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Ein Bericht aus dem
Jahre 2049
Von
Anne Kathrein Petereit
Im Grunde genommen sind es doch die Verbindungen mit Menschen,
welche dem Leben seinen Wert geben.
Wilhelm von Humboldt
Die ganz große Apokalypse ist ausgeblieben.
Durch die kleinen und mittleren Umweltkