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Mensch und Erde
Rede 1913
auf dem Hohen Meißner
(Freideutscher
Jugendtag)
Ludwig Klages
Jede Zeit – und
zumal die unsre – hat ihre Schlagworte, mit denen sie ihre Tendenzen,
gleichwie mit Trommelwirbeln, verlautbart;
die Stimme
des Zweifels in den Reihen ihrer Anhänger betäubend und aus
den Unparteiischen immer neue Züge um ihre Fahne scharend.
Die drei stärksten der heutigen lauten „Fortschritt“, „Kultur“ und
„Persönlichkeit“; so jedoch, daß der Fortschrittsgedanke –
als allein der Gegenwart eigentümlich – die beiden andern trägt
und ihnen im herrschenden Denken die charakteristische Farbe leiht. Sie
meint also, sich überlegen zu fühlen – so den Naturvölkern
als nicht minder den ihr voraufgegangenen Geschichtsabschnitten, und
hat auf die Frage, worauf sie das gründe, die Antwort bereit: die
Wissenschaft stehe auf nie zuvor erreichter Höhe, die Technik beherrsche
die Natur, vor der jede frühere Menschheit ratlos zurückgewichen
sei; aus den unerschöpflichen Vorräten der Erde speise sie
planmäßig das allgemeine Wohl; Raum und Zeit durchdringe mit
der fernsprechenden Ätherwelle der Geist; und sogar das grenzenlose
Luftmeer habe nun endlich sein Erfindergenie „erobert“.
Nicht für überzeugte Bekenner dieses Glaubens, die mit ihm
sterben werden, wohl aber für ein jüngeres Geschlecht, das
noch fragt, wollen wir versuchen, wenigstens an einer Stelle den Schleier
zu lüften und die bedrohliche Selbsttäuschung aufzudecken,
die er verhüllt. Auch wem die furchtbaren Folgen noch fremd geblieben,
die der Leitgedanke des „Fortschritts“ gezeigt hat, müßte
angesichts jener Gründe stutzig werden.
Dem antiken Hellenen war Höchsterwünschtes die „Kalokagathie“
– das ist die innere und äußere Menschenschönheit, die
er im Bilde der Olympier sah; dem Mittelalter das „Heil der Seele“, worunter
es die geistige Erhebung zu Gott verstand; dem Goetheschen Menschen die
Vollkommenheit der Haltung, die „Meisterschaft“ im Wechsel der Geschicke.
Und wie verschieden solche Ziele – wir verstehen ohne weiteres das tiefe
Glück in der Erreichung eines jeden. Worauf aber der Fortschrittler
stolz ist, sind bloße Erfolge, sind Machtzuwachse der Menschheit,
die er gedankenlos mit Wertzuwachsen verwechselt, und wir müssen
bezweifeln, ob er ein Glück zu würdigen fähig sei und
nicht vielmehr nur die leere Befriedigung kenne, die das Bewußtsein
der Herrschaft gibt. Macht allein ist blind gegen alle Werte, blind gegen
Wahrheit und Recht und, wo sie diese noch zulassen muß, ganz gewiß blind
gegen Schönheit und Leben. Wir knüpfen bei unsrer Gegenrechnung
an Wohlbekanntes an.
Die Höhe der Wissenschaft sei zugegeben – und wie wenig sie auch
vor jeder Anfechtung sicher ist; die der Technik steht außer Zweifel.
Was aber sind davon die Früchte, nach denen wir gemäß einem
weisen Bibelwort den Wert alles menschlichen Tuns ermessen sollen?
Beginnen wir mit solchen Erscheinungsformen des Lebens, deren Lebendigkeit
niemals
bestritten wurde: mit den Pflanzen und Tieren.
— Die alten Völker träumten von einem verlorenen „goldenen
Zeitalter“ oder Paradiese, wo der Löwe friedlich mit dem Lamm, die
Schlange – als prophetischer Schutzgeist – mit dem Menschen, hauste.
Das sind so ganz nicht Träume gewesen, wie es uns jene Irrlehre
glauben macht, die aus der Natur immer nur eines herauslas: den schrankenlosen
„Kampf ums Dasein“.
Polarforscher erzählen uns von der furchtlosen Zutraulichkeit der
Pinguine, Rentiere, Seelöwen, Robben, ja der Möven beim ersten
Erscheinen des Menschen. Pioniere der Tropen werden nicht müde,
uns mit Erstaunen die Bilder kaum betretener Steppen zu entrollen, wo
in friedlicher Gesellung durch einander wimmeln Wildgänse, Kraniche,
Ibisse, Flamingos, Reiher, Störche, Marabus, Giraffen, Zebras,
Gnus, Antilopen, Gazellen.
Von den eigentlichen Symbiosen vollends wissen wir, daß sie durch
das ganze Tierreich und über die ganze Erde verbreitet sind. Wo
aber der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, deren er sich rühmt,
hat er ringsumher Mord gesät und Grauen des Todes. Was blieb bei
uns z. B. von der Tierwelt Germaniens? Bär und Wolf, Luchs und Wildkatze,
Wisent, Elch und Auerochs, Adler und Geier, Kranich und Falke, Schwan
und Uhu waren zur Fabel geworden, ehe noch der moderne Vernichtungskrieg
einsetzte. Der aber hat gründlicher aufgeräumt. Unter dem schwachsinnigsten
aller Vorwände, daß unzählige Tierarten „schädlich“
seien, hat er nahezu alles ausgerottet, was nicht Hase, Rebhuhn, Reh,
Fasan und allenfalls noch Wildschwein heißt.
Eber, Steinbock, Fuchs, Marder, Wiesel, Dachs und Otter - Tiere, an
deren jedes die Legende uralte Erinnerungen knüpft, sind zusammengeschmolzen,
wo nicht schon völlig dahin; Flußmöve, Seeschwalbe, Kormoran,
Taucher, Reiher, Eisvogel, Königsweih, Eule rücksichtsloser
Verfolgung, die Robbenbänke der Ost- und Nordsee der Vertilgung
preisgegeben.
....
Und das gleiche Schicksal droht über kurz oder lang allen Tiergeschlechtern,
soweit sie der Mensch nicht gezüchtet oder verhäuslicht hat.
– Die Milliarden Pelztiere Nordamerikas, die unzähligen Blaufüchse,
Zobeltiere, Hermeline Sibiriens erliegen den Exzessen der Mode. – Seit
im Jahre 1908 in Kopenhagen eine Aktiengesellschaft entstand „zum Betrieb
von Walfischfang in großem Stile und nach einer neuen Methode“,
nämlich mit schwimmenden Fabriken, welche die erlegten Tiere sogleich
verarbeiten, wurden im Laufe der beiden folgenden Jahre rund fünfhunderttausend
dieses größten Säugers der Erde hingeschlachtet, und
der Tag ist nahe, wo der Wal der Geschichte und – den Museen angehört.
– Jahrtausendelang durchstreifte zu Millionen der amerikanische Büffel,
das liebste Jagdwild des Indianers, die Prärie. Kaum aber, daß der
„fortgeschrittene“ Europäer das Land betreten, so begann ein entsetzliches
und sinnloses Morden, und heute ist es mit dem Bison aus und vorbei.
Das nämliche Trauerspiel wiederholt sich zur Zeit in Afrika.
„Um die sogenannte Kulturmenschheit mit Billardkugeln, Stockknöpfen,
feinen Kämmen und Fächern und ähnlichen ungeheuer nützlichen
Gegenständen zu versehen, werden nach den neuesten Berechnungen
des Pariser Forschers Tournier achthunderttausend Kilogramm Elfenbein
jährlich verarbeitet. Das ist gleichbedeutend mit der Niedermetzelung
von fünfzigtausend der gewaltigsten Tiere der Welt. Nach den neuesten
Mitteilungen hat von dem Augenblick an, wo der Kongostaat die Verwaltung
des Bezirks Lado aufgab, eine englische Jagdgesellschaft eine Elefantenherde
von achttausend Köpfen umzingelt und niedergemacht, die Weibchen
und Jungen eingeschlossen.“ —
Im gleichen Stil werden schonungslos hingemordet Antilopen, Nashörner,
Wildpferde, Känguruhs, Giraffen, Strauße, Gnus in den tropischen,
Eisbären, Moschusochsen, Polarfüchse, Walrosse, Seehunde in
den arktischen Zonen. Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die
Menschheit ergriffen, die „Zivilisation“ trägt die Züge entfesselter
Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch.
So also sehen die Früchte des „Fortschritts“ aus!
...
Wir brauchen es nicht zu entscheiden, ob das Leben über die Welt
der Eigenwesen hinausreiche oder nicht, ob die Erde, wie es der Glaube
der Alten wollte, ein lebendes Wesen oder aber (nach der Ansicht der
Neueren) ein unfühlender Klumpen „toter Materie“ sei; denn soviel
steht fest, daß Gelände, Wolkenspiel, Gewässer, Pflanzenhülle
und Geschäftigkeit der Tiere aus jeder Landschaft ein tieferregendes
Ganze wirken, welches das Einzellebendige wie in einer Arche umfängt,
es einverwebend dem großen Geschehen des Alls. Im Tönesturm
des Planeten unentbehrliche Akkorde sind die erhabene Ode der Wüste,
die Feierlichkeit des Hochgebirges, die ziehende Wehmut weiter Heiden,
das geheimnisvolle Weben des Hochwaldes, das Pulsen seeblitzender Küstenstriche.
Ihnen betteten sich ein oder es blieben träumend mit ihnen verschmolzen
die ursprünglichen Werke des Menschen. Ob wir den Blick auf den
mahnenden Tiefsinn richten der Pyramiden, Sphinxreihen, lotosknäufigen
Säulen Ägyptens, auf die scheinhafte Zierlichkeit chinesischer
Glockentürme, die gegliederte Klarheit hellenischer Tempel oder
auf die warme Heimlichkeit des niederdeutschen Bauernhauses, die Steppenfreiheit
des Tatarenzeltes — sie atmen ein jedes und offenbaren die Seele der
Landschaft, aus der sie emporgewachsen. Schrecklicher noch, als was wir
bisher gehört, wenn auch vielleicht nicht ganz im gleichen Maße
unverbesserbar, sind die Wirkungen des „Fortschritts“ auf das Bild
besiedelter Gegenden.
Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung und Erde,
vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied
der Landschaft. Dieselben Schienenstränge, Telegraphendrähte,
Starkstromleitungen durchschneiden mit roher Geradlinigkeit Wald und
Bergprofile, sei es hier, sei es in Indien, Ägypten, Australien,
Amerika; die gleichen grauen vielstöckigen Mietskasernen reihen
sich einförmig aneinander, wo immer der Bildungsmensch seine „segenbringende“
Tätigkeit entfaltet; bei uns wie anderswo werden die Gefilde „verkoppelt“,
d.h. in rechteckige und quadratische Stücke zerschnitten, Gräben
zugeschüttet, blühende Hecken rasiert, schilfumstandene Weiher
ausgetrocknet; die blühende Wildnis der Forste von ehedem hat ungemischten
Beständen zu weichen, soldatisch in Reihen gestellt und ohne das
Dickicht des „schädlichen“ Unterholzes; aus den Flußläufen,
welche einst in labyrinthischen Krümmungen zwischen üppigen
Hängen glitten, macht man schnurgerade Kanäle; die Stromschnellen
und Wasserfälle, und wäre es selbst der Niagara, haben elektrische
Sammelstellen zu speisen; Wälder von Schloten steigen an ihren Ufern
empor, und die giftigen Abwässer der Fabriken verjauchen das lautere
Naß der Erde — kurz, das Anlitz der Festländer verwandelt
sich allgemach in ein mit Landwirtschaft durchsetztes Chicago!
„O mein Gott“, rief schon vor hundert Jahren der ritterliche Achim
von Arnim aus, „wo sind die alten Bäume, unter denen wir noch gestern
richteten, die uralten Zeichen fester Grenzen, was ist damit geschehen,
was geschieht? Fast vergessen sind sie schon unter dem Volke, schmerzlich
stoßen wir uns an ihren Wurzeln. Ist der Scheitel hoher Berge nur
einmal ganz abgeholzt, es wächst da kein Holz wieder; daß Deutschland
nicht so verwirtschaftet werde, sei unser Bemühen!“ Und Lenau faßte
die landschaftlichen Eindrücke, die er in unserer Heimat empfangen,
in die Worte zusammen, man habe die Natur an der Gurgel gepackt, daß ihr
das Blut aus allen Poren spritzte. Was würden diese Männer
heute sagen! Heute zögen sie es vielleicht vor, gleich Heinrich
von Kleist eine Erde zu verlassen, die ihr entarteter Sohn, der Mensch,
solchermaßen geschändet hat. „Die Verwüstungen des Dreißigjährigen
Krieges haben nicht so gründlich in Stadt und Land mit dem Erbe
der Vergangenheit aufgeräumt wie die Übergriffe des modernen
Lebens mit seiner rücksichtslos einseitigen Verfolgung praktischer
Zwecke.“ (Aus dem Gründungsaufruf des Bundes für Heimatschutz.)
