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Ein Beitrag
zur Atomkraftdebatte
Arbeitsteilung: Die einen sahnen ab, die anderen zahlen. Das Herz
der Finsternis
Carl Amery
Inmitten der machtvollen Trotz- und Trauerchöre, die aus der Kernkraftgemeinde
ob der grausamen Willkür der rot-grünen Regierung aufsteigen,
ist es vielleicht ziemlich, zwei moralischen Problemen Raum zu geben,
die unmittelbar mit dieser Kernkraft zu tun haben. Natürlich ist
klar, daß sie gegenüber den ehernen Gesetzen der Wirtschaft
nicht zählen; aber das Höhere ist uns, wie wir wissen, das Höchste
im Leben.
Das erste Problem ist, wie bekannt, das der Entsorgung. Es ist schlechthin
nicht lösbar, wenn man mit einigem Sinn für Geschichte an sie
herangeht. "Sicherer Verschluß" der strahlenden Materien
soll da über Äonen hinweg bewerkstelligt werden, deren natur-
und noch mehr deren humangeschichtliche Entwicklung im völligen Dunkel
liegt. Das ist unendliche und törichte Vermessenheit, und die unumkehrbare
Schuld der Promoter liegt vor unserer Nase und ist nicht zu leugnen. Das
moralisch einzig Mögliche, was uns noch bleibt, ist der Versuch,
dem Berg der Lebensfeindlichkeit nicht noch weitere Breiten- und Höhenklafter
hinzuzufügen.
Das Uran der Urahnen
Über dieses Problem wurde hinreichend gehandelt, und die militante
Anti-AKW-Bewegung hat es gebührend in ihr Arsenal einbezogen. Das
zweite Problem beschäftigt wesentlich weniger Gehirne und Gemüter,
aber es ist gerade deshalb für den kollektiven Seelenzustand bezeichnend,
ohne den die Verwendung der Atomenergie nicht möglich wäre.
Es sind die Zu- und Umstände, unter denen der Rohstoff für den
ganzen Betrieb gewonnen wird: die Zu- und Umstände des Uranabbaus.
Es sind Zu- und Umstände des Genozids und des Ethnozids.
Uran wird in der Regel dort abgebaut, wo sich die Heimat verhältnismäßig
wehrloser Gesellschaften befindet. Da im Ostblock (und heute noch im Hoheitsbereich
Chinas) so gut wie alle abhängigen Satelliten- und Minderheitenvölker
wehrlos waren und sind, boten und bieten sich großartige Möglichkeiten.
Tibetaner gibt es ohnehin zuviel; und Kasachstan ist vermutlich das radioaktiv
am stärksten verseuchte Gebiet der Erde, wenn man von der unmittelbaren
Umgebung von Tschernobyl absieht. Auch im sowjetunterworfenen mitteleuropäischen
Sachsen gab es, wie wir wissen, eine Wismuth-AG.
Was den freiheitlichen Westen betrifft, so bieten sich die besten, das
heißt, die bequemsten Voraussetzungen in den Territorien der sogenannten
traditionellen Gesellschaften, also den Territorien der Ureinwohner. Die
reichen von Australien über Schwarzafrika bis nach Nord- und Südamerika.
Wenn deutsche Atommanager die Auskunft erteilen, daß sie ihr Uran
aus "den USA" beziehen, so bedeutet dies, daß dieses Uran
unter unglaublichen Bedingungen, von ganz oder teilweise ahnungslosen
Indianern, Eskimos, Chicanos wenn nicht gefördert, so doch erpreßt
oder erschwindelt wurde. Jede Kilowattstunde Atomstrom, die wir hier verbrauchen,
bedeutet mehrere Kubikmeter yellow cake, also strahlenden Abfall in irgendeiner
Gegend, die man zynischerweise zur National Sacrifice Area, also zum nationalen
Opfergebiet erklärt. Dieser Abfall liegt ungeschützt und unbedacht
im Freien auf Halde und verseucht eine Landschaft, die den wehrlosen Völkern
Heimat ist - ihren Boden, ihr Wasser, ihre Ernten. Gut und gern 40.000
Tode pro Jahr werden durch diese Praxis weltweit verursacht. Es ist sinnlos,
das zu leugnen - seit dem Herbst 1992, dem "World Uranium Hearing"
in Salzburg, liegen die Fakten vor und sind protokolliert in dem Dokumentarband
"Poison Fire - Sacred Earth".
Wer den Versuch macht, die verantwortlichen oder zwecks Propaganda abgestellten
Herren auf diesen Genozid, diese Fäulnis in den Fundamenten der Atomwirtschaft
anzusprechen (der Verfasser hat es des öfteren getan), der stößt
auf folgende Reaktionen: Oft wird schlicht gelogen. Der Angesprochene
versichert festen Blicks und nicht ohne Vorwurf ob der taktlosen Frage
in der Stimme, Uranabbau finde unter strikt kontrollierten Sicherheitsbedingungen
statt - zumindest dort, wo man das eigene Uran herbeziehe. Es gibt natürlich
auch gewitztere Gesprächspartner. Die stellen sich dumm und erklären,
daß sie diese Zustände in fernen Weltgegenden gar nichts angingen.
Es sei Sache der Bergbaugesellschaften, wie sie mit den natürlichen
und menschlichen Faktoren ihres Gewerbes zurechtkommen. (Daß man
den Preis des Atomstroms musterhaft niedrig halten will und teure Sicherheitskosten
nicht eben wohlwollend zur Kenntnis nähme, wird dabei nicht erörtert.)
Jenseits davon kann es philosophisch werden. Das läuft dann auf die
gute alte Güterabwägung hinaus: die energetische Unersättlichkeit
unserer Zivilisation gegen das Leben von weltweit verstreuten und letzten
Endes unbrauchbaren Kanaken - wer kann bei solcher Entscheidung zögern?
(Es mag interessieren, daß Dr. Jochen Holzer, langjähriger
Chef der Bayernwerke und der Viag, in einem Brief an mich sowohl Argument
eins wie Argument drei verwendet hat, obwohl sich die eigentlich gegenseitig
ausschließen.) Geschickte Disputanten werden sich auch zunächst
vor dem stichhaltigen ethischen Argument verbeugen und es dann sofort
ersticken, indem sie es für den Rest der verfügbaren Zeit mit
dem üblichen Gerede von Standort, Grundlast und Preisvergleich überrollen.
Alle fühlen sich dabei relativ sicher, weil sie sich zu diesem Punkt
der Mehrzahl der Kernkraftgegner höchst selten stellen müssen.
Der hiesige Anti-Atom Aktivist schleppt ja, ob er es weiß oder nicht,
sein eigenes Päckchen Seelen-Imperialismus mit herum, das ihm die
Gefahrenmöglichkeiten im eigenen Land lebhaft vorstellt, während
die stete Genozidwirklichkeit in TubaCity, Arizona, oder im australischen
Outback kaum an sein Gemüt herankommt. Mit anderen Worten: Er gehört
der nämlichen Zivilisation an wie sein Gegenüber im AKW-Lager.
An dieser Zivilisation hat sich in den letzten zweihundert oder fünfhundert
Jahren nichts geändert, jedenfalls nichts Wesentliches. "Ihr
Wesen ist packend und scharfsichtig" erfaßt in Joseph Conrads
Roman "Herz der Finsternis", "die grausigen Geschehnisse
im Inneren Afrikas sind es, die auf der fernen Insel... auf dem Kleinod
in der Silbersee, die hohe Moralität und Sensibilität des viktorianischen
Zeitalters, seinen nur von hausgemachten moralischen Schattierungen belebten
Wohlstand ermöglichen."
Die frommen Frauen der Sklavenhändler und Plantagenherren haben bestimmt
seit Cortés' und Pizarros Zeiten im Kirchenchor gesungen und sich
mit Beichtvätern über die Feinheiten ihres Seelenhaushalts ausgesprochen.
