» Keine willkürlichen Kriege ...«


Tibet – ein Exkurs in die Geschichte und die Probleme der Gegenwart sowie ein Vorschlag


Marko Ferst


Konflikte zwischen der chinesischen Staatsmacht und den Tibetern sorgten in der Vergangenheit immer wieder für Schlagzeilen in der Presse. Vorgeworfen wird der chinesischen Seite, die Menschenrechte zu missachten und die Tibeter zu einer Minderheit im eigenen Land durch den Zuzug von Han-Chinesen zu machen. Auch durch die internationale Aufmerksamkeit, die das geistig-politische Oberhaupt der Tibeter, der 14. Dalai Lama, als Nobelpreisträger auf sich zieht, bleibt der Konflikt in der Weltöffentlichkeit präsent. Das offizielle China hält dagegen, indem es die Erfolgsbilanz seiner Politik in Tibet präsentiert und Tendenzen des Separatismus beklagt.
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Tibet wurde 127 v. u. Z. durch die Vereinigung verschiedener Hochlandstämme gegründet. Bis 842 u. Z. regierten 42 Könige der Yarlung-Dynastie das Land. Tibet war eine bedeutende politische und militärische Macht in Zentralasien. 763 eroberten die Tibeter für wenige Tage die chinesische Hauptstadt Xian, damals die größte Stadt der Erde. 821, als das Großtibetische Reich seinen Zenit überschritten hatte, schlossen Tibet und China einen Friedensvertrag; auf einer Stele vor dem Joghang-Tempel in Lhasa ist in einer Abschrift dessen zu lesen, »dass Tibet und China in ihren eigenen Grenzen bleiben und keine willkürlichen Kriege, Invasionen oder Gebietsabtretungen vornehmen sollen«.
Nach der Yarlung-Dynastie zersplitterte das Land und wurde erst 1247 unter den Sakya Lamas wieder vereint, die mit Hilfe der Mongolen, die damals China unterworfen hatten, die politische und religiöse Macht ausübten. Die Tibeter mussten an die Mongolen Tribute zahlen, übten andererseits jedoch auf das Mongolenreich einen großen Einfluss aus: mit dem tibetischen Buddhismus, der 1267 zur Staatsreligion erhoben wurde, jedoch zunächst eine Angelegenheit der Elite blieb. Dies änderte sich mit Sonam Gyatso, einem Mönch, der sich durch hohe Gelehrsamkeit auszeichnete und vom Mongolenoberhaupt Altan Khan 1577 an seinen Hof gerufen wurde, um die Missionierung der Untertanen zu befördern. Da ihm dies gelang, wurde er zum Dalai Lama ernannt, was übersetzt in etwa »Ozean des Wissens« heißt. Weil zwei Mongolenmissionaren posthum dieser Titel verliehen wurde, gilt Sonam Gyatso heute als 3. Dalai Lama.
Der 5. Dalai Lama versuchte, einer zu starken Abhängigkeit von den mongolischen Schutzherren zu entgehen, indem er sich um Kontakt zu den chinesischen Mandschus bemühte, die 1644 an die Macht gekommen waren. Rivalitäten unter den Mongolenstämmen rissen Tibeter in Leid und Elend. Schließlich rief der tibetische Titularkönig Lhazang Khan den Mandschu-Kaiser in China um Hilfe, der 1720 die Dschungaren der Westmongolei aus Tibet vertrieb, nicht ganz uneigennützig: Zwei Ambane, kaiserliche Gesandte, vertraten nunmehr in Lhasa die Interessen des Pekinger Hofes. Auf das Leben der Menschen in Tibet hatte das jedoch so gut wie keinen Einfluss. Die Macht ging vom Dalai Lama und seiner Theokratie aus.
1890 verhandelte die englische Kolonialmacht mit China über den Grenzverlauf zwischen Tibet und Sikkim. Der 13. Dalai Lama, der das Land nach außen abschottete, erklärte diesen Vertrag für ungültig. 1904 marschierten englische Truppen in Lhasa ein, sechs Jahre darauf die Chinesen. Doch mit dem Sturz der Mandschu-Dynastie 1911 und der Errichtung der chinesischen Republik unter Sun Yatsen wandelte sich die Situation grundsätzlich. Die tibetische Armee vertrieb nun die chinesischen Soldaten samt ihrer Ambane. Der 13. Dalai Lama versäumte jedoch, die Souveränität Tibets völkerrechtlich abzusichern und international um Verbündete zu werben.
Am 7. Oktober 1950 marschierten Truppen der Volksrepublik China in Tibet ein; Peking setzte im Folgejahr einen 17-Punkte-Vertrag auf, der Tibet eine gewisse Autonomie versprach. Der amtierende Dalai Lama floh nach Indien. Im Frühjahr 1959 brach ein Aufstand aus, der erneut zur Proklamierung der Unabhängigkeit Tibets und die Aufkündigung des Vertrages von 1951 führte. Am 11. März des Jahres war die Erhebung niedergeschlagen, Tibet wurde nun gänzlich der chinesischen Verwaltung unterstellt. 74 000 Tibeter flüchteten nach Indien.
Tibet blieb nicht unberührt von den politischen Eskapaden in der Volksrepublik China unter Mao Zedong, so dem »Großen Sprung« oder der »Kulturrevolution«. Zwischen 1947 und 1987 soll es in China über 35 Millionen Opfer staatlicher Willkür gegeben haben; die sechs Millionen zählenden Tibeter hatten in jener Zeit ungefähr 1,2 Millionen Opfer zu beklagen.
In diesen Jahren waren auch 6254 Klöster und Tempel durch die jungen, fanatisierten Roten Garden zerstört worden. Das chinesische Weißbuch »Die Entwicklung der tibetischen Kultur« behauptet, das vorchinesische Tibet hätte sich um Denkmalschutz nicht gekümmert, und lobt dahingegen die eigenen diesbezüglichen Leistungen. Zweifellos sind etliche kulturhistorische Stätten wieder aufgebaut worden. Andererseits haben andere Maßnahmen, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet wie etwa die Kollektivierung der Nomaden, fatale Folgen gezeitigt.
In Lhasa sind heute zwei Drittel der Bevölkerung zugereiste Han-Chinesen, die als Geschäftsinhaber, Händler und Taxifahrer den größten Teil der Wirtschaft kontrollieren. Schätzungen zufolge stellen die Chinesen 44 Prozent der Bevölkerung in Tibet. Für chinesische Arbeiter, die nach Tibet gehen, gibt es beträchtliche Anreize. Die Jahresgehälter sind gegenüber Tibetern um 70 bis 80 Prozent höher. Nach 18 Monaten Arbeit erhalten sie drei Monate Urlaub. Nicht verschwiegen werden soll, dass 1994 bis 2000 Investitionen in einer Höhe von 29 Milliarden RMB Yuan nach Tibet geflossen sind; das Bruttosozialprodukt in Tibet ist im gleichen Zeitraum um 96 Prozent angestiegen. Die chinesische Seite wird nicht müde, die wirtschaftlichen Erfolgsdaten in Tibet zu zelebrieren. Die Realitäten dürften etwas nüchterner ausfallen, zumal an solchen Erfolgen in erster Linie die eingewanderten Chinesen partizipieren. Nach wie vor ist Tibet eine der unterentwickeltsten Regionen des Landes.
Erlaubt ist in Tibet mittlerweile wieder begrenzte Privatinitiative in der Landwirtschaft; die Versorgung mit Lebensmitteln ist gewährleistet. Ungefähr 300 kleinere Industriebetriebe gibt es, die häufig dank chinesischer Subventionen überleben können. Viele Schulen wurden errichtet. Um zu einer höheren Bildung zu gelangen, ist die Beherrschung der chinesischen Sprache Vorbedingung.
1987 und 1988 (nach dem Tod des Mönchs und populären Freiheitskämpfer Gehse Lobsang Wanchuk in einem chinesischen Gefängnis) kam es zu Massendemonstrationen mit Todesopfern. Die schwersten Unruhen ereigneten sich im März 1989, zum 30. Jahrestag des Volksaufstandes von 1959. Auch 1991 und 1993 versammelten sich Menschen zu Protesten in Lhasa; in den folgenden Jahren verlagerten sich diese aufs Land – bis sie vor Kurzem wieder die tibetische Hauptstadt ergriffen.
Wenn kritisch und tabulos über chinesische Geschichte gesprochen wird, sollte dies auch für die andere Seite gelten. Ein Tabu innerhalb der tibetischen Gesellschaft sind etwa die einstigen Kontakte von zwei älteren Brüdern des Dalai Lama zur CIA. Der US-Geheimdienst ließ sich das als »ST Circus« getarnte Programm zur Unterstützung der Opposition jährlich 1,5 Millionen Dollar kosten. Einige hundert Khampa wurden Mitte der 50er Jahre von den USA ausgebildet und im Oktober 1957 nach Tibet geschleust. Den Männern gelang es, Gleichgesinnte zu rekrutieren. An die 100 000 Guerilleros sollen Ende der 50er Jahre große Teile im Süden Tibets kontrolliert haben. Auch für die Amerikaner zahlte sich die Operation aus. Sie kamen in den Besitz geheimster chinesischer Staatsdokumente. Als Präsident Nixon Anfang der 70er Jahre eine grundlegende Kurskorrektur der Chinapolitik vornahm, wurde die Hilfe eingestellt. Auch der Dalai Lama forderte die Beendigung der Kämpfe. Die meisten Guerilleros legten 1974 die Waffen nieder. Fünf Jahre später erlaubte Peking die Einreise von mehreren exiltibetischen Delegationen. Sie sollten die Situation in Augenschein nehmen und prüfen, ob eine Rückkehr des Dalai Lama in Frage kommen könnte. Obwohl die Bevölkerung genau instruiert wurde, wie sie sich zu verhalten hätte, wurden die Delegationen mit größten Sympathiebekundungen begrüßt. Selbst einheimische kommunistische Kader ließen sich von der Begeisterung anstecken.
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Dass China gerne alles weitgehend in den bisherigen Bahnen belassen will, ist klar. Der Dalai Lama dagegen ist im Laufe seiner Exilzeit zum Schluss gekommen, dass man nicht um jeden Preis eine Eigenstaatlichkeit für Tibet anstreben müsse. Im September 1987 stellte er vor dem Menschenrechtsausschuss des US-Kongresses einen Fünf-Punkte-Friedensplan vor: Tibet soll zu einer Friedenszone werden, alle Waffenarsenale seien aufzulösen, fundamentale Menschenrechte und demokratische Freiheiten werden garantiert. Zudem müsse die Umweltzerstörung gestoppt werden. Ernsthafte Verhandlungen seien über den zukünftigen Status Tibets aufzunehmen. Die Position des Dalai Lama ist jedoch unter Tibetern nicht unumstritten. Viele meinen, dass ein eigener tibetischer Staat die bessere Lösung wäre.
Wenn wirtschaftliche Hilfen für Tibet vorgesehen werden, so sollten sich diese auf die Schulung und Ausbildung der Tibeter konzentrieren. In Erwägung zu ziehen wäre auch, ob es nicht an der Zeit ist, die tibetische Exilregierung international anzuerkennen, indem man ihr innenpolitische Handlungskompetenz zugesteht.
Die tibetische Exilgemeinde und die Exilregierung sind die bestorganisierten der Welt. Seit 1963 gibt es eine eigene Verfassung, auch der Dalai Lama kann seines Amtes enthoben werden. Der Anerkennung einer Lokalregierung für Tibet stünde eigentlich nichts im Wege.

