Konservativer Rebell

Der Schriftsteller Carl Amery wird achtzig

 

Sabine Neubert

 

Ein "Einzelkämpfer, der auf Solidarität vertraut; ein Rufer in belebter Gartenwelt (nicht in der zukünftigen Wüste, noch nicht); ein Bayer und Kosmopolit ... ein Aufklärer, der aufs Bewahren und Behüten ausgeh (sofern es sich lohnt), ein konservativer Rebell, der zugleich radikal und behutsam, zornig und sanft ist." So hat Walter Jens seinen "Kombattanten aus Tagen der Gruppe 47" genannt. Nachzulesen ist dies im Vorwort zu "Bileams Esel", einem Band mit "Konservativen Aufsätzen", der als Einzelausgabe der gesammelten Werke Amerys erschien. Das war im Jahre 1991, also genau vor zehn Jahren. Der Schriftsteller und Essayist Carl Amery war siebzig, konnte schon auf ein Lebenswerk zurückschauen, schrieb weiter Bücher, gab Interviews, war zwei Jahre vorher zum Präsidenten des bundesdeutschen PEN-Zentrums gewählt worden und erhielt in diesem Jahr den Literaturpreis der Stadt München.
An Ruhe dachte der unermüdliche Mahner noch lange nicht, im Gegenteil, er attackierte blinden Fortschrittsglauben und "Wiedervereinigungs"-Euphorie. Am Ende des Bandes findet sich eine Analyse des Jahres 1989: Globale Klimaveränderung, drohendes Millionensterben in Äthiopien, Weltbevölkerungs-Explosion, Sterben der Adria und zahlreicher Tierarten. "Ach ja, und die deut-sche Frage gibt es auch." Und für die findet er schon damals das richtige Wort: ANSCHLUSS.
Zehn Jahre sind seitdem vergangen, der Garten, der Welt heißt, ist wüster geworden. "Die ganze Gesellschaft hat sich angewöhnt, über die irdischen Verhältnisse zu leben." Was Carl Amery damals in einem Interview sagte, bezieht nun jeden, der in irgendeiner Weise an Geldwirtschaft beteiligt ist, also auch uns alle in den reichen Ländern, mit ein. Es gibt kein moralisches Alibi, weder für Politiker, noch für Kirchen, noch für jeden einzelnen! Noch deutlicher, noch radikaler sind Carl Amerys Analysen und Forderungen angesichts der Weltlage heute geworden. "Global Exit" ist der Titel des Achtzigjährigen. Die Verantwortung für Kinder und Enkel treibt die Hochbetagten mehr denn je um. Von der politischen Klasse, die sich "auf Ordnungs- und Ent-sorgungsarbeiten für den Totalen Markt" beschränkt, ist Umkehr nicht zu erwarten. "Wer sich mit Öko-Ablasskrämerei, mit reiner Reparaturtechnologie, mit einem Schrebergärtlein ›Politikfeld Umwelt‹ salvieren will, der ist schon gerichtet", so heißt es in diesem Buch. Carl Amerys Weg als politisch engagierter Christ und Autor zahlreicher Bücher war bis heute ein konsequenter. In der Nachkriegszeit setzte er sich mit der Rolle der Amtskirche in der wirtschaftlich aufstrebenden Bundesrepublik auseinander. Trotz der Nähe zu linken kritischen Intellektuellen war und blieb er ein konservativer Denker im ursprünglichen Wortsinn des Bewahrens - ähnlich seinem Freund Heinrich Böll, der 1963 für das Buch "Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute" das Nachwort schrieb.
Konsequent war auch sein Weg hin zur ökologischen Bewegung in den siebziger Jahren. In sei-nem großen Essay "Das Ende der Vorsehung" klagte er 1972 die Zerstörung der Umwelt und des natürlichen Zusammenspiels der Kräfte der Erde durch den Menschen an. Das ist sein vorrangi-ges Thema seitdem geblieben. "Ich bin kein Ökologe", so betont er gern, "sondern ein Ökolo-gist". Auch in dem neuen Buch geht es um einen, vielleicht den letzten, Versuch einer Bewahrung der Schöpfung, um die Rettung der Erde als einer von Menschen bewohnbaren Biosphäre, ein fast "unwahrscheinliches Unterfangen angesichts des kollektiven Selbstmordes der Menschheit". Sein Appell gilt vor allen den Kirchen als Instanz einer vielleicht noch möglichen Einsicht. Der Literatur und jedem Kulturbetrieb misstraut er schon lange.
Vieles in diesem Buch fasst früher Gesagtes zusammen. Er spricht nun aber eine noch deutliche-re Sprache. "Es ist vorauszusehen, dass die Lebenswelt, wie wir sie kennen und bewohnen, im Laufe des anhebenden Jahrtausends zusammenbrechen und unbewohnbar werden wird." Vo-rauszusehen, so seine These, ist auch, dass die christlichen Kirchen in ihrer historischen Gewalt (seit Konstantin im 4. Jahrhundert) vor allem als moralische Instanz bedeutungslos werden. Aber in der Spiegelung beider Aussichten ergibt sich auch eine Chance, so Carl Amery: Die Chance einer Alternative zur (sonst alternativlosen) Religion und Allmacht des Totalen Marktes, der die Ressourcen der Erde im rasanten Tempo gnadenlos zerstört.
Im zweiten Teil des Buches appelliert der Autor deshalb an den ursprünglichen, heilsgeschichtli-chen Auftrag der Kirchen. Als Vorbild könnte die lateinamerikanische Befreiungstheologie mit ihrer Option für die Armen dienen. In einem großen Kapitel stellt er diese Bewegung, ihre Akti-onen und Akteure und ihre Disziplinierung dar. Das Fazit lautet: Die Kirchen müssen es wagen, ihren zivilisatorischen Auftrag wahrnehmen. "Exodus", also "Auszug" aus dem Sklavenhaus des globalen Kapitalismus ist die Alternative zum "Exit".
Carl Amery ist kein Pessimist. Ja, er schreibt sogar - wie in seinen Romanen - bisweilen mit Witz über die ernstesten Dinge. Er wirft die traditionellen abendländischen Werte nicht über Bord, sondern geht an ihre Ursprünge zurück, und dabei baut er, der "Einzelkämpfer", weiterhin auf die Solidarität der vernünftigen, denkenden Menschen.

Carl Amery:

Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt

Luchterhand Literaturverlag. 239 Seiten, gebunden, 8,50 EUR.

Neues Deutschland 09.04.02
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