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Nach dem Castor - Eine
Bilanz
Jochen Stay
Was war los?
Eine ganze Menge. Hier eine Zusammenfassung ohne den Anspruch auf Vollständigkeit:
Be-ginnend mit der Auftaktdemonstration am 9.11. neben dem Endlagerbergwerk
in Gorleben, an der mehr als 4.000 Menschen teilnahmen, kam das Wendland
nicht mehr zur Ruhe. Mit der Aktion "Verrückte Dörfer"
am Sonntag überall auf und an der Transportstrecke wurde schon der
besondere Charakter des diesjährigen Castor-Widerstands deutlich:
Wir lassen uns die Lebensfreude nicht nehmen! Auch am Montag wurde viel
gelacht: "De Zoch kütt" war das Motto eines alternativen
Karnevalsumzugs in Dannenberg. Daneben gab es unter dem Motto "Wir
sind so frei" eine Aktion für die Versammlungsfreiheit auf der
mit Demoverbot belegten Transportstrecke in Gusborn. Von besonderer Qualität
waren auch die allabendlichen Kundgebungen auf dem Marktplatz in Dannenberg:
TeilnehmerInnenzahl und die Stimmung wuchs von Abend zu Abend steil an.
Von den am Sonntag neugegründeten Dörfern hatte das bei Splietau
gelegene "Alt-Bräsig" von der Bäuerlichen Notgemeinschaft
am längsten Bestand. Und weil die Polizei angesichts vieler Trecker
am Rande der Transportstrecke unruhig war und abends riesige Lichtmasten
aufstellte, funktionierten die Bauern den Acker einfach zum Fußballstadion
um, mit der größten Flutlichtanlage im Landkreis und ZuschauerInnen
aus der ganzen Republik - mitten in der Verbotszone. Es war ein Riesenspaß
und die mit Räumpanzern und Wasserwerfern ange-rückte Polizei
war ziemlich ratlos.
Neuer Aktionsschwerpunkt war diesmal auch die Stadt Lüneburg mit
ihrer Bezirksregierung, Polizeizentrale und -kasernen, Gerichten und Bahnlinien.
Weit über 1.000 Menschen beteilig-ten sich an den unterschiedlichen
Demonstrationen und Aktionen.
Dann sollte der Zug kommen, aber er verspätete sich heillos. Statt
am Mittwoch um 10 Uhr morgens kam er erst um 18 Uhr abends am Verladekran
in Dannenberg an. Die von den Me-dien in den ersten Tagen vermisste überregionale
Unterstützung für den wendländischen Wi-derstand funktionierte
diesmal ganz anders: Der Zug mit den zwölf Castoren wurde auf sei-nem
Weg durch die Republik immer wieder aufgehalten - Blockade- und Ankettaktionen
lo-kaler Gruppen waren sehr erfolgreich.
Und auch das letzte Stück zwischen Lüneburg und Dannenberg hatte
es in sich. In Leitstade gab es eine mehrstündige Ankettaktion. In
der "Region Aktiv" rund um Metzingen hatten viele AktivistInnen
Unterkunft bei örtlichen Bäuerinnen und Bauern gefunden und
machten sich in kleinen Gruppen auf den Weg. Der Zug musste immer wieder
stoppen. Und in Hitzacker hatten BürgerInnen aus der Stadt zum Kaffeetrinken
am Tag X in ihre Wohnungen ein-geladen. Denn dort herrschte schließlich
kein Versammlungsverbot. Als dann kurz vor An-kunft des Castor-Zuges
aus den Häusern von zwölf Familien etwa 1.300 Menschen zur Aktion
"WiderSetzen" ziel-strebig Richtung Schiene strömten, war
nicht nur die Polizei erstaunt.
