Die Alternativen Havemanns und Bahros

Wie viel freiheitliche Momente tragen die sozialistischen Ideen in sich?


Von Marko Ferst


Bevor Ines Weber die beiden berühmtesten Oppositionellen der DDR auf ihre politiktheoretischen und ideengeschichtlichen Positionen hin untersucht und insbesondere nach ihren Freiheitsvorstellungen fragt, unternimmt sie eine Reise zurück zu Marx und Engels, deren theoretischen Grundlagen, läßt die leninschen Konzepte an uns vorübergleiten, um sodann die politische Architektur der DDR und ihres Regierungssystems auszuloten. Man würde sich wünschen, Marxens Äußerungen zur Pressezensur, die sie anführt, als ein „charakterloses Unwesen der Unfreiheit“ hätte einst auch dem Politbüro zu neuen marxistischen Einsichten verholfen. Weber zeigt plausibel auf, wie unvollständig die konkrete Gestaltung einer sozialistischen Alternative in Lenins Werk aufscheint. So schwer die Rahmenbedingungen durch das Ende des ersten Weltkrieges, die damit verbundene katastrophale soziale Lage und dem folgenden Bürgerkrieg mit ausländischen Interventionen waren: Hier identifiziert sie zu Recht, die demokratische Einbettung revolutionären Anspruchs, ließ von Anfang an stark zu wünschen übrig. Selbst unter der Annahme, nur die Interessen der Arbeiter und Bauern seien zu vertreten, trifft dies zu.
Man fragt sich überdies, ob einige Prämissen überhaupt angemessen waren, etwa dass der Sozialismus nur auf ein Land beschränkt, nicht umsetzbar sei, wenigstens das übrige Europa dazukommen müsste oder die Idee vom langfristigen Absterben des Staates im Kommunismus. Angesichts der millionenfachen unschuldigen Opfer des stalinschen Terrors, drängt sich die Frage auf, welche Barrieren diesen Blutzoll hätten verhindern können. Lenin wird Anlass gehabt haben, Stalin als Generalsekretär ablösen zu wollen, weil er nicht tolerant, loyal und höflich genug sei, zu launisch und für diese Funktion zu grob agiere. Es sei nicht günstig soviel Macht in seiner Hand zu konzentrieren. Bei der sowjetischen Entwicklung sollte man zudem auf die tiefenkulturellen Mentalitäten achten, die Rudolf Bahro zu recht im Blick hat, welche das Zarenzeitalter hinterlassen hatte. Die äußere Bedrohung der Sowjetunion und diese Muster macht er mitverantwortlich für den, so wörtlich, „Staatsterrorismus“.
Weber lobt an Robert Havemann, das er Überlegungen zu einer demokratischen Wahl der Volkskammer unternimmt. Es könnten zumindest verschiedene Personen zur Auswahl stehen. Neben einer Reform der SED, will er in der DDR Oppositionsgruppen und -parteien zulassen, ebenso alternative Zeitungen, Meinungsfreiheit müsse gewährleistet sein, kontroverser wissenschaftlicher Meinungsstreit ermöglicht. Gleiches gilt für die Reisefreiheit.
Bahro denkt an ein Bündnis aller Kräfte und Strömungen, die den Menschen aus der Gefangenschaft der selbst geschaffenen Sachzwänge herausführen möchte, will Zensurbehörden abschaffen. Es sei der Geschichte nicht vorzuschreiben, ob eine Veränderung durch den inneren Wandel in der SED oder durch einen neuen Bund der Kommunisten geschehen könne. Später wird er auch andere Oppositionsgruppen in der DDR begrüßen. Er gibt sich allerdings nicht der Illusion hin, nur eine Oppositionspartei müsse die Macht erringen. Er sieht, unfreie psychologische Ver-haltensmuster in der Gesellschaft müssen überwunden werden. Selbstverwaltung sollte von unten in die Institutionen hineinwachsen. Die Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse der Gesellschaft müssen demokratisiert werden. Das ist Weber zu wenig. Ohne parlamentarisches Wahlrecht, sei dies nicht freiheitlich genug.