Und es ist zu bezweifeln, ob Leopold von Belgien nachts in Brüssel
von den abgehackten Händen der Kongoarbeiter träumte, die ihr
Soll nicht erfüllten. Unsere gegenwärtige Gesellschaft ist vielleicht
etwas grobkörniger als die des 19. Jahrhunderts - aber das, worauf
wir uns nicht wenig einbilden, nämlich das Ende der kolonialen Bestialität,
ist eben nichts als das: eine grundlose Einbildung. Wir hacken vielleicht
keine Hände mehr ab, wir vergiften die Indianer nicht mehr mit Feuerwasser
und pockeninfizierten Decken, aber wir bescheren ihnen dafür raffiniertere
Malaisen, die der Produktionsfaktor Wissenschaft halt so als Risiko und
Nebenwirkung hervorbringt. Sie haben die Nebenwirkungen, wir die umweltfreundliche,
klimaschonende, preiswerte Fülle der Kernenergie. So soll es auch,
wenn es nach den güterabwägenden Herren geht, noch möglichst
lange bleiben: "Regierungen kommen und gehen, aber die deutsche Kernkraft
die bleibt bestehen", wie es Wilfried Steuer, der Präsident
des Deutschen Atomforums, so kernig formulierte.
Gift für die Welt
Und eben deshalb ist es dringlich, uns die Wirklichkeit der Finsternis
vor Augen zu stellen. Eben deshalb ist es geboten, neben der Vermessenheit
des "Entsorgungs"-Nebels die handfeste Verdrängung des
permanenten Genozids durch Uranförderung zu thematisieren.
Ich wünsche allen Funktionären und politischen Büchsenspannern
der Atomkraftwerke ein möglichst enges Zusammenleben mit dieser finsteren
Wirklichkeit. Ich wünsche Herrn Majewski von den Bayernwerken, daß
er morgens, wenn er sich beim Rasieren im Spiegel betrachtet, hinter seiner
linken Schulter das aschgraue Gesicht eines leukämiekrankenYakimah-Indianers
sieht. Ich wünsche dem bayerischen Wirtschaftsminister Wiesheu in
gleicher Lage das Gesicht einer sterbenden australischen Ureinwohnerin.
Und Herrn Steuer, dem kühnen Vorkämpfer der steckengebliebenen
Moderne, wünsche ich deren zwei - eines links, eines rechts hinter
seinen Schultern, wenn er den Scherkopf ansetzt. Zwei Lichtlein lassen
sich vielleicht anstecken in der Finsternis - das erste am Rohstoffende:
Yvonne Margarula vom Stamm der Mirrar, einem Aborigine-Volk in Australien,
hat für ihren Widerstand gegen die Eröffnung.der Uranmine im
Kakadu-Nationalpark im Herbst 1998 den ersten "Nuclear Free Future
Award" erhalten - traditionsbewußt in Salzburg, dem Ort der
Anhörung von 1992.
Das zweite Lichtlein, am ganz anderen, am Konsumenten-Ende: die Gemeinde
Schoenau im Schwarzwald, die sich vom Zwang des Atomstromkonsums durch
Kauf des Stromnetzes befreit hat, betreibt ihr eigenes E-Werk und ist
im Augenblick eine führende Maklerin im Verkauf von Naturstrom in
Deutschland. Ich habe dort 1.000 Kilowattstunden gut, vielleicht kaufe
ich noch mehr, um mir das zweite Gesicht im Rasierspiegel zu ersparen.
Carl Amery, Jahrgang 1922, Studium der Sprachen und Literaturwissenschaft,
Mitglied der Gruppe 47, von 1989 bis 1991 Präsident des P.E.N.-Club
der Bundesrepublik Deutschland (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des
Autors)
zuletzt erschienene Bücher:
Die Botschaft des Jahrtausends. Von Leben, Tod und Würde, 1994
Hitler als Vorläufer. Auschwitz der Beginn des 21.Jahrhunderts, 1998
Klimawechsel. Von der fossilen zur solaren Kultur, 2001 (zusammen mit
Hermann Scheer)
Global Exit. Die Kirchen und der totale Markt, 2002
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