Als die Castor-Behälter am Verladekran in Dannenberg auf Tieflader
umgepackt wurden, machte die Polizei in "Alt-Bräsig" die
Trecker der Bäuerlichen Notgemeinschaft platt. Doch gleichzeitig
gingen bei Laase 1.200 Menschen auf die Straße. Die Magdeburger
Bereit-schaftspolizei versuchte dies anfangs recht ruppig zu verhindern,
konnte aber letztlich der Mischung aus Ruhe und Entschlossenheit, mit
der die Menschen über ein Feld auf die Strecke strömten, wenig
entgegensetzen. Es ist immer wieder ein besonderes Erlebnis, wenn es auf
diese Weise einer gut vorbereiteten und in Bezugsgruppen organisierten
Menschenmenge gelingt, sich freundlich aber bestimmt durchzusetzen. Die
Blockade unter dem Motto "X-tausendmal quer" dauerte fünf
Stunden. Schließlich wurde in einem riesigen Polizeieinsatz geräumt
und mehr als 700 Menschen über Stunden auf dem Feld neben der Strecke
eingekes-selt. Als der Castor-Konvoi schließlich in den frühen
Morgenstunden über die jetzt freie Stre-cke rollte, stellten sich
die Leute im Polizeikessel zu einem großen X auf.
Neben diesen größeren Aktionen gab es unzählige kleine
Gruppen, die an oder auf der Strecke aktiv waren und dazu beigetragen
haben, dass Polizei-Einsatzleiter Reime hinterher davon sprach, dies sei
sein bisher schwerster Transport gewesen, besonders wegen der "Nadelstich-Taktik"
der AtomkraftgegnerInnen. So sei es auch in Zukunft nötig, ähnlich
große Polizeiein-sätze zu organisieren, wie in der Vergangenheit.
Erfolg oder Misserfolg?
Wie ist der Widerstand gegen den Castor-Zwölferpack zu bewerten?
Die Zahl der Aktiven war 1997 viel höher. Die Medienresonanz hat
stark nachgelassen. Der Straßentransport brauchte diesmal nur 60
Minuten. Parteien und Regierungen sahen sich weitgehend nicht zu Stellungnahmen
genötigt. Die AKWs laufen weiter, der nächste Transport zu den
Wiederauf-arbeitungsanlagen im Ausland steht kurz bevor und auch nach
Gorleben soll im nächsten Jahr wieder ein Zwölferpack rollen.
Also alles umsonst?
Es kommt auf die Sichtweise an. Viele JournalistInnen und auch DemonstrantInnen
waren in diesem Jahr völlig überrascht von der guten Stimmung
im Wendland. Erwartet hatten sie angesichts der atompolitischen Lage und
der Allgegenwart der Polizei Resignation und De-pression. Doch sie fanden
Gelassenheit und Lebensfreude. Spinnen die WendländerInnen? Leiden
sie in ihren "verrückten Dörfern" unter Wahrnehmungsstörungen?
Blenden sie die Realität aus?
Es ist anders: Waren bei den beiden Transporten im letzten Jahr die Ziele
noch sehr hochge-steckt - schließlich wollten wir den sogenannten
Atomkonsens kippen - so wusste diesmal jede/r, dass die Anti-Atom-Bewegung
kurzfristig politisch keinen Blumentopf gewinnen kann. Das hat deshalb
auch niemand erwartet. Doch der Streit um die Atomkraft wird uns noch
lange beschäftigen. Und auch in Gorleben ist angesichts unklarer
Zukunft des Endlager-bergwerks und angesichts von noch für mehr als
15 Jahre geplanter Castor-Transporte die Auseinandersetzung noch längst
nicht zu Ende. Also haben die Aktiven von 2002 genau das Richtige gemacht:
Sie haben dafür gesorgt, dass die Bewegung eine Zukunft hat.
Deshalb war es ein Erfolg, dass die Zahl der Aktiven eben nicht weiter
rückläufig war, son-dern sich auf erstaunlichem Niveau stabilisiert
hat. Deshalb war es ein Erfolg, dass viele Ju-gendliche sich aktiv an
den Aktionen beteiligt haben. Nicht Verbissenheit, sondern Demonst-rationen
der Lebensfreude haben das Bild bestimmt, auch um klar zu machen: wir
haben et-was zu verlieren und es lohnt sich weiterzukämpfen. Und
die gute Stimmung war kein Selbstzweck, keine wendländische Ausgeburt
der Spaßgesellschaft, sondern immer verbunden mit Mut und Entschlossenheit
zur Aktion.
