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Die brennende Takelage des Winters
Lyrik aus Berlin mit frischer Meeresbrise und weitem Blick in
die Welt. Im Gespräch mit Marko Ferst
Sie haben zusammen mit anderen die Lyrikanthologie „Bis dein Blick
Meer wird“ herausgegeben. Für was steht das Köpenicker
Lyrikseminar?
Gegründet auf der Köpenicker Schlossinsel, existiert es seit
45 Jahren in Berlin und arbeitet unter der Leitung des Lyrikers Ulrich
Grasnick. Er übernahm den Zirkel 1975, führt ihn bis heute
fort. Seine Frau, die Lyrikerin Charlotte Grasnick, war ebenfalls eingebunden
bis zu ihrem Tod. Autorinnen und Autoren kommen zusammen, tragen ihre
Gedichte vor, es finden Lesungen und Dichterbegegnungen wie die Cita
de la poesia statt, die Lateinamerikaner, Spanier und Deutsche zusammenbringen.
Seit 2017 verleiht Ulrich Grasnick einen Lyrikpreis. Die Pandemie sorgte
allerdings dafür, über lange Zeit konnten keine Dispute über
neue Gedichte stattfinden. Jedoch veranstalteten wir eine Lesung des
Lyrikseminars im Kulturzentrum Ratz-Fatz in Berlin-Schöneweide.
Dort konnte erstmals unsere neue Lyrikanthologie „Bis dein Blick
Meer wird“ öffentlich vorgestellt werden.
Wie kommt so ein Band zustande?
Wir hatten gesehen, unsere Anthologie „Seltenes Spüren“ von
2014 konnte sich über die weiten Netzwerke des Lyrikzirkels guter
Nachfrage erfreuen, Nachauflage wurde erforderlich. Deshalb fand der
Vorschlag Zustimmung, als Zirkel einen weiteren Band herauszugeben. Allerdings
wurde es dann doch ein langer Weg. Über drei Jahre dauerte es, bis
alles druckfertig vorlag. Wir luden auch zahlreiche Gäste ein, an
dem Band teilzunehmen. Die technisch-organisatorische Arbeit verlangt
bei 51 Dichtern und über 400 Seiten freilich einigen Durchhaltewillen.
Welche Umstände führten denn dazu, dass auch der inzwischen
Zeit verstorbene Lyriker Günter Kunert mit vertreten ist?
Kunert hatte in Berlin eine Lesung, und wir kamen damals miteinander
ins Gespräch. Aus den Vorlesungen des Sozialökologen und Regimekritikers
Rudolf Bahro an der Humboldt-Universität war er mir als bedeutender
deutscher Dichter bekannt, ebenso durch Gespräche im Lyrikseminar,
und ich hatte deshalb viele Gedichtbände von ihm gelesen. Und so
ergab es sich, dass wir ihn eingeladen haben mitzumachen. Aktuelle Gedichte
erreichten uns für die zurückliegenden Anthologien per Brief
aus Kaisborstel.
Die Gedichte handeln offensichtlich nicht nur vom Meer …
Völlig richtig. Der Titel geht unmittelbar darauf zurück, im
Band sind etliche maritime Gedichte verzeichnet. Ulrich Grasnick selbst
ist mit Graal-Müritz eng verbunden, trifft sich dort mit Lyrikern
in den Sommermonaten oder Dorothee Arndt aus Rostock gehört zu unserem
Lyrikzirkel und so könnte man zahlreiche weitere unsichtbare Verknüpfungen
orten. Ansonsten taucht im Band das Mexikanische Totenfest auf, Gedichte
zu Berlin oder über Musik und Kunstwerke. Autoren mit peruanischen,
bolivanischen oder polnischen und schweizerischen Wurzeln sorgen für
kulturell weitgespanntes Flair. Nicht ohne Grund sehen wir uns auch als
Lesebühne der Kulturen. Ihren Auftritt bekommen Puma, Ruta 40 und
Andengipfel. Expressogesang wird angestimmt oder Prachtvögel auf
Bahnsteigen beobachtet.
Wie sind Sie selbst zur Lyrik und zum Lyrikzirkel gekommen?
1986 über einen Hinweis in der Berliner Zeitung, noch sehr jung.
1988 erschien „Das entfesselte Auge“ eine Hommage an Picasso
von Ulrich Grasnick, zuvor „Flugfeld für Träume“,
Liebensgedichte, die er zusammen mit Charlotte Grasnick publizierte.
Das erwies sich als ein völlig neuer Lyrikhorizont für mich,
verbunden mit offenen Fragen. In der DDR gab es die Bezirkspoetenseminare
und viele andere Orte, wo junge Lyrik gefördert wurde. Dass ich
heute noch Gedichte schreibe, diese Aktie ist besonders der Lektüre
von Erich Fried zu verdanken. Mich haben einige seiner politischen und
sozialpsychologischen Gedichte für den eigenen Stil inspiriert.
Wenn man sich meinen letzten Gedichtband „Jahre im September“ anschaut,
spielen dort aber Einflüsse aus sehr unterschiedlichen, fast gegensätzlichen
Richtungen eine Rolle.
Welche Zukunftspläne gibt es?
Sobald die letzte Welle der Pandemie ausläuft, planen wir weitere
Lesungen des Lyrikseminars, werden wieder Literatur live erleben. Im
Sommer unternahmen wir eine Poetenwanderung in die Müggelberge bei
der neue Gedichte gelesen wurden. Und natürlich, wer kritisches
Auseinandersetzen mit eigenen Gedichten möchte, Lyrikfreunde sind
uns immer willkommen.
Das Gespräch führte Iwa Buran.
Kontakt zum Köpenicker
Lyrikseminar: https://ulrich-grasnick.de
Marko Ferst, Jahrgang 1970, lebt bei Berlin, studierte Politikwissenschaft
an der FU Berlin, veröffentlichte den Band „Jahre im September.
Gedichte und Erzählungen“ sowie zwei weitere mit Lyrik. Überdies
gab er den Band „Erich Fromm als Vordenker“ und den Erzählband „Brücken
ins Land“ heraus.
Marko Ferst, Ulrich Grasnick, Günter Kunert u.v.a.: Bis
dein Blick Meer wird. Gedichte (herausgegeben vom Köpenicker Lyrikseminar
und der Lesebühne der Kulturen Adlershof), 412 Seiten, Edition Zeitsprung,
2020, Paperback 14,90 €, Hartcover mit Schutzumschlag 24,90 €,
eBook 8,99 €
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