Vom Konsumismus zur „Freiwilligen Einfachheit“


Burkhard Bierhoff


Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des CENTAURUS Verlag
Burkhard Bierhoff, Konsumismus. Kritik einer Lebensform. Freiburg i.Br. (Centaurus Verlag & Media KG) 2013, 100 Seiten, Preis: 8,80 €, ISBN 978-3-86226-185-7. S. 58-65 (gekürzt).

Von Richard Gregg wurde 1936 ein Leitkonzept formuliert, das einen „einfachen Lebensstil” als Alternative zum Leben in der modernen Gesellschaft mit ihrer Massenproduktion und -konsumtion beschreibt. Greggs Grundgedanke war, auf der Grundlage buddhistischer Werthaltungen einen kulturspezifischen Beitrag zu einem einfachen Leben zu leisten, das weder von Askese geprägt ist noch auf heteronomer Triebkontrolle und Unterdrückung gründet. Seit den 1970er Jahren wurde die Idee der „freiwilligen Einfachheit” u.a. von Duane Elgin weiterentwickelt. Da mit dem Zurückschrauben des Überkonsums eine höhere Lebenszufriedenheit erfahren wird, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten der Kreis dieser Menschen vergrößert.
Auch Bahro plädierte entschieden für einen einfachen Lebensstil: „Nur bei einem auf Subsistenzwirtschaft gegründeten Lebensstil freiwilliger Einfachheit und sparsamer Schönheit können wir uns, wenn wir außerdem unsere Zahl begrenzen, auf der Erde halten.”
Der einfache Lebensstil beinhaltet eine gesunde, umweltbewusste, regional ausgerichtete, vielseitige, vegetabile Ernährung mit weitgehendem Verzicht auf Fleisch und Wurstwaren. Präferiert werden Produkte vom lebenden Tier, das artgerecht und umweltbewusst gehalten wird.
Als ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einem einfachen Lebensstil wird erachtet, ohne die Banalität von stundenlangem Fernsehkonsum auszukommen. Werbung gilt als verzichtbar, da sie nicht nur über neue Produkte informiert, sondern diese als erstrebenswert darstellt und so Bedürfnisorientierungen erzeugt, die auf ihren Erwerb ausgerichtet sind.
Die entscheidende Frage in Bezug auf den einfachen Lebensstil und seine Realisierungschancen liegt jedoch darin, ob in der gegenwärtig verbreiteten Lebensführung Veränderungen aufzufinden sind, die deutlich und zunehmend in Richtung ökologischen Problembewusstseins und einer neuen Bescheidenheit verweisen.
Am bekanntesten sind die Untersuchungen des Marktforschers und Soziologen Paul H. Ray, der zusammen mit Sherry Ruth Anderson neben den Traditionalisten und den Modernisten ein neues Lebensstilsegment empirisch beschrieben hat, dessen Angehörige er als Kulturell Kreative bezeichnet. Als Typ eines neuen Konsumenten wurde, ebenfalls von Ray, zuerst in den USA dann auch in Deutschland, in empirischen Untersuchungen der LOHAS-Typ entdeckt. Die LOHAS fungieren als ein Sammelbegriff für neue Lebensstile und die entsprechenden Konsumenten, die sich an Gesundheit und Nachhaltigkeit orientieren (LOHAS = Lifestyles of Health and Sustainability).
Dieser postmoderne Typ des Konsumenten zeigt sich ich-orientiert, unabhängig, umweltbewusst, gesundheitsorientiert und präferiert Bio-Produkte. In ihm werden einige Tendenzen gebündelt, die im Sinne des zielgruppenorientierten Marketings als „nachhaltig” bezeichnet werden. Zu hinterfragen ist jedoch der einseitige und verzerrende Gebrauch der Leitbegriffe „Gesundheit” und „Nachhaltigkeit”, denn „Nachhaltigkeit” wird als Trend kommerzialisiert und als Lebensgefühl vermarktet. Die im Marketing neu entdeckten Lebensstile „LOHAS“ sind nicht schon deshalb alternativ, weil deren Anhänger im Bio-Supermarkt Lebensmittel kaufen, die durch eine ansprechende Verpackung auffallen und Gesundheit und Nachhaltigkeit versprechen. Im Marketing geht es nicht um die Förderung von Nachhaltigkeit, sondern um die verkaufsträchtige Aufnahme der Nachhaltigkeitsidee, nicht aus Umweltengagement, sondern aus Gründen der Vermarktung, um im Trend zu liegen. Ebenso wenig geht es den meisten Verbrauchern primär um Nachhaltigkeit, sondern um ein Konsumniveau mit hohem Genuss, Spaß