen Bund als sprachliche
Formel, den er als eine neue Partei identifiziert, wozu sicher auch diverse
andere Ausführungen Bahros verleiten. In der "Alternative"
ist jedoch ganz klar ausgeführt, man kann der Geschichte nicht vorschreiben,
ob sich die SED selbst ändert oder von außen geändert
werden muß. 1989 zeigte sich dann in der spezifischen DDR-Konstellation,
der Anstoß zur Veränderung mußte von außen kommen,
während in der UdSSR aus dem Apparat selbst Perestroika und Glasnost
initiiert wurden. Zudem fällt auf, wie wichtig einzelne Persönlichkeiten
werden können.
Havemann macht sich stark für die Option, die SED zu reformieren.
Eine legale Gründung eines kommunistischen Bundes sieht er in der
DDR nicht für möglich an. Eine illegale Gründung würde
nur die Arbeit der Staatssicherheit erleichtern. So könnte die innerparteiliche
Opposition, da mit Namen und Adresse verfügbar, sehr viel schneller
ausgebootet werden. Sorge hat er auch, daß sich dort eine rein ideologische
Gegenpartei herausbildet, die unter Umständen mit verschärftem
Anspruch auftritt, Avantgarde und elitäre Kaderpartei zu sein. Diese
Gefahr sieht er, wenn eine entspanntere Lage in der DDR ein solches Projekt
zulassen würde. Gewiß, ganz auszuschließen wäre
die Dominanz unproduktiven Besserwissens nicht gewesen, jedoch nicht unbedingt
zwingend. Allerdings in einem anderen Text, der früher entstanden
ist, dokumentiert Havemann noch einen anderen Blickwinkel auf das Problem.
Wenn die SED aufgelöst würde, dann müßte man einen
Bund der Kommunisten gründen, aber man sollte das anders nennen,
die Bezeichnung wäre nicht glücklich. Dies ist aber keine Frage,
die in der gegenwärtigen Situation schon zur Debatte stünde.
Wohl auch die Erfahrung von 1968 in Prag läßt ihn eher auf
Opposition in der bestehenden Partei setzen. Zwar sieht er die Partei
durch zahlreiche Lobhudler und Karrieristen zersetzt, doch fühlt
er sich mit den Genossen auch verbunden. Da ist kein unversöhnlicher
Gegner, den man bekämpfen muß, so wie es die Nazis gewesen
sind.
Das kann natürlich von ihm auch eine etwas taktische gefärbte
Äußerung sein, auch zu verstehen als Signal an Parteimitglieder,
sich selbst in Bewegung zu setzen, statt sich an die gegebenen Um-stände
anzupassen. Er wirkte eben von der DDR aus auf die DDR ein. Bahro meint
im Gegensatz zu Havemann ganz klar, man müsse damit aufhören
zu glauben, man habe es nur mit oberflächlich bürokratisierten
Kommunisten zu tun, denen man nur mal gründlicher ins verkrustete
Gewissen reden müsse. Dies sei eine Illusion, die die Eigeninteressen
bürokratischer Verstrebungen nicht berücksichtige.
Die herrschenden Parteien im stalinistischen Pseudosozialismus in ihrem
Ist-Zustand bieten für Bahro keine Basis für eine emanzipatorische
Umgestaltung der Gesellschaft. Ihre "führende" Rolle trage
eine gänzlich repressive Kontur. Sie haben sich völlig an die
Apparatinteressen ausverkauft und bilden deren militante Spitze, wachen
in eifersüchtigster Weise über die Staatsautorität. Die
Unkontrollierbarkeit des Politbüros und die bis an die Basis reichenden
Apparate sind ein zentrales Problem , an dem die Weichen umgelegt werden
müssen. In diesen Punkten scheint mir Bahros Kritik schärfer
als Havemanns.
Bahro rechnet damit, daß wenn ein Reformprozeß in Gang kommt,
es zu einer Art Doppelherr-schaft kommt. Schritt um Schritt müßte
die etatistische Seite an Gewicht verlieren. Er sieht die Möglichkeit,
daß ein Bündnis aller Kräfte und Strömungen zustande
kommt, die sich aus der Gefangenschaft der selbstgeschaffenen Zwänge
herausführen. Was er ablehnt, ist ein Parteimo-nopol oder ein Monopol
einer bestimmten weltanschaulichen Richtung. Gewinnen sollte man für
ein Reformprojekt alle, die sich von der versteinerten Parteibürokratie
und deren Sachzwängen in den pseudosozialistischen Ländern befreien
wollen. Dies ohne Rücksicht darauf, welch offizielles Gesicht man
bisher gezeigt hat. Er selbst sagt, es könne nicht um eine Sekte
von Kryptokommu-nisten gehen, die sich in Szene setzt. Hier hebt sich
Bahro selbst von der Befürchtung Havemanns ab, da könne am
Ende ein extra Verein für Besserwisserei stehen.
7. Die deutsche Widervereinigung und zwei verschieden gescheiterte Systeme
Bis hierher sollten ein paar wesentliche Züge gezeigt werden, auf
was für eine DDR und was für eine Art sozialistisches System
Robert Havemann und Rudolf Bahro orientierten und wie der Weg dorthin
hätte aussehen können. Viele Aspekte gelten natürlich auch
für die anderen spätsta-linistischen Staaten, von denen die
meisten fast zur selben Zeit wie die DDR implodieren.
Bei Havemann findet sich der Hinweis auf die DDR-Verfassung, und daß
der Artikel 27 jedem Bürger das Recht auf freie Meinungsäußerung
gewährt und auch die Forderung, der Staat müsse dieses Recht
endlich auch gewähren. Genau diese Forderung wird man bei der größten
Demon-stration gegen das bisherige System in der DDR am 4. November 1989
in hervorgehobener Form wiederfinden. Doch viel mehr wird nicht bleiben
von der Idee eines "Berliner Frühlings" und dem Wunsch
einer kulturellen Umwälzung der "DDR-deutschen" Gesellschaft.
Es bleiben auf der politischen Ebene nur regressive Verhaltensmuster,
der Anschluß an das wirtschaftsstärkere Deutschland. Die vormaligen
gesellschaftlichen Zustände hatten dafür sozialpsychologisch
optimal die Bahn geschaffen.
Jedoch, und dies ist in der Tat bemerkenswert, beide Systemkritiker hatten
über diesen Punkt hinausgedacht, gleichwohl sie nicht unbedingt zwangsläufig
diesen Gang der Geschichte voraus-gesehen haben, Bahro räumt auch
ganz klar ein, daß er mit einer so schnellen Vereinigung der beiden
deutschen Staaten nicht gerechnet hatte, eine Einschätzung, die wohl
fast alle Menschen zur damaligen Wendezeit geteilt haben. Dennoch kalkulierten
beide Kritiker eine solche Möglichkeit ein. So sieht Bahro 1987,
mit Perestroika und Glasnost wäre der Weg geöffnet für
eine Wiedervereinigung Europas. Und weiter meint er, somit hat auch die
Wiedervereinigung Deutschlands begonnen. Es wird möglich, den eisernen
Vorhang samt Mauer zu überwinden. Diese Behauptung kann für
diese Zeit schon als sehr kühn gelten. Es ist zu vermuten, er wird
eher ein partnerschaftliches längerfristiges Zusammenwachsen gemeint
haben, ganz sicher keine Schlüsselübergabe an den Westen.