Neues Deutschland, 17.05.2008

Tibet: Dialog ist der Schlüssel

Zu: Kein Dialog mit dem Dalai Lama? von Wolfgang Gehrke, ND 21.5. (und Leserbriefe)

Das Schüler in Tibet generell in tibetischer Sprache unterrichtet werden sollten und sie zur Amtssprache werden muß, diese Forderung von Wolfgang Gehrke kann ich nur unterstreichen. Nicht unterstützen kann ich die Überlegung, daß dies nur in einem Teil Tibets gelten soll. Die Spaltung Tibets in verschiedene Zonen, geht auf einen chinesischen Willkürakt zurück. Man muß sich darüber im Klaren sein, hätten die Tibeter die Möglichkeit über ihre Unabhängigkeit in einem Wahlakt zu entscheiden, man bekäme einen unabhängigen Staat, so wie er mit eigener Währung, eigenen Pässen und eigener Armee bis 1949 bestanden hat. Das es regelmäßig zu Volksaufständen kommt, wird wohl handfeste Gründe haben. Im alten Tibet gab es keine Gefängnisse, dafür durchaus grausame Strafen. Amnesty International schätzt, daß im vergangenen Jahr 6-7000 Todesurteile in China vollstreckt wurden, darunter unzählige politische Fälle. Ist das wirklich ein Fortschritt gegenüber dem alten Tibet?
Die LINKE sollte deutlich anmahnen, die systematische und gravierende Benachteiligung der Tibeter gegenüber den Chinesen ist schrittweise zu überwinden und sie dürfen nicht durch den beständigen Zuzug immer neuer Chinesen zur Minderheit im eigenen Land gemacht werden. Der junge Panchen Lama ist nach wie vor von den Regierenden eingesperrt und die Religionsfreiheit reicht nur soweit, wie sie touristisch nützlich ausbeutbar ist.
Arthur Pech wendet nun ein, es gäbe schon eine tibetische Regierung. Soll die LINKE ein autokratisches Herrschaftssystem unterstützen, in dem es kein demokratisch gewähltes Parlament gibt? Wie sozialistisch ist es, wenn Staatssicherheitsdienst und Armee die Herrschaftsausübung permanent absichern müssen? China sollte sich auch daran erinnern, daß es im 17-Punkte-Abkommen von 1951 zugesichert hat: „Die Zentralbehörden werden das bestehende politische System in Tibet unverändert lassen. Die Zentralbehörden werden außerdem den bestehenden Status, die Funktionen und Befugnisse des Dalai Lama nicht antasten.“ Das Abkommen sichert auch weitgehende innenpolitische Autonomie zu. Warum soll nicht möglich sein umzusetzen, was China einst selbst, mit Unterschriften besiegelt, versprochen hat, als es in Tibet einmarschierte? Das würde das Ansehen Chinas in aller Welt erheblich steigern. Dabei blieben die jetzigen Außengrenzen erhalten. Die Gefahr der Einführung einer kapitalistischen Marktwirtschaft besteht nicht mehr, da dies die Genossen im Reich der Mitte schon selbst besorgt haben. Eine demokratische Regierung unter Einbeziehung der Exiltibeter ist freilich ein weiter Weg. Würde China den Dalai Lama zu den olympischen Spielen einladen, wie sehr wäre dies dem Dialog förderlich!

Marko Ferst, 15537 Gosen

Neues Deutschland, 30.5.2008


 

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