—
Was aber das heuchlerische Naturgefühl der sogenannten Touristik
anlangt, so brauchen wir wohl kaum noch auf die Verwüstungen hinzuweisen,
welche die „Erschließung“ weltfremder Küsten und Gebirgstäler
nach sich zog.
...
Aber mit alledem nicht genug, die Wut der Vertilgung hat auch durch
die Menschheit ihre blutige Furche gezogen. Dahingeschwunden sind ganz
oder
nahezu, weil entweder niedergemacht und ausgehungert oder zu hoffnungslosem
Siechtum verurteilt durch die Geschenke des „Fortschritts“: Branntwein,
Opium, Syphilis, die Naturvölker. Aus und vorbei ist es mit den
Indianern, vorbei mit den Urbewohnern Australiens, vorbei mit allen besten
der polynesischen Stämme; die tapfersten Negervölker widerstreben
und erliegen der „Zivilisation“ ...
...
Wir täuschten uns nicht, als wir den „Fortschritt“ leerer Machtgelüste
verdächtig fanden, und wir sehen, daß Methode im Wahnwitz
der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von „Nutzen“, „wirtschaftlicher
Entwicklung“, „Kultur“ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens
aus. Er trifft es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder,
streicht die Tiergeschlechter, löscht die ursprünglichen Völker
aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis der Gewerblichkeit
die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch überläßt,
gleich dem „Schlachtvieh“ zur bloßen Ware, zum vogelfreien Gegenstande
eines schrankenlosen Beutehungers. In seinem Dienste aber steht die gesamte
Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne
der Wissenschaft.
...
Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr, sei es als Sklaven
des „Berufs“, die sich maschinenhaft im Dienste großer Betriebe
verbrauchen, sei es als Sklaven des Geldes, besinnungslos anheimgegeben
dem Zahlendelirium der Aktien und Gründungen, sei es endlich als
Sklaven großstädtischen Zerstreuungstaumels; ebenso viele
aber fühlen dumpf den Zusammenbruch und die wachsende Freudlosigkeit.
In keiner Zeit noch war die Unzufriedenheit größer und vergiftender.
Gruppen und Grüppchen schließen sich rücksichtslos zusammen
um Sonderinteressen; im zähen Erhaltungskampfe stoßen hart
aufeinander Gewerbe, Stände, Völker, Rassen, Bekenntnisse
und innerhalb jedes Verbandes wieder voll Eigensucht und Ehrgeiz die
Einzelmenschen.
Und da der Mensch sich die Welt stets nach dem Bilde des eigenen Zustandes
deutet, so glaubt er auch in der Natur ein wüstes Ringen um Macht
zu sehen, wähnt sich im Recht, wenn er allein im „Kampf ums Dasein“ überblieb,
malt sich die Welt nach dem Gleichnis einer großen Maschine, wo
immer die Kolben nur stampfen, die Räder schnurren müssen,
damit „Energie“ – man sieht nicht zu welchem Ende – umgesetzt werde,
und bringt es mit einem geschwätzigen sogenannten Monismus fertig,
das billionenfältige Leben aller Gestirne umzufälschen und
herabzuwerten zum bloßen Sockel des menschlichen Ichs. Wie man
früher einmal die Liebe gepriesen oder die Entsagung oder gottrunkene
Entrücktheit, so treibt man heute eine Art Erfolgsreligion und verkündet
auf dem Grabe der Vorwelt jenen Kleinleuteglauben, den Nietzsches glühender
Hohn vorweggenommen, als er seinen „letzten Menschern mit Augenblinzeln
sagen ließ: »Wir haben das Glück erfunden!«
Die seichten Irrtümer all dieser Systeme, Sekten und Richtungen
werden freilich nicht von langer Dauer sein. – Die Natur kennt keinen
„Kampf ums Dasein“ sondern nur den aus der Fürsorge für das
Leben. Viele Insekten sterben nach dem Begattungsvorgang, so wenig legt
die Natur auf Erhaltung Gewicht, wenn nur in ähnlichen Formen die
Woge des Lebens weiterrollt. Was ein Tier das andre jagen und töten
läßt, ist das Bedürfnis des Hungers, nicht Erwerbssinn,
Ehrgeiz, Machtgelüste. Hier klafft ein Abgrund, den keine Entwicklungslogik
je überbrücken wird. Nie wurden denn Arten durch andre ausgerottet,
da jedem Zuviel auf der einen Seite alsbald der Rückschlag folgt,
indem durch stärkere Lichtung der Beute dem Feinde die Nahrung ausgeht;
sondern ihr Wechsel vollzog sich in riesenhaften Zeiträumen aus
planetarischen Gründen und führte eine beständige Vermehrung
der Unterformen herbei. Die Vertilgung Hunderter von Arten in wenigen
Menschenaltern läßt keine Vergleichung zu mit dem Aussterben
etwa der Saurier oder des Mammuts. – Ganz geistverlassen vollends ist
die Übertragung physikalischer Mengengesetze – wie dessen von der
Erhaltung der Kraft – auf Fragen des Lebens. Noch hat die Retorte keine
lebende Zelle hervorgebracht, und wenn sie es täte, so geschähe
es nicht durch eine Verknüpfung von „Kräften“, sondern weil
auch die chemischen Stoffe schon Leben bargen. Leben ist beständiger
Wiedererneuerung fähige Form; löschen wir diese aus, indem
wir die Art vertilgen, so ist die Erde für alle Zeiten um sie verarmt,
unbeschadet der sogenannten Erhaltung der Kräfte. – Solche Irrlehren
werden, wie gesagt, verschwinden, nicht aber die Folgen des realen Ereignisverlaufes,
von dem alle Lehrbegriffe ja doch nur der gedankliche Schatten sind.
In nichts findet die Meinung derer eine Stütze, welche die geschehene
Zerstörung für den Nebenerfolg vorübergehender Zustände
halten, auf die eine wiederaufbauende Tätigkeit folgen werde. Damit
kommen wir zum Sinn einer Vorgangsfolge, die man die „Weltgeschichte“
zu heißen pflegt.
Man verfehlt ihn gründlich, wenn man ihn sucht in den Leistungen
des „reinen Verstandes^ Wir müssen uns der allzu harmlosen Ansicht
entschlagen lernen, die Erkenntnis wachse durch die Gelehrten aus sich
selbst und jedes Folgegeschlecht mehre in Wissen und Können nur
eben die Erbschaft aller verflossenen. Daß die Griechen nicht drahten,
kabeln und funken konnten, erklärt das gewöhnliche Vorurteil
aus ihrem Minder an physikalischer Wissenschaft. Allein sie bauten Tempel,
meißelten Bildsäulen, schnitten Gemmen von einer Schönheit
und Zartheit, wie sie uns nicht mehr beschieden ist, die wir doch künstlichste
Instrumente zusammenfügen! Ohne Versuche zu machen und gestützt
auf alltägliche Wahrnehmungen, hinterließen sie Lehrgebäude
der Weisheit, die das Denken der abendländischen Menschheit anderthalb
Jahrtausende völlig und noch jetzt zum großen Teil bestimmen.
Die lehrbare Tugend des Sokrates kehrt etwas magerer wieder im „kategorischen
Imperativ“ Kants, die platonische Ideenlehre in der Ästhetik Schopenhauers,
das Gedankengerüst der chemischen Atomistik stammt von Demokrit!
Ist es angesichts dessen wahrscheinlicher, daß sie Physik nicht
trieben aus Unvermögen oder aber, weil sie es gar nicht wollten,
und dürfte nicht ihre Mystik mancherlei Einsicht bergen, die wir
verlernten?!
Ein andres Beispiel: Dem uralten Kulturvolk der Chinesen wären noch
heute alle neuzeitlichen Erfindungen fremd, hätten nicht wir sie
ihm aufgenötigt. Schlagen wir aber einen ihrer großen Philosophen
auf, die vor drittehalb Jahrtausenden blühten, einen Laotse oder
Liä Dsi, so spricht uns ein solcher Tiefsinn der Weisheit an, daß in
Vergleichung damit sogar ein Goethe zum Stümper wird. Wenn sie die
Wissenschaft nicht besaßen, mit deren Hilfe man Kanonen baut, Gebirge
sprengt, künstliche Butter macht, so liegt die Annahme näher,
daß sie daran kein Interesse hatten. Hinter der Erkenntnisbemühung
stehen fordernd und lenkend die Zwecke der Menschheit, und nur aus der
Richtung dieser können wir jene verstehen. - Damit die fortschrittliche
Forschung der Neuzeit einsetzen konnte, mußte der große Gesinnungswandel
vollzogen sein, dessen Ausübungsweise man Kapitalismus nennt.