Dies geht auch ganz klar aus einem Beitrag in seinem ersten Buch hervor,
das er nach seiner Haftentlassung aus Bautzen schieb. In "Elemente
einer neuen Politik" führt er 1980 aus, eine Wiedervereinigung
Deutschlands ist nur sinnvoll diskutierbar in zwei Fällen, die geschichtlich
bedeutende Veränderungen voraussetzen. Die Blockkonfrontation müßte
sich aufgelöst haben oder beide deutsche Staaten sich aus dem jeweils
östlichen bzw. westlichen Block herauslösen, was nur in einer
begonnenen Entspannungssituation realistisch wäre. Bahro geht davon
aus, Havemann stellt sich dies ähnlich vor, wenn er von Wiedervereinigung
spricht.
Man kann nicht umhin, Bahro ein sehr feines Gespür für die Einwicklungen
im Ostblock zu atte-stieren. So hält er in einem weiteren Band über
die Friedensbewegung, 1982 erschienen, fest, vor dem Hintergrund der Krise
in Polen kann man sehen, der Ost-West-Konflikt geht in seiner jetzi-gen
Gestalt zu Ende. Er weist auf seine Vorträge zum Buch "Die Alternative"
hin, wo er ausführte, die Sowjetunion könnte die osteuropäischen
Länder für ihren Block verlieren. Jetzt sei völlig klar,
sie wird ihre Peripherie verlieren.
Havemann meint, die politökonomischen Verhältnisse in der DDR
bieten einen besseren Aus-gangspunkt für eine emanzipatorische Gesellschaft.
Produktionsmittel, Grund und Boden sind weitgehend verstaatlicht, Privateigentum
an der Industrie wie in den westlichen Ländern gäbe es nicht
mehr. Diese Ausgangslage ist in der Tat ein erheblicher Vorteil, um zu
einer ökologischen Selbstbegrenzungsordnung zu kommen. Allein die
Stillegung großer Teile der heutigen Industrie-anlagen im Kontext
ökologischer Erfordernisse dürfte eigentumsrechtlich den westlichen
geprägten Gesellschaften fundamentale Schwierigkeiten bereiten.
Schon ein Blick auf die Regelungen für den versuchsweisen Atomausstieg
in Deutschland gibt einen Vorgeschmack darauf, wie kompliziert das wird.
Die andere Seite ist selbstverständlich, und da liegt ein Engpaß,
den Havemann nicht formuliert: Die DDR-Bürger waren in ihrer Mehrheit
natürlich von den Wohlstandsmöglichkeiten des Westens fasziniert
und wollten diese für sich selbst in Anspruch nehmen. Beschränkung
der eigenen Wohlfahrt, um die nachfolgenden Generationen nicht in Elend
und Siechtum zu stürzen, das war nicht im Denkhorizont vorhanden.
Und da liegt auch die entscheidende kulturellpsychologische Barriere.
Von daher war die DDR und andere Ostblockstaaten kein günstigerer
Ausgangspunkt für einen Wandel hin zu einem Ökosozialismus.
Eher schlechter, weil der Sog, die Entwicklung des Westens nachzuholen,
sehr groß war.
Jedoch zu sagen, wie Rudolf Bahro, die Abwicklung der DDR ist in erster
Linie auch eine Erlösung und Entlastung, um sich dann mit etwas
Zeitabstand den wirklichen epochalen Herausforderungen der ökologischen
Krise zu stellen , ist auch nur eingeschränkt zutreffend. Der ökonomische
Anpassungsprozeß in Ostdeutschland, wie verkehrt auch immer in seinen
Zielstellungen, ist jetzt sicher ein Problem des siegreichen Systems.
Dadurch ist der materiellen Nachholjagd nach DDR-spezifischem Muster der
Boden entzogen, zudem erübrigen sich zahlreiche Feindbilder und
ideologische Scheingefechte. Selbstverständlich konnte man auch den
Ballast des Ost-West-Konfliktes ablegen und damit auch die Gefahr des
atomaren Overkills zurückdrängen. Da ist schon ein erheblicher
Gewinn enthalten, unter Umständen aber nur von vorübergehender
Natur. Es bauen sich längst zahlreiche neue gravierende Weltkonflikte
auf, deren Ausgang schwer abzuschätzen ist. Auch um die letzten Öl-
und Gasressourcen kann man weltumspannende Kriege führen, im Zweifel
mit Atomwaffen. Selbst Terroristen lassen sich als Ersatzweltmacht hochpäppeln.
Doch die globalen sozialen Degradationen, die im Zuge der Globalisierung
Fuß fassen, verringern zumindest partiell den Freiraum für
ein Gegensteuern auf ökologischem Gebiet erheblich. Immer mehr zeigt
sich die extrem parasitäre Selbstentwicklungslogik der westlichen
Systeme. Wer über mehr Vermittlungsmacht in diesen Gesellschaften
verfügt, hat beim gesellschaftlichen Gierausgriff die besseren Karten,
und selbst die innere Peripherie im System, im eigenen Land wird skrupellos
ausgeplündert. Das mag auf dem jetzigen Level noch existentiell betrachtet
unbedrohlich scheinen, wird aber in den kommenden Niedergangsperioden
dieser Zivilisation zu absurd extremen sozialen Ungleichgewichten führen,
wie wir sie schon heute aus anderen Weltregionen kennen. Das könnte
sich zu sehr explosivem Zündstoff auswachsen, von dem auch weitergehende
gesellschaftliche Entgleisungen ihren Ausgang nehmen, noch bevor die ökologische
Weltzerstörung zur Dominante gesellschaftlichen Reagieren-müssens
wird.
Alles in allem ist das wiederum keine Basis für ein emanzipatorisches
Kultursystem, auch wenn klar sein sollte, daß wir unsere sozialen
Interessen nicht auf Kosten zukünftiger Generationen bedienen dürfen
und hier eine Rücknahme unserer Ansprüche unvermeidlich ist.
Es ist eine Illusion, wenn Bahro meint, daß durch den Untergang
der DDR Impulse weitergehen könnten, die in diesem Systemprojekt
mitgemeint waren und die nur durch das Absterben des östlichen Anlaufs
erst wirklich sich entfalten können. Man hat bestenfalls den theoretischen
Freiraum für eine neue Alternative. Einstweilen dominieren die von
Bahro auch festgestellten geschichtlich beispiellosen Trägheitskräfte.
Gewiß ist es begrüßenswert, daß die spätstalinistischen
Systeme weitgehend abgeschafft sind. Doch es ist auch klar zu sehen, das
Fehlen der östlichen Systeme als Gegenmacht führte dazu daß
in den westlichen Ländern soziale und demokratische Zukunftsfähigkeit
im Gegensatz zu früher, immer mehr als überflüssig betrachtet
wird. Überdies ist der Blickwinkel DDR viel zu eng. Sieht man die
Verhältnisse in Rußland und anderen Nachfolgestaaten der UdSSR,
stellt sich schon die Frage, ob nicht eine erfolgreiche Perestroika, die
auch ihre eigenen Mängel zu überwinden in der Lage gewesen
wäre, eine günstigere Option hätte sein können, als
der heutige mafiaartige Kapitalismus und ein teilweise völliger
Rückfall in soziale Verelendung, dort wo es in der jeweiligen Region
keine Entwicklungspotentiale gibt.