Sowohl Havemann als auch Bahro hatten jedoch nicht vor durch die grundlegende Reform der DDR, einen Brückenkopf für eine kapitalistische Wiedervereinigung mit dem Westteil des Landes zu schaffen. Ein nur marginal auf den Wirtschaftsprozess Einfluss nehmendes Parlament mit Lobbystrukturen durchsetzt, das im Grunde die Herrschaftsstrukturen der etablierten westlichen Plutokratie nicht in Frage stellt, schien beiden eine Farce von Demokratie zu sein.
Havemann zeichnet in einer Reise ins ökologische Utopia in seinem Buch „Morgen“ wie er sich die kommunistische Zukunft vorstellt. Das sein Naturverständnis dabei instrumentell sei, dem ist nicht zu widersprechen. Wenn er aber nur noch ein Zehntel des Energieverbauchs benötigt sieht, extrem langlebige Produkte anstrebt und die heutige Autogesellschaft als überwunden darstellt, bedeutet dies jedoch eine grundsätzlich bessere Naturverträglichkeit.
Die Freiheit des Einzelnen muß prinzipiell dort ihre Grenze finden, wo die Freiheit anderer oder der Gesellschaft gefährdet wird. Die Freiheit der jetzigen Generation muß begrenzt werden, wo die Freiheit künftiger Generationen aus den Angeln gehoben wird durch eine vier oder sechs Grad heißere Welt. Darauf orientiert Bahros „Logik der Rettung“, die sich an die westdeutsche Gesellschaft richtete und konservative bis grünalternative Schichten ansprechen sollte. Behandelt wird die Psychodynamik einer ökologischen Umkehrpolitik. Manche Termini irritieren, selbst wenn diese von Gramsci stammen. Die präzise Kapitalismuskritik läßt darauf schließen, auch der Vergleich zu seinem Buch „Die Alternative“ legt das nahe, die ursprüngliche Ideen sind völlig verwandelt, Teil eines viel universelleren Denkkosmos geworden. Der Band ist geradezu gespickt damit wie eine ökologische Begrenzungsordnung emanzipatorisch angelegt werden kann, um damit ein neues totalitäres System zu verhindern. An der Bruchlinie dieses Konfliktes, hätte die Autorin sich dem Problem stellen müssen, welche freiheitlichen Aspekte mit den Interessen der künftigen Generationen kollidieren. Völlig berechtigt bleibt dagegen Webers Kritik, bundesweite Volksabstimmungen können nicht das Privileg von Parlamentskammern sein. Ob aber im Kontext der kommenden ökologischen Krise ein freilich demokratisch verfaßtes Ökologisches Oberhaus, mit Richtlinienkompetenz für den Bundestag, wie Bahro das vorschwebt, ungünstiger wäre wie Havemanns Idee ohne staatliche Steuerung auszukommen in seiner Utopie, muss bezweifelt werden. Wie intelligente Zugangskriterien für kompetente Kandidaturen für diese Kammer ohne direkten Parteienzugriff aussehen, dürfte eine Debatte wert sein.
Während die Autorin bei der Bewertung der Schriften Havemanns in vielen Aspekten zugestimmt werden kann, gilt dies nur sehr eingeschränkt für Bahro. Die komplexen Ideenstrukturen des Sozialökologen lassen freilich viel Spielraum für Interpretation. Mein Rat ist, die Originalschriften der beiden Denker selbst zu lesen. Heute wäre Rudolf Bahro 80 Jahre alt geworden.

Ines Weber: Sozialismus in der DDR. Alternative Gesellschaftskonzepte von Robert Havemann und Rudolf Bahro, Christoph Links Verlag, 344 S., 2015, 35 €

Neues Deutschland, 13.11.2015 (Original)



 

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