Daß die glänzenden Errungenschaften der Physik und Chemie
einzig dem Kapital gedient, darüber besteht für denkende Köpfe
heute kein Zweifel mehr; aber nicht einmal schwer zu erweisen wäre
die gleiche Richtung in den herrschenden Lehren selbst. Die unterscheidend
besondere Leistung der neueren Wissenschaft, die Ersetzung aller Arteigenschaften
durch das bloße Mengenverhältnis, wiederholt nur im Sinne
der Erkenntnisgestaltung das Grundgesetz einer Willensführung, welche
den schimmernden Farbenreichtum seelischer Werte: des Blutes, der Schönheit,
Würde, Inbrunst, Anmut, Wärme, Mütterlichkeit dem erschlichenen
Wen jener eingebildeten Macht geopfert, die sich meßbar verkörpert
im Geldbesitz. Man hat ja dafür auch das Wort „Mammonismus“ geprägt;
allein wohl nur wenige sind sich bewußt geworden, daß dieser
Mammon ein wirkliches Wesen ist, das sich der Menschheit als eines Werkzeugs
bemächtigt, um das Leben der Erde auszutilgen. Darüber sei
noch ein aufschlußgebendes Wort erlaubt.
Wenn schon „Fortschritt“, „Zivilisation“, „Kapitalismus“ nur verschiedene
Seiten einer einzigen Willensrichtung bedeuten, so mögen wir uns
erinnern, daß deren Träger ausschließlich die Völker
der Christenheit sind. Nur innerhalb ihrer wurde Erfindung auf Erfindung
gehäuft, blühte die „exakte“, will sagen die zahlenmäßige
Wissenschaft und regte sich rücksichtslos der Erweiterungsdrang,
der die außerchristlichen Rassen knechten und die gesamte Natur
verwirtschaften will. Im Christentum also müssen die nächsten
Ursachen des weltgeschichtlichen „Fortschritts“ liegen. Nun hat zwar
das Christentum immer Liebe gepredigt, allein man betrachte diese Liebe
genauer, und man wird finden, daß sie im Grunde nur mit überredendem
Wort vergoldet ein bedingungsloses „Du sollst“ der Achtung, und zwar
allein des Menschen, des Menschen in vergötterter Gegenstellung
zur gesamten Natur. Mit Menschheitsgeltung oder „Humanität“ verschleiert
das Christentum, was es eigentlich meint: daß alles übrige
Leben wertlos sei, außer sofern es dem Menschen diene!
...
Der Kapitalismus samt seinem Wegbereiter, der Wissenschaft, ist in
Wirklichkeit eine Erfüllung des Christentums, die Kirche gleich ihm nur ein Interessenverband,
und das „Monon“ einer entgötterten Sittlichkeit meint ebendieselbe
Eins des lebenverfeindeten Ichs, die im Namen der alleinigen Gottheit
des Geistes der nicht auszuzählenden Göttervielheit der Welt
den Krieg erklärte, nur aber heute mit einem erblindeten All-Gedanken
verkuppelnd, was ehedem wenigstens wahrheitsgemäß mit drohender
Richtergebärde dem All gegenübertrat. »Alle jene Blüten sind gefallen
Von des Nordes schauerlichem Wehn.