Bahro schreibt 1995, das östliche System mußte an jedem Reformversuch
kaputtgehen, dies sei zwangsläufig gewesen. Ich teile diese Einschätzung
grundsätzlich nicht, obwohl, diese Ein-schränkung scheint mir
sinnvoll, das kulturelle Niveau, das die systemtragenden Eliten repräsen-tierten,
das mußte in der Tat weg, das mußte scheitern oder "gescheitert"
werden. Damit ist das "Wie" und "Wohin" noch nicht
festgelegt. Immerhin räumt Bahro ein, man hätte trotzdem Reform
versuchen müssen, auch wenn sie nicht erfolgreich hätte sein
können. An dem Punkt, bin ich mit ihm insoweit einverstanden, daß
etwa eine DDR-Perestroika ab 1986 vielleicht auch zu einer Vereinigung
hätte führen können. Doch man würde mit ganz anderen
Verhandlungspotentialen in diesen Prozeß gegangen sein, und dieser
Anschluß auf niedrigstem Level, so wie er stattgefunden hat, wäre
vermeidbar gewesen. Auch diese Art deutsch-deutscher "Vernietung"
wäre sicher nicht gleichgewichtig gewesen.
Viel spricht für die Idee Havemanns, über eine grundsätzliche
Reform der östlichen Systeme zu einem neuen Gesellschaftsmodell zu
gelangen. Er betonte sie immer wieder. Bahro hatte diese Idee natürlich
genauso, stellte sie nur mit dem Zusammenbruch des Ostblocks zur Debatte.
Ich glaube nicht, daß man den "Prager Frühling" 1968
und "Glasnost und Perestroika" in der UdSSR als tatsächlich
realisierte Versuche, dies zu beginnen, völlig aus den Augen verlieren
darf. Diesen politischen Aufbrüchen nur die Möglichkeit des
Scheiterns zu attestieren, ist zu kurz gedacht, gleichwohl man ihre unglückliche
Positionierung nicht leugnen muß. Nur wenig veränderte ge-schichtliche
Konstellationen würden genügt haben, und es gäbe nach wie
vor den Ostblock, und da könnte immer noch die Frage sein, wohin
reformiert man diese gesellschaftliche "Fehlgeburt", wenn Plutokratien
nach westlichem Muster eine Option mit Aussicht ist, sich den nächsten
möglichen Totalitarismus, aus der ökologischen Begrenzungsproblematik
heraus, an den Hals zu holen, so angenehm ihre unmittelbaren Wohlstandsversprechen,
beschränkt auf die Kernstaaten, sind.
Mir scheint die Auseinandersetzung Bahros mit der DDR und den östlichen
Systemen nach der Wende zu wenig durchdacht. Man kann auf seine Aussagen
kommen, angesichts der massiven publizistischen Drücke, die damals
überall spürbar waren und des offensichtlichen geistigen Bankrotts
der DDR. Die Aufgabe dieses Reformimpulses war aber auch, das sollte man
nicht vergessen, durch die Wunschvorstellung vom goldenen Westen gespeist,
sowohl bei der Bevölke-rung und in kehrseitiger Ausführung beim
politbürokratischen Personal. Man jagte dem selben Modell auf fast
analoge Weise nach, einmal in DDR-Fassung und einmal im Original. Dahinter
steht eine Vorstellung von gesellschaftlicher Entwicklung, die im 21.
Jahrhundert geschichtlich gerichtet werden wird und deren Nichtaufgabe
mit hoher Wahrscheinlichkeit totalitäre Systeme produzieren wird.
Auf die Idee zu kommen, nur aus dem westlichen System heraus könne
man eine ökologische Begrenzungsordnung etablieren mit nichtkapitalistischem
Anspruch, scheint mir eine unerlaubte Einschränkung zu sein. Das
ist die Schlußfolgerung, die man aus Bahros Aussagen ziehen muß.
Etwa in "Logik der Rettung" sagt er ganz klar, der kapitalistische
Systemantrieb und der dazuge-hörige Kulturzusammenhang müssen
überwunden werden. Seine späten Aussagen, zur Reform-möglichkeit
der östlichen Systeme stehen im Wiederspruch zu seinen Aussagen in
welche Richtung die westlichen Staaten systemüberwunden werden müssen,
noch in seinen Vorlesungen zum zukunftsfähigen Deutschland 1996 betont
er gerade diese Komponente.
Nun mag dieser Streitpunkt sich praktisch weitgehend erledigt haben, auch
wenn man nicht weiß, ob Kuba und China dem europäischen Beispiel
folgen werden oder was auch möglich ist, eine negative gesellschaftliche
Lösungsvariante einschlagen, so wie wir sie z.B. in Jugoslawien sehen
mußten. Auf Grund der Erfahrungen, die seit 1989 gesammelt werden
konnten, läßt sich jedoch inzwischen darauf kommen, die Einführung
"rohkapitalisitischer" Verhältnisse speziell in weniger
entwickelten Ländern kann selbst unter der konventionellen Wohlstandsoption
zu zweifelhaften Ergebnissen führen.
8. Über die DDR hinaus: Die ökologische Herausforderung
Ein bemerkenswerter Umstand ist, daß beide bedeutenden Regimekritiker
aus der DDR über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Staat auf
die Ökologieschiene übergehen und das als Do-minante für
die Zukunft dieser Zivilisation begreifen. In diesem Kontext ist eigentlich
auch noch Wolfgang Harich zu nennen, der ebenfalls diese Notwendigkeit
in seinem Buch "Kommunismus ohne Wachstum" zum Ausdruck bringt,
gleichwohl hier die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen System
nicht geführt wird. Es ist an der Zeit, dieses umfassende Einbetten
von Rot in Grün, womit auch eine völlige Neupolung von Rot verknüpft
ist, als Zeichen an die Nachgeborenen zu begreifen, als ein Warnhinweis,
der eindringlicher gar nicht sein kann.
Havemann konstatiert, die Erforschung der ökologischen Gleichgewichte
und Regelsysteme des Planeten stehe ganz am Anfang. Für die Gesellschaften
sieht er das Problem, ökologische Systeme reagieren mit erheblicher
zeitlicher Verzögerung auf die vom Menschen vorgenommenen Eingriffe.
Damit befindet sich die Zivilisation in einer Art Zeitfalle. Selbst wenn
intensive Gegenmaßnahmen ergriffen werden, um die ökologische
Degradation aufzuhalten, können die menschengemachten Wirkungen
nicht mehr abgewendet werden, auch wenn die Ursachen dafür längst
beseitigt sind. So formuliert er hier schon indirekt, die jetzigen Generationen
leben auf Kosten der zukünftigen Generationen. Für ihn ist längst
die Grenze der zulässigen Umweltverschmutzung erreicht, und eine
weitere Zunahme sei unakzeptabel. Überdies macht er auf die begrenzten
Rohstoffvorkommen des Planeten aufmerksam.
Bei Rudolf Bahro findet man den Versuch, gestützt auf Wolfram Ziegler,
den Energiedurchsatz pro Quadratkilometer mit einem "Schadäquivalent"
für den regional ermittelten Umfang an Stoffumwandlung und die Natureingriffe
in Beziehung zu setzen. Ausgangspunkt ist, die eingesetzte technische
Fremdenergie sei der entscheidende Hebel unseres Eingriffs. Mittelbar
gekoppelt wäre daran auch der Materialverbrauch und die Naturvergiftung-
und Zerstörung. Es ist natürlich außerordentlich kompliziert,
die biosphärischen Belastungsgrenzen in konkrete Maßzahlen
und Anhaltspunkte zu übersetzen, schon weil sich viele nichtlineare
Entwicklungen in den Ökosystemen nur schwer wissenschaftlich exakt
beschreiben lassen. Dennoch ist es ein interessanter Ansatz zu sagen,
wir markieren mit einer Kennzahl den "Belastungsdruck" auf die
Biosphäre, angegeben in Kilowatt(äquivalent)stunden pro km2
je Tag. Damit geht man in jedem Fall einen deutlichen Schritt weiter,
als die meisten anderen auch aktuellen Bücher im Umweltbereich. Diese
Kennzahl kann aber bestenfalls der Versuch einer groben Näherungsgröße
sein.