Weil Demonstrationen entlang der Strecke verboten waren, wurden eben Fußballspiele,
La-ternenumzüge, Gottesdienste und Kaffeetafeln organisiert. Und
auf Schiene und Straße ist mensch dann trotzdem noch gekommen. Besonders
erfolgreich war der im Vorfeld des Trans-ports aufgenommene Kampf um die
Demonstrationsfreiheit. Zwar gab es auch diesmal wieder das Versammlungsverbot
entlang der Strecke, es gab wieder haltlose Diffamierungen durch Lug und
Trug in der Polizei-Pressearbeit, es gab erneut schikanöse Behandlungen
der über 900 in Gewahrsam genommenen. Aber mit Unterstützung
von namhaften BürgerInnenrechts-organisationen und mit Unterstützung
von 900 Menschen, die sich am auch von "X-tausendmal quer" mit
initiierten "Alarmnetz Grund- und Menschenrechte" beteiligten,
ist es gelungen den polizeilichen Ausnahmezustand zurückzudrängen.
Viel mehr Demonstrationen als im letzten Jahr waren möglich, Camps
konnten durchgeführt werden. Die Polizei versuchte bei der Räumung
der Sitzblockaden in Laase halbwegs gesittet vorzugehen. Es lohnt sich
also, auch in diesem Bereich die aktive Auseinandersetzung mit einem Staat
aufzunehmen, der für die Interessen der AKW-Betreiber bereit ist,
sein demokratisches Tafelsilber zu verscherbeln.
Schön war auch, dass es zumindest ansatzweise gelungen ist, die Presse
von der "Sportbe-richterstattung" des Jahres 2001 ("Wie
viele Minuten braucht der Transport?") abzubringen und wieder die
Inhalte in den Mittelpunkt zu stellen, beispielsweise die nach wie vor
ungelöste Atommüll-Entsorgung. Zentral war dabei auch ein Satz,
der bei der großen "X-tausendmal quer"-Blockade in Laase
entstand: "Wichtig ist nicht, wie viele Minuten der Transport verzögert
wird, sondern wie viele Menschen Zivilcourage gegen eine verantwortungslose
Atompolitik zeigen."
Viel Auswärtige fahren diesmal mit einem deutlich besseren Gefühl
nach Hause als vor einem Jahr, als sich nach vielen misslungen Aktionen
Frustration breit machte. Diesmal gilt: Viele werden das nächste
Mal wieder kommen und Freundinnen und Freunde mitbringen. Denn die wendländische
Widerstandskultur, getragen von breiten Teilen der Bevölkerung, ist
in diesem Land etwas Einmaliges und - selbst wenn kurzfristige politische
Erfolge fehlen - zutiefst Er-mutigendes. Wer in anderen Bewegungen aktiv
ist und einmal
etwas neuen Mut für die eigene langwierige politische Arbeit braucht,
sollte den nächsten Castor-Transport nicht verpassen. Dass die Menschen
im Wendland sich nach über 25 Jahren Gorleben-Konflikt auch von 16.000
PolizistInnen und zwölf Castor-Behältern nicht unter-kriegen
lassen, das ist so außergewöhnlich, dass es sich niemand entgehen
lassen sollte.
Mehr Infos zu "X-tausendmal quer" auf:
http://www.x1000malquer.de
"X-tausendmal quer"
Schweffelstr. 6, Hinterhaus
24118 Kiel
Tel.: 0431-2108821
Fax: 0431-2108822
info@x1000malquer.de
Spenden an "X-tausendmal quer", Volksbank Clenze, BLZ 258 619
90, Konto 24 42 28 03
Finanzielle Unterstützung der Arbeit von "X-tausendmal quer"
ist auch nach dem Castor not-wendig. Wir haben zur Vorfinanzierung von
Öffentlichkeitsarbeit und Aktionen Darlehen von Privatpersonen bekommen,
die wir jetzt zurückzahlen müssen. Damit wir nicht auf X-tausend
Euro Schulden sitzen bleiben, zählt jede Spende, ob groß oder
klein.
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