Einen zu bereichern unter allen,
Mußte diese Götterwelt vergehn.«
Der eine aber, der sich bereichert wähnte, wenn er die Blüten
in den Staub trat, ist, wie nun deutlich wurde, der Mensch als Träger
des rechenverständigen Aneignungswillens, und die Götter, die
er vom Baume des Lebens trennte, sind die immer sich wandelnden Seelen
der Sinnenwelt, von der er sich losgerissen. Die Bilderfeindschaft, die
das Mittelalter selbstgeißlerisch im Innern nährte, mußte
nach außen treten, sobald sie ihr Ziel erreicht: den Zusammenhang
aufzuheben zwischen dem Menschen und der Seele der Erde. In seinen blutigen
Streichen gegen sämtliche Mitgeschöpfe vollendet er nur, was
er zuvor sich selbst getan: das Verwobensein in die bildernde Vielgestalt
und unerschöpfliche Fülle des Lebens hinzuopfern für das
heimatlose Darüberstehen einer weltabscheidenden Geistigkeit. Er
hat sich zerworfen mit dem Planeten, der ihn gebar und nährt, ja
mit dem Werdekreislauf aller Gestirne, weil er besessen ist von einer
vampyrischen Macht, die in den „Gesang der Sphären“ als ein schneidender
Mißton fuhr. An dieser Stelle aber wird es klar, daß in einem
noch viel älteren Entwicklungsgange das Christentum nur eine Epoche
bedeutet, durch die ein lange zuvor Begonnenes ruckartig seinen Abschluß und
zumal für Europa die werbende Form empfing.
Die Kraft nämlich, die aus dem Menschen sich gegen die Welt aufbäumt,
ist genau so alt wie die – „Weltgeschichte“! Der „Geschichte“ genannte
Entwicklungsgang, der aus der Kreisbahn des Geschehens hinausführt
und fürder nicht zu vergleichen ist dem Schicksal sonstiger Lebewesen,
beginnt in eben dem Augenblick, wo der Mensch den Zustand des „Paradieses“
verliert und unversehens mit entfremdeten Blicken in nüchterner
Helle draußen steht, entrissen dem unbewußten Zusammenklange
mit Pflanzen und Tieren, Wässern und Wolken, Felsen, Winden und
Sternen. Die Sagen beinahe aller Völker der Welt lassen uns blutige
Kämpfe schon in vorgeschichtlicher Zeit vermuten zwischen den eine
neue Ordnung bringenden „Sonnenhelden“ und den chthonischen Schicksalsmächten,
die in der Folge müssen hinuntertauchen in eine lichtverlassene
Unterwelt.
...
Dies aber ist überall der eine und selbe Sinn jener Neugestaltung,
mit der die „Geschichte“ anfängt: daß über die Seele
sich erhebe der Geist, über den Traum die begreifende Wachheit, über
das Leben, welches wird und vergeht, ein auf Beharrung gerichtetes Wirken.
Im Jahrtausende vorher eingeleiteten Werdegang der Geistesentfaltung
war das Christentum nur der letzte und entscheidende Schub, demzufolge
die Entwicklung aus dem Zustand der noch ohnmächtigen Erkenntnis
heraustretend – dem Zustande des „gefesselten Prometheus“ den Herakles
frei machte! – nun auch den Willen durchdrang und in den mörderischen
Taten, von denen seither die Geschichte der Völker ununterbrochen
widerhallt, für jeden nicht völlig Verblendeten offenbarte:
daß eine außerweltliche Macht in die Sphäre des Lebens
einbrach.
Dafür die Augen zu öffnen, ist das einzige, was wir vermögen.
Wir sollten endlich aufhören zu vermengen, was im Tiefsten gespalten
ist: die Mächte des Lebens und der Seele mit denen des Verstandes
und des Willens. Wir sollten einsehen, daß es zum Wesen des „rationalen“
Willens gehört, den „Schleier der Maya“ in Fetzen zu reißen,
und daß eine Menschheit, die sich solchem Willen anheimgegeben,
in blinder Wut die eigene Mutter, die Erde, verheeren muß, bis
alles Leben und schließlich sie selbst dem Nichts überliefert
ist.
Keine Lehre bringt uns zurück, was einmal verloren wurde. Zur Umkehr
hülfe allein die innere Lebenswende, die zu bewirken nicht im Vermögen
von Menschen liegt. Wir sagten oben, die alten Völker hätten
kein Interesse gehabt, die Natur durch Versuche auszuspähen, sie
in Maschinen hineinzuknechten und listig durch sich selbst zu besiegen;
jetzt fügen wir hinzu, sie hätten es als Verruchtheit verabscheut.Wald
und Quell, Fels und Grotte waren für sie ja heiligen Lebens voll;
von den Gipfeln hoher Berge wehten die Schauer der Götter (darum,
nicht aus Mangel an „Naturgefühl“, bestieg man sie nicht!), Gewitter
und Hagelschlag griffen drohend oder verheißend in das Spiel der
Schlachten ein. Wenn die Griechen einen Strom überbrückten,
so baten sie den Flußgott für die Eigenmächtigkeit des
Menschen um Verzeihung und spendeten Trankopfer; Baumfrevel wurde im
alten Germanien blutig gesühnt. Fremd geworden den planetarischen
Strömen, sieht der heutige Mensch in alledem nur kindlichen Aberglauben.
Er vergißt, daß die deutenden Phantasmen verwehende Blüten
waren am Baum eines Innenlebens, welches tieferes Wissen barg als all
seine Wissenschaft: das Wissen von der weltschaffenden Webekraft allverbindender
Liebe. Nur wenn sie in der Menschheit wiederwüchse, möchten
vielleicht die Wunden vernarben, die ihr muttermörderisch der Geist
geschlagen.—
Kaum hundert Jahre sind es her, daß sie, wie aus heimlichen Brunnen
der Tiefe in vielen Herzen wirklich aufs neue emporgequollen, die unvergeßlichen
Träume jener jünglingshaften Weisen und Dichter trug, die man
mißverstehend „Romantiker“ nennt. Ihre Hoffnungen trogen, der Sturm
ist verrauscht, ihr Wissen verschüttet, die Flut verebbt und „die
Wüste wächst“.
Aber gleich ihnen bereit, an Wunder zu glauben, wollen wir es für
möglich halten, daß ein kommendes Geschlecht doch noch verwirklicht
sieht, wovon mit den Worten des Sehers die Geburtswehen Eichendorff in
„Ahnung und Gegenwart“ also geschildert hat:
„Mir scheint unsre Zeit dieser weiten, ungewissen Dämmerung zu gleichen!
Licht und Schatten ringen noch ungeschieden in wunderbaren Massen gewaltig
miteinander, dunkle Wolken ziehn verhängnisschwer dazwischen, ungewiß ob
sie Tod oder Segen führen, die Welt liegt unten in weiter, dumpfstiller
Erwartung. Kometen und wunderbare Himmelszeichen zeigen sich wieder,
Gespenster wandeln wieder durch diese Nächte, fabelhafte Sirenen
selber tauchen wie vor nahen Gewittern von neuem über den Meeresspiegel
und singen, alles weist wie mit blutigem Finger warnend auf ein großes,
unvermeidliches Unglück hin. Unsre Jugend erfreut kein sorglos leichtes
Spiel, keine fröhliche Ruhe wie unsre Väter, uns hat frühe
der Ernst des Lebens gefaßt.
Im Kampfe sind wir geboren und im Kampfe werden wir, überwunden
oder triumphierend, untergehn. — Denn aus dem Zauberrauche unsrer Bildung
wird sich ein Kriegsgespenst gestalten, geharnischt, mit bleichem Totengesicht
und blutigen Haaren; wessen Auge in der Einsamkeit geübt, der sieht
schon jetzt in den wunderbaren Verschlingungen des Dampfes die Lineamente
dazu aufringen und sich leise formieren. Verloren ist, wen die Zeit unvorbereitet
und unbewaffnet trifft; und wie mancher, der weich und aufgelegt zu Lust
und fröhlichem Dichten sich so gern mit der Welt vertrüge,
wird wie Prinz Hamlet zu sich selber sagen: Weh, daß ich zur Welt,
sie einzurichten, kam! Denn aus ihren Fugen wird sie noch einmal kommen,
ein unerhörter Kampf zwischen Altem und Neuem beginnen, die Leidenschaften,
die jetzt verkappt schleichen, werden die Larven wegwerfen, und flammender
Wahnsinn sich mit Brandfackeln in die Verwirrung stürzen, als wäre
die Hölle losgelassen, Recht und Unrecht, beide Parteien, in blinder
Wut einander verwechseln. — Wunder werden zuletzt geschehen um der Gerechten
willen, bis endlich die neue und doch ewig alte Sonne durch die Greuel
bricht; die Donner rollen nur noch fernab an den Bergen, die weiße
Taube kommt durch die blaue Luft geflogen, und die Erde hebt sich verweint
wie eine befreite Schöne in neuer Glorie empor.“
Fassung nach: Glücklich
werden die sein... Zeugnisse ökologischer Weltsicht aus vier Jahrtausenden;
(Hrsg.) H. Gruhl, 1984
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