Verdeutlicht wird von Bahro auch das Übergewicht der menschengemachten
Infrastruktur. Er zieht hier ebenfalls Daten von Ziegler heran. Der Mensch
bringt in bezug auf Westdeutschland 150 Kilogramm Lebendgewicht pro Hektar
auf die Waage, während alle anderen Tiere der freien Wildbahn, einschließlich
Vögel nur mit 8 bis 8,5 Kilogramm pro Hektar ins Gewicht fallen.
Für den Menschen kommen noch mal 300 Kilogramm pro Hektar hinzu an
Tieren, die er für den eigenen Verzehr und Gebrauch hält. Insgesamt
belastet der Mensch jeden Hektar im Schnitt mit 2 Tonnen an Infrastruktur.
Für Bahro ist klar, wir müssen das Schadensprodukt aus Energie-
und Materialdurchsatz um eine Zehnerpotenz zurücknehmen. Er propagiert
den Ausstieg aus der Megamaschine, auch aus dem kleinen Auto. Militärische
und industrielle Abrüstung stünde an. Wir müßten
das Industriesystem hinter uns lassen. Wenn man darauf insistiert, man
muß auf ungefähr 90 Prozent industrieller Struktur hierzulande
verzichten, dann kann man verlangen, daß dies gründlicher belegt
wird, als Bahro dies vornimmt. Es reicht nicht aus, die eben angeführten
Fakten auszubreiten und ein paar Hinweise auf den extremen Anstieg des
Artensterbens, die Probleme des Bevölkerungswachstums und den Ozonschwund
in der Stratosphäre zu geben, um diese These zu belegen. Man wird
aus den Büchern und Artikeln Bahros gewiß eine ganze Reihe
Bruchstücke an Beweismaterial zusammentragen können. Ausreichend
als Beleg ist dies nicht. Ähnliche Probleme kann man ohne Zweifel
auch bei anderen Ökologen beobachten, wenngleich daß Mißverhältnis
von Behauptung und Beweislage nicht so stark ist.
Dies heißt nun keineswegs, diese Überlegung von Bahro wäre
falsch. Die Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" stellt
1996 fest, bis 2050 müsse Deutschland seinen Kohlendioxidausstoß
um 90 Prozent zurücknehmen. Nimmt man noch die formulierte Notwendigkeit
der Studie hinzu, die Materialverbräuche drastisch zu reduzieren,
kommt man der Problembeschreibung Bahros schon sehr nahe, auch wenn die
Studie ihre eigenen Erkenntnisse in den aufgezeigten gesellschaftlichen
Leitbildern noch dem Publikum schönt. Die Schwierigkeit ist letztlich,
daß man unzählige Daten zusammenführen kann und dennoch
den Faktor 10 nicht streng wissenschaftlich zu untermauern vermag. Die
andere Seite ist die, wer sich die vielfältigen Auswirkungen der
menschengemachten Klimagefahr, des Artensterbens und andere Prozesse
gründlich besieht, kommt sehr schnell darauf, daß uns besonders
die nichtlinearen Auswirkungen, schon die, die uns bekannt sind, sehr
schnell umfassend weltzerstörerische Kontur annehmen dürften.
Nur, hier umfassende Belege beizubringen, macht sich Bahro nicht die
Mühe, er setzt diese Kenntnis voraus. Auch folgender Umstand spricht
für Bahro: Wenn unsere Gesellschaften sich weiter mit kosmetischen
Kleinkorrekturen begnügen, sonst aber kein Kurswechsel erfolgt, ist
absehbar, daß sich die Konfliktpotentiale immer mehr aufbauen. Jedes
Jahr, das unverrichteterdinge verstreicht, bedeutet eine steigende Altlast.
Je mehr Treibhausgase in der Stratosphäre angekommen sind, desto
höher müssen die Reduktionsquoten ausfallen, um die schlimmsten
Folgen, z.B. der Klimaerwärmung, abzuwenden. Auf diesem Weg kann
man sehr schnell zu einer begründbaren Option gelangen, daß
man vollständig vom heutigen Industriesystem Abschied nehmen muß.
Die intelligenteste gesellschaftliche Zukunftsplanung ist dies freilich
nicht, nur die wahrscheinlichste, die wir angesichts der verfehlten gesellschaftlichen
Systeme, die wir uns heute noch halten, zu erwarten haben und auch weil
der Mensch in ihnen sich so verhält, wie er sich verhält.
Welche gesellschaftlichen Konsequenzen und Zukunftsbilder folgen nun für
die beiden Vordenker daraus, daß man die ökologischen Gleichgewichte
erhalten will? Sehen wir uns das näher an, ihre Problemgewichtungen
fallen nämlich teilweise unterschiedlich aus.
In Havemanns utopianischer Gesellschaft gibt es keinen Staat mehr, keine
Regierung, kein Militär und keine Polizei mehr. Die Menschen sind
so emanzipiert und selbstorganisiert in der Gesellschaft aktiv, daß
diese Einrichtungen nicht mehr nötig sind. Nur noch erforderlich
ist die Verwaltung von Sachen. Bahro meint, Deutschland könnte in
einen ziemlichen Haufen voneinander unabhängiger Ökorepubliken
zerfallen. Dabei würde nur noch wenig Instanz von Seiten der Bundesrepublik
oder einer Europäischen Union nötig sein. Die NATO wäre
überflüssig. Nur einen internationalen Rechtsrahmen würde
er gerne geschaffen wissen. Später formuliert er das etwas vorsichtiger
und sagt, ein wichtiger Ansatz von Verfassungsänderungen wäre,
daß die je regionaleren politischen Einheiten auf der Ebene Kommune
oder Landkreis z.B. ein leichtes Übergewicht in ihrem Entscheidungsspielraum
bekommen.
Insgesamt hält Bahro mehr Staat für nötig als Havemann.
Dieser geht mir bei seinem idealen Gesellschaftsbild von zuviel gesellschaftlicher
Selbstregelung aus, wo dann schon kritische Nach-fragen fällig sind,
ob es nicht sinnvoll sein kann, ein Mindestmaß an staatlicher Form
zu wahren. Über den Aufbau und den Wandel dieser Strukturen, über
die beste Regierungsform läßt sich sicher trefflich streiten.
Da sind die Ergebnisse, die die östlichen und westlichen Systeme
hervor-gebracht haben, sicher kaum vollendete Optimalformen. Die kommunistische
Idee vom völligen Absterben des Staates steht jedoch auf dem Prüfstand.
Ich würde sie für nicht zukunftsfähig hal-ten. Auch aus
vielen Äußerungen Bahros geht hervor, daß er staatliche
Regelung für sinnvoll hält, insbesondere für den ökologischen
Transformationsprozeß. So macht er deutlich, wir sollten den Staat
neu denken und schaffen jenseits der bisherigen repressiven Muster. Abgestreift
werden müsse die Tradition der Kämpfe um Machtmonopolisierung.