und Unterhaltung – unter Aufrechterhaltung der Gesundheit. Offenbar passt dieser Konsumententyp gut zu den Vermarktungsinteressen der Bio-Food- und Tourismusbranche. Insofern ist zweifelhaft, ob es sich bei diesem Trend tatsächlich um nachhaltig konsumierende Menschen handelt. Auf der einen Seite sind Gesundheit und Nachhaltigkeit als Forderung in den postmodernen Lebensstil eingegangen, auf der anderen Seite haben sie durch die Vermarktung ihre kritische Spitze verloren, so dass sich der postmoderne Lebensstil als blind für alle inhaltlichen Zukunftsfragen und ohne humanistisches Gewissen zeigen könnte. Die postmoderne Persönlichkeit kann eben alles sein, auch „ökologisch orientiert“.
Bei der „ökologischen Orientierung“ kann nach Wissen und Handlungskonsequenz unterschieden werden. Das Wissen um die Umweltprobleme und die Naturzerstörung ist im Vergleich zum umweltgerechten Handeln deutlich stärker ausgeprägt. So zeigen sich über 90 % der Menschen in Bezug auf die Umwelt besorgt, aber nur weniger als 5 % kaufen Lebensmittel aus biologischem Anbau. Bei den geäußerten Meinungen und Einstellungen handelt es sich nicht um einen ökologischen Bewusstseinswandel, sondern um den Versuch einer „systemimmanente Schadensbegrenzung“ (Bahro), die in ihrer Funktion auf die Stabilisierung der gegenwärtigen Ökonomie bezogen ist. Im Sinne eines sogenannten Megatrends werden die teilweisen kleinen und überschaubaren Strukturen der ökologischen Landwirtschaft zunehmend großindustriell vereinnahmt und ausgeweitet. Das ist alles andere als ein Prozess, der mit Nachhaltigkeit zu tun hat, denn Ökologie wird hier eindeutig der Ökonomie untergeordnet: die Strukturen der vorherrschenden Ökonomie verbinden sich mit der großindustriellen Produktion von Bio-Lebensmitteln – teilweise mit der Verlagerung der Produktion ins Ausland und den dann erfolgenden Importen.
So bleiben auch die an Gesundheit und Nachhaltigkeit orientierten LOHAS Teil der ökologischen Krise, statt in kritischer Selbstreflexion den eigenen Anteil am Zerstörungsprozess zu erkennen. Auch der den LOHAS entsprechende Lebensstiltyp will auf einer unbewussten Ebene – so könnte man mit Bahro sagen – die Zerstörung, solange er nicht „seine eigenen Interessen, Gewohnheiten, Bequemlichkeit hintansetzt.“
Um das Loblied auf die LOHAS und die mancherorts entstandene Euphorie, in den Lebensstilen geschehe ein durchgreifender Wandel im Sinne der nachhaltigen Entwicklung, zu relativieren, brachte ich zu dem von Richard Gregg bereits in den 1930er Jahren formulierten Lebensstil der „Freiwilligen Einfachheit“ das Akronym LOVOS in die Diskussion, zunächst mit Hilfe eines in der Wikipedia eröffneten Artikels (04.11.2004). Der Artikel wurde zwar einige Monate später aus der Wikipedia herausgenommen, das Akronym verbreitete sich aber dennoch im Sinne der intendierten Kritik an der Lebensstilgruppe der LOHAS. So wurde das Kürzel in mehreren Artikeln (Süddeutsche Zeitung, DIE ZEIT, Spiegel online) aufgenommen und verbreitet, so dass es in der Folgezeit in vielen Blogeinträgen und Diskussionen verwendet wurde. Heute wird zu den LOHAS durchwegs als Alternative der LOVOS gesetzt, der dem oben bereits erwähnten „Lifestyle of Voluntary Simplicity” entspricht. Auch wenn hinter der freiwilligen Einfachheit kein homogener Lebensstil steht, lässt sich als ihr zentrales Merkmal die konsequente postmaterialistische Orientierung benennen, die ein großes gesellschaftliches Potenzial der Kritik des Konsumismus beinhaltet.
Der einfache Lebensstil ist als die Abkehr vom Konsumismus zu interpretieren und bedeutet im Sinne von Brückner und Bauman ein Heraustreten aus dem Lebensführungskonsens der Gesellschaft der Konsumenten mit dem Verlust sozialer Integration. Die Anhänger des einfachen Lebensstils müssen sich dann ihre eigenen integrativen Sozialräume schaffen, in denen sie ihren Lebensführungskonsens neu begründen.




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