Notwendig ist, auf allen gesellschaftlichen Ebenen und Bereichen des gegebenen
Systems finden sich Menschen, die sich für eine grundlegende ökologische
Reform einsetzen und dafür versuchen, Einfluß zu erlangen.
Unterstützen kann den Weg zu einer Politik der ökologischen
Zeitenwende eine institutionelle Neuordnung. Dabei würde der Bundestag
zum Unterhaus, in dem die gesellschaftlichen Verteilungsinteressen ausgetragen
würden. Im ökologischen Oberhaus, als einer übergeordneten
parlamentarischen Kammer würden die langfristigen Interessen der
Gesellschaft abgesteckt und als Handlungsrahmen an den Bundestag weitergegeben.
Das Oberhaus wäre dabei kein Ort, den das Parteienkartell unter sich
aufteilen könnte. Das zu institutionalisieren ist, so denke ich,
gewiß keine leichte Aufgabe und setzt neben geeigneten demokratischen
Zugangsregeln ein umfassendes Bewußtsein über die Aufgabenstellung
einer ökologischen Rettung voraus. Dabei ist für Bahro klar,
Macht darf für eine andere Politik nur zur Begrenzung des überhandnehmenden
Unheils eingesetzt werden. Gute Zwecke kann sie nicht aus sich heraus
stiften, nur fördern. Keine noch so wohlmeinende Diktatur kann eine
emanzipatorische Gesellschaft befördern.
Kommen wir zu einigen materiellen Rahmenbedingungen. Die Gegenstände
des Gebrauchs sind in Havemanns Zukunftsvision äußerst langlebig.
Es gibt sie nur in einer sehr hochwertigen Ausführung und nicht
hunderte verschiedene Ausführungen, die auf einem kapitalistischen
Markt miteinander konkurrieren. Die Aufgaben der Technik werden nicht
mehr aus der naturwissenschaftlich-technologischen Sphäre heraus
entwickelt, sondern leiten sich ab von den gesellschaftlichen Zielsetzungen
der neuen ökologischen Ordnung Utopias.
Privaten Autoverkehr, auch öffentlichen Verkehr gibt es nicht mehr.
Straßen besitzen Selten-heitswert. Eisenbahnen existieren nur noch,
wo einzelne schwere Lasten, wie Eisenerze, bewegt werden müssen.
Die meisten Güter transportiert man über den Seeweg. Der Flugverkehr
ist ebenfalls eingestellt worden. Autos oder kleine Flugzeuge gibt es
nur noch für Forschungszwecke und spezielle Arbeitsaufgaben. Ebenso
sind Städte in Utopia unbekannt. Viele Menschen ernähren sich
vegetarisch, der Fleischverbrauch ist gering
In Havemanns Wunschland kommt man mit 10 Prozent des Energiebedarfs aus,
der einst in den Industriegesellschaften benötigt wurde. Die Abschaffung
jeglichen Militärs und der Verzicht auf den Auto- und Flugverkehr
ermöglichte diese Einschränkungen. Die Verwendung von Kohle
und Erdöl um Energie zu erzeugen, soll zunächst durch erneuerbare
Energien weitgehend ersetzt werden. Mit Hilfe von Sonnenenergie, Gezeiten,
Erdwärme, Wind- und Wasserkräften wäre der benötigte
Energiebedarf zu decken. Damit kann man einverstanden sein. Ob diese Energieproduktion
später durch Wasserstoff-Fusionskraftwerke ersetzt werden sollte,
scheint dann aber doch hochgradig fraglich. Da kommt dann der Naturwissenschaftler
sehr kräftig durch, vermutlich würde er es heute auch anders
sehen.
Bahro setzt auf die ursprünglichen Zyklen und Rhythmen des Lebens
die Priorität, nicht auf Fortschritt und Entwicklung. Für den
ökologisch ausgerichteten Kulturzusammenhang müßten eigentlich
viele Gebrauchsgegenstände zum zweiten Mal erfunden werden. Technik
und Techno-logie werden gebraucht, aber nur noch im Rahmen einer Grundversorgung.
Auch er will bedin-gungslos ohne Rüstung leben. Tiere dürfen
nicht gequält und vernutzt werden. Zur Debatte steht die touristische
Reise, das Autofahren, Medikamente sollte man wenig benutzen, nicht am
Geld-kreislauf der Banken teilnehmen und keine positivistische Wissenschaft
betreiben. Seine Positionen hier sind natürlich jetzt unmittelbarer
als lebbare Gegenalternative zur bundesrepublikanischen Gesellschaft
formuliert, während Havemann ein ökokommunistisches Zukunftsmodell
beschreibt. Bahro ist überdies sehr skeptisch darin, Vorstellungen
vom Zukunftssystem auf dem Reißbrett zu zeichnen.
Weiter geht Bahro davon aus, daß die Wirtschaft nicht mehr der zentrale
Bereich einer Gesell-schaft und des sozialen Lebens sein darf, die industriell-kapitalistische
Wirtschaftsgesellschaft unheilbarer Natur ist. Dies sieht Havemann ganz
analog und meint, indem der Kapitalismus die Produktivkräfte auf
das Äußerste antreibt und antreiben muß, kann er nur
existieren als Gesell-schaft, die auf Wachstum setzt. Ohne die Nutzung
dieser Triebkräfte geht er unter. Das scheint auf den ersten Blick
zutreffend zu sein. Nur sollte man heute bedenken, diese Ordnung kann
sich auch in eine eher totalitäre Perspektive hinein verwandeln,
und vielfach gibt es in weniger entwikkelten Staaten ein kapitalistisches
Grundmuster, daß Massenverelendung mit einschließt und auf
Wachstum nur sehr partiell angewiesen ist. Warum sollte dies für
die Metropolenländer nicht irgendwann auch zutreffen? Spätestens,
wenn uns der ökologische Boden wegbricht, wird diese Gefahr akut
werden, auch wenn man nicht sicher sein kann, wie sich das im einzelnen
geschichtlich konfiguriert.
Bahro sieht einen auf freiwilliger Einfachheit gegründeten Lebensstil
als Lösung. Er empfiehlt eine selbstversorgerische Regionalökonomie.
Geschaffen werden müßte ein hochproduktives Werkzeugsystem,
so daß nicht mehr als vier Stunden täglich notwendig sind,
um alle materiellen Erfordernisse herzustellen. Die Arbeitsteilung würde
wesentlich von lokalen, kommuneartigen Lebensgemeinschaften her aufgebaut.
Alle Grundversorgung wird in einem Transportradius von 25-30 Kilometern
abdeckt. Kleine Einheiten werden als notwendig angesehen, damit die Distanz
zu den Gegenständen unseres Handelns, Wünschens und Denkens
wieder enger zusammengeführt werden können.
Und jetzt das Havemannsche Kontrastprogramm dazu: Bei ihm wird die verbleibende
Produktion, wie gesagt ein winziger Bruchteil des heutigen Warenausstoßes
nur, der sehr langlebig ist, in vollständig automatisierten Fabriken
hergestellt. Nur wenige Spezialisten überwachen diesen gan-zen Produktionsprozeß.
Auf dem ganzen Planeten gibt es drei riesige unterirdische Werke, in denen
alle Produkte hergestellt werden. Eingespart wird die ganze wirtschaftliche
Verwaltungsbürokratie. Geld gibt es in Utopia nicht mehr. Jeder
kann sich in Versorgungszentren mitnehmen, was er an Waren braucht. Man
darf Zweifel haben, ob das gut gehen wird. Bahro argumentiert im Punkt
Geld im übrigen etwas vorsichtiger. Die große Masse der Bevölkerung
ist also nach Havemanns Modell weitgehend von Industriearbeit freigestellt.
Viele Menschen sind jedoch als Lehrer und Erzieher tätig, Lernende
und Lehrende zugleich, erst im höheren Alter nehmen andere Tätigkeiten
mehr Raum ein.
Wir haben hier also zwei recht verschiedene Optionen vorliegen, wie ökologische
Begrenzungs-ordnung verstanden werden kann. Beide dürften einige
Probleme aufwerfen und bieten zugleich interessante Lösungsansätze.
Sie gehen beide davon aus, man möchte den nächsten Generationen
die Luft zum Atmen lassen. Wenn zugleich akzeptiert wird, daß man
innerhalb der ökologischen Begrenzungen keine unnötig zwanghafte
und extreme Askese betreibt, sondern auch ein gewisses Maß an Annehmlichkeiten
organisieren will, kommt man unter Umständen dazu, an dieser Stelle
einiges zusammenzudenken. Wenn ich 80 bis 90 Prozent dessen, was ich brauche,
wieder vor Ort in meiner Kommune herstellen will oder doch im engsten
Umkreis , so spricht einiges dafür, daß dies in eine extreme
Arbeitsgesellschaft ausartet und nicht zu dem von Bahro gewünschten
Vier-Stunden-Arbeitstag führt. Andererseits halte ich es für
ein Unding, daß man alle Arbeiten voll automatisieren könnte
bis hin zur landwirtschaftlichen Produktion, wie das Havemann vorschwebt.
Vom Prinzip her ist Bahros Herangehen richtig, wenn er sagt, alles was
man in unmittelbarer Nähe herstellen kann, sollte dort hergestellt
werden. Dies gilt insbesondere für alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse.
Auch sein hochproduktives Werkzeugsystem scheint mir ein plausibler Ansatz.
Man muß vielleicht auch noch mit viel mehr Phantasie und Kreativität
herangehen, was sich alles in diesem engeren Radius herstellen läßt.
Aber es gibt, denke ich, auch etliche Technologien oder Geräte, die
industrielle Produktionsrahmen voraussetzen, auf die man auch im ökologischen
Zeitalter Wert legt. Da sind dann vielleicht nicht Havemanns globale Fabriken
gefragt, sondern sinnvollere Größenordnungen, und im Einzelfall
kann es auch effektiver sein, mal einen Automatisierungsschritt dabei
zu haben. So wird man möglicherweise bei verschiedenen medizinischen
Geräten darauf kommen, daß diese unter Umständen in modifizierter
Form ganz hilfreich sein dürften. Zahnärztliche Behandlungsinstrumente
werde ich nicht drei Dörfer weiter herstellen können. Da wird
man schnell darauf kommen, daß man solche Geräte in einer Produktionsstätte
für ganz Deutschland herstellt. Dieses Industriesegment, daß
sicher auch etliches andere einschließt, wird gewiß nur einen
Bruchteil der heutigen Ausmaße haben können, und man muß
jeweils prüfen, welcher Versorgungsradius der jeweils ökologisch
sinnvollste ist. Man darf diesbezüglich nicht allzu dogmatisch vorgehen,
sollte aber klar im Blick haben, wir müssen bei niedrigst möglichen
Material- und Stoffverbräuchen ankommen. Die verbleibende Energieversorgung
wäre komplett solar zu bestreiten, und die Produkte benötigen
höchste Öko-effizienz und längstmögliche Gebrauchsdauer.
Diese Art von Wirtschaftsorganisation setzt aller-dings starke Planelemente
voraus, wo es erforderlich sein wird, auch neue Ansatzpunkte für
In-novationsfähigkeit zu finden, die nicht von den Steigerungen des
Betriebsgewinns ihre aus-schließlichen Triebkräfte bezieht.
Havemann spricht davon, in seinem Utopia gäbe es kein privates Eigentum.
Bahro will die innere Staatssouveränität gegenüber dem
Kapital und den individuellen Interessen wieder herstellen. Soweit es
die Produktionssphäre betrifft, wird man ohne Zweifel sehr ernste
Probleme mit der kapitalistischen Reproduktionsweise und Gesellschaftskultur
bekommen, mit ihrem Drang zur Nimmersattheit. In dem Band "Wege zur
ökologischen Zeitenwende" hatte ich den Vorschlag gemacht, die
Eigentumsfrage in der Richtung zu bedenken, daß 50 Prozent gesellschaftlich
ver-waltet werden einschließlich starker wirtschaftsdemokratischer
Instrumente und dazu die Werktätigen zu 50 Prozent reales Volkseigentum
an ihrer Arbeitsstätte besitzen. Darüber hinaus sind über
einen gewissen Freiraum hinaus auch politische Steuerinstrumente zur Reichtumsbegren-zung
in der Gesellschaft sinnvoll. Soweit nur ein paar Umrisse dieses Vorschlages.
Auch das Pro-blem, in der Landwirtschaftskooperative kann man weniger
finanzielle Existenzmittel erwirt-schaften, als in der Produktionsstätte,
wo die Zahnarztbohrer hergestellt werden, muß man be-rücksichtigen
und in geeignete Regeln binden. Die 50 Prozent können im einzelnen
demokratisch auch modifiziert werden durch das Wirtschaftsparlament. Wichtig
ist es, eine Gesamtgerechtigkeit zu erreichen.
Mit einem Zitat von Ivan Illich verweist Bahro darauf, es wäre nicht
sinnvoll, eine begrenzte In-dustriegesellschaft zu akzeptieren. Diese
würde eine konviviale, also lebensfreudige, Produkti-onsweise in
noch weitere Ferne rücken und die bürokratische Verwaltung stärken.
Natürlich besteht die Gefahr, daß im ökologischen Notstand
nur noch privilegierte Gesellschaftsschichten sich mit Gütern versorgen
können und der Rest der Bevölkerung auf der Strecke bleibt und
das Ganze mit einem restindustriellen Sektor organisiert wird. Die heutige
Asozialität der Plutokratien würde dann auf ein ökologisches
Begrenzungsmodell übertragen. Nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft,
geschützt durch Mauer und Stacheldraht, hat dann noch ihr Auskommen,
Analoges findet man heute bereits in armen Ländern.
Eine solche Perspektive ist natürlich jenseits jeglicher Akzeptanz
und mit den alternativen Über-legungen, die angedeutet sind, nicht
gemeint. Meine Kommentierung des Illich-Zitats war jetzt sehr wohlwollend,
gleichwohl denke ich, daß es in bezug auf Zukunftsmodelle nicht
aussagefähig ist und vorschnell Optionen in Frage stellt.
Ein letzter Gedanke zu diesem Themenensemble. Vorausgeschickt sei, Bahro
hat sich zu Lebzeiten Havemanns auch in Beiträgen von der Bundesrepublik
aus nach seiner Ausreise 1979 für dessen Engagement stark gemacht.
Havemanns ökologisch-sozialutopisches Werk "Morgen" erschien
1980, zwei Jahre später stirbt er in Grünheide. Ihm fehlen also
wichtige Jahre beim Fortgang der ökologischen Debatte, zudem war
er auch erheblich isoliert, mit von der Stasi beräumter Bibliothek.
Bahro kritisiert Havemann, er wäre zu sehr auf die Naturwissenschaften
fixiert gewesen und hätte ihnen eine Führungsrolle für
die gesellschaftliche Entwicklung zugedacht. Dies findet er vor dem Hintergrund
seiner Auseinandersetzung mit der Politbürokratie verständlich.
Bahro verweist dar-auf, daß Technik und Wissenschaft maßgeblich
die heutige Zivilisationskrise mitverursacht haben. Jetzt dort die Hoffnungen
zu konzentrieren, auf einen materiellen Zugang zur Lösung zu setzen,
greife zu kurz.
Nun ist zutreffend, Havemann setzt auf einige gewagte gesellschaftliche
Modellalternativen, die auf technischen Fortschritt gestützt sind,
deren problematische Seiten auch hier im Text schon angerissen wurden.
Unabhängig davon gibt es ein Gesamtangebot, das Havemann bat, kritisch
zu hinterfragen, was ich so eindimensional, wie Bahro das tut, nicht disqualifizieren
würde. In jedem Fall ist Havemann der kreativere Zukunftsforscher,
das muß man erst mal zugeben.
Anführen kann man zudem, daß er sich in seiner Sozialutopie
keinesfalls auf technische Artefakte beschränkt, sondern die Formen
des gesellschaftlichen, familiären und wahlverwandtschaftlichen Zusammenlebens
viel Raum einnehmen. Kunst, Kultur und selbstbestimmte Formen des Lernens
spielen bei Havemanns Sicht eine sehr dominante Rolle. Der Gedankenwelt
des chinesischen Weisen Laotse räumen beide Denker Raum in ihrem
Werk ein, und auch in der Befürwortung freien Liebeslebens scheinen
sie sich sehr einig zu sein. Also Havemanns Zugang zu gesell-schaftlichen
Alternativmodellen ist nur partiell technisch fixiert.
Macht man den Zeitvergleich und setzt die "Alternative" von
Bahro mit dem "Morgen" von Ha-vemann in Beziehung, die "Alternative"
erschien 1977, so wird man unschwer feststellen, bei Havemann ist die
ökologische Komponente sehr viel dominanter ausgeprägt. Erst
mit "Elemente einer neuen Politik", 1980 nach Bahros Haft erschienen,
wird die grüne Schiene deutlicher, aber auch in diesem Vergleich
werden die Konsequenzen der ökologischen Krise von Havemann, so scheint
mir, deutlicher angesprochen. Diese Gewichtung kehrt sich erst mit den
späteren Veröf-fentlichungen Bahros um. Insofern ist es vielleicht
nicht ganz fair, wenn Bahro davon spricht, Havemann hätte sich am
konventionellsten mit dem ökologischen Thema auseinandergesetzt im
Vergleich mit Harich und Bahro. Harich behandelt sicher das ökologische
Thema sehr zentral und zeigt unmißverständlich die Grenzen
unseres Wohlstandsmodells auf. Jedoch seine gesell-schaftlichen Lösungsvorschläge
wirken dann doch nicht sehr überzeugend, vor allen Dingen, weil er
damit in der politbürokratisch-stalinistischen Matrix verbleibt.
Bahro konzentriert sich sehr dominant auf den seelischen Innenbau des
neuen Kultursystems. Er will eine Ordnung, die nicht auf Geld, Beton und
Mikrochips gebaut ist, sondern eine mit men-schenwürdigem Antlitz,
die Herz und Geist in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Projekts
rückt. Bahro setzt auf eine anthropologische Revolution. Die Gesellschaft
soll auf bisher unerschlossene, unentfaltete Bewußtseinskräfte
gegründet werden. Unsere Kultur und Zivilisation muß sich verabschieden
von ihrem Aktionszwang, weg von einer Grundhaltung, in der der Geist nur
als kompensatorisches Machtinstrument dient. Nötig ist, die Ich-besorgten
Verhaftungen zu überwinden, zu einem Tiefenwandel des Bewußtseins
zu kommen und die menschlichen We-senskräfte neu zu integrieren.
Herausbilden muß sich ein Wertesystem mit überpersönlicher
Gül-tigkeit und Verbindlichkeit, in dem aufsteigen kann, was die
Menschheit in ihren besten Augen-blicken spirituell erarbeitet hat. Wir
brauchen eine Emanzipation von der Selbstsucht und vom Habenmüssen.
Die anthropologische Revolution versteht Bahro so, daß sie von schöpferischen
Minderheiten auf den Weg gebracht wird und hier nicht statistische quantitative
Wahrscheinlichkeiten entscheiden. Dennoch scheint mir das terminologisch
eher ein evolutionärer Vorgang als eine anthropologische Revolution,
eine Sphäre, die so unterschiedliche Ideen verbindet wie die Existenzweise
des Sein von Erich Fromm oder die aperspektivische Weltsicht Jean Gebsers.
Entscheidend dürfte sein, nach den menschlichen Maßen des
inneren Wandels zu fragen. Was ist zuträglich, und wo beginnt die
Überdehnung von Ansprüchen mit intellektuellen Mitteln, wo verläßt
spiritueller Aktionszwang die ausschließlich heilende Perspektive?
Ist das ganze Bezugssystem richtig zueinander geordnet? Die Bemerkung
Volker Brauns in seinem Vortrag anläßlich der gedenkenden Veranstaltung
in der Berliner Humboldt-Universität zum 65. Geburtstag Bahros, wo
er zum Ausdruck brachte, er hätte Sorge Bahro könnte sich zu
sehr "verglaubt" haben, kann vielleicht auch ein Indiz sein,
daß generell mehr Transparenz im spirituellen Dialog hilfreich sein
kann.
Besonders in den letzten 10-12 Lebensjahren besinnt sich Bahro sehr auf
die geistigen Grundla-gen, die ihm für eine ökologische Ordnung
und Politik grundlegend und ausschlaggebend er-scheinen. Angesichts dessen,
da dies oft ausgeblendet bleibt bei der Betrachtung gesellschaftlichen
Zukunftsoptionen, ist dies mehr als sinnvoll. Nur wenn man dann die gesellschaftsstrukturellen,
materiellen und technologischen Reformelemente und Zukunftsbausteine nur
noch rudimentär thematisiert, erwächst daraus ein Schwachpunkt.
Bevor man überdies die Probleme des "Verglaubens" vertieft,
sei jedoch nachdrücklich darauf hingewiesen, sich erst mal die Substanz
anzusehen, die Bahro für die Aufklärung nach innen, für
den inneren Wandel des Menschen zusammengetragen hat, besonders in "Logik
der Rettung", aber auch sein letzter Aufsatz zum "Homo Integralis"
sei empfohlen. Das ist dann ein völlig anderes Level, von dem aus
man Fragen stellt. Man hat es mit sehr lohnenden Ansätzen zu tun.
Mir scheint dafür auch eine gewisse sozialpsychologische Vorbildung
hilfreich.
Havemann thematisiert, daß die Menschen in seinem Utopia in einer
fast widerspruchslosen Harmonie leben, aggressive Verhaltensweisen sehr
in den Hintergrund getreten sind, es aber ver-stecktere Disharmonien als
heute gäbe, die aus höheren Formen der Selbstverwirklichung
herrüh-ren. In der jetzigen Zeit würde viel menschliche Aktivität
um das Haben von Menschen und Sa-chen vergeudet. Diese Art des unersättlichen
In-Besitznehmens sei in der neuen Ordnung über-wunden worden. Das
Nichthaben wird als innerer Reichtum gelebt. Das "Ich" der Menschen,
steht sich nicht mehr ein Leben lang selbst im Wege. Angeführt wird
bei der Reise nach Utopia auch Laotses Hinweis, das hohe Leben sei Handeln
ohne Absicht. Es macht den Eindruck, als ob Havemanns ganze neue Ordnung
von diesem Grundsatz her aufgebaut sein könnte. Auch hier liegen
Havemann und Bahro in der Suchrichtung dicht beieinander, auch wenn dieser
Stoff bei Bahro in einer umfassenden Gründlichkeit durchgearbeitet
wurde, zu der Havemann nicht gekommen ist.
9. Schluß
Rudolf Bahro und Robert Havemann hatten durch die repressive DDR-Situation
und weil sie sich den Mund und das Denken nicht verbieten ließen,
nie Gelegenheit zu einem direkten Gespräch und intensiven Gedankenaustausch.
Es hätte beiden nützlich sein können, sich die Ideen des
anderen genauer anzuhören. All das ist inzwischen Geschichte. Ein
"Berliner Frühling" steht nicht mehr zur Debatte. Jedoch
der Kampf um eine ökologische Rettung der Zivilisation muß
erst beginnen. Selbst wenn, was wahrscheinlich ist, es nur noch darum
gehen wird, die schlimmsten sozialökologischen Degradationen abzuwenden,
bleibt die Aufgabe. Sie muß dann unter extrem erschwerten Bedingungen
erfolgen. Alles wird auf neuen Bahnen zu denken sein. Das selbstideologisierte
westliche System, zumindest seine prominentesten Teile, hat Perspektiven,
wie sie hier angedeutet sind, nicht nötig zu diskutieren. Man gefällt
sich im Nichtwissen, Nichtsehen und Nichtkönnen. Das kommt allen
teuer zu stehen.
Wird es eine Generation von neuen Querdenkern geben, die vielleicht auch
in manchem weit-blickender über bessere Gesellschaftssysteme nachdenken
als sie bisher bedacht wurden? Oder wird man sich damit zufrieden geben,
ein System zu hofieren, hier und da ein bißchen zu kritisieren,
das schuldhaft jegliche Zukunftschancen unter seiner Siegespose zertrümmert?
Machen wir uns nichts vor, der Scherbenhaufen, den wir mit dem jetzigen
Lebens- und Systemmodell anrichten, wird schlimmer sein, als das was
12 Jahre deutscher Faschismus am Ende hinterlassen haben. Im globalen
Klimafieber wird es über Jahrhunderte kein Ende geben, wenn überhaupt
noch Bes-serung der biosphärischen Situation möglich ist. Unter
Umständen wird die Gattung Mensch erst erlöst sein, wenn wir
Wüstenplanet sind. Bahro wußte, auch Havemann thematisierte
das schon, wir könnten auf eine dunkle Zeit zugehen. Es wird vermutlich
einiges an gesellschaftlichen Verwerfungen auf uns zukommen. Es spricht
viel dafür, wir gehen in das dunkelste Zeitalter der menschlichen
Geschichte. Ich erinnere mich, Bahro sprach in einer Vorlesung davon,
es wird eine Pflasterstraße durch die Hölle werden. Es ist
die Botschaft der beiden Vordenker, eine Alternative zu dieser Entwicklung
zu suchen. Das ist ein bleibendes Verdienst.
Bahro verdeutlicht in "Logik der Rettung", natürlich wird
die westliche Demokratie ganz schnell im Notstand enden, mit einer zugehörigen
Regierung, eine diktatorische Junta, wenn die ökologischen Katastrophen
auf uns zukommen. Die Menschen werden vermehrt zu Objekten gemacht und
damit der Gesamtzustand der Gesellschaft nur verschlimmert. So eine Notstandsregierung
stellt dann in aller Klarheit unser geistiges Versagen heraus. Lauter
menschenfreundliche Begründungen und ehrenwerte Motive könnten
ausgenutzt und umgedreht werden. Für polizeiliche Rationierung werden
wir noch dankbar sein, weil so noch ein Mindestmaß an Lebenssicherheit
für einige Zeit gesichert werden könnte. All dies wird nicht
die perfide Verabredung von herrschenden Personenkreisen sein, sondern
resultiert aus der nicht vorhandenen Bereitschaft, eine eman-zipatorische
Gesellschaft rechtzeitig gesellschaftlich auf den Weg zu bringen, die
ökologische Selbstbegrenzung versucht umzusetzen.
Literatur:
Alt, Franz/ Bahro, Rudolf/ Ferst, Marko; Wege zur ökologischen Zeitenwende.
Reformalternati-ven und Visionen für ein zukunftsfähiges Kultursystem,
Berlin, 2002
Bahro, Rudolf; "Ich werde meinen Weg fortsetzen". Eine Dokumentation,
Köln, 1979
Bahro, Rudolf/ Mandel, Ernest/ von Oertzen, Peter; Was da alles auf uns
zukommt... . Perspek-tiven der 80er Jahre. Band 1, Berlin, 1980
Bahro, Rudolf; Elemente einer neuen Politik. Zum Verhältnis von Ökologie
und Sozialismus, Berlin, 1980
Bahro, Rudolf; Wahnsinn mit Methode. Über die Logik der Blockkonfrontation,
die Friedensbe-wegung, die Sowjetunion und die DKP, Berlin, 1982
Bahro, Rudolf; Pfeiler am anderen Ufer. Beiträge zur Politik der
Grünen von Hagen bis Karlsruhe, Berlin, 1984
Bahro, Rudolf; Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus,
Berlin, 1990
Bahro, Rudolf; Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein
Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Berlin, 1990
Bahro, Rudolf; Rückkehr. Die In-Weltkrise als Ursprung der Weltzerstörung,
Berlin, Frankfurt am Main, 1991
Bahro, Rudolf; Manchmal genügt eine Umschaltung in der Psyche, Neues
Deutschland, 30.5.1992
Bahro, Rudolf; Apokalypse oder Geist einer neuen Zeit, 1995
Bahro, Rudolf; Das Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR (unveröffentlichtes
Manuskript), 1995
Bahro, Rudolf/ Bisky, Lothar/ Ferst, Marko; Scheitern die Parteien an
der ökologischen Krise? Podiumsdiskussion am 12.4.1996 in der Berliner
Humboldt-Universität (unveröffentlichtes Ma-nuskript), 1996
BUND, Misereor; Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer
global nachhaltigen Ent-wicklung, Basel, 1996
Gorbatschow, Michail u.a.; Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR.
Dokumente und Materia-lien. 25. Mai - 9. Juni 1989, Moskau, 1989
Havemann, Robert; Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung,
Hamburg, 1964
Havemann, Robert; Berliner Schriften, Berlin, 1976
Havemann, Robert; Berliner Schriften (ergänzte Fassung), Berlin,
1977
Havemann, Robert; Morgen. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik
und reale Utopie, Frankfurt am Main, 1982
Havemann, Robert; Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde. Texte
eines Unbequemen, Berlin, 1990
Havemann, Robert; Die Stimme des Gewissens. Texte eines deutschen Antistalinisten,
Hamburg, 1990
Havemann, Robert; Fragen Antworten Fragen. Aus der Biographie eines deutschen
Marxisten, Berlin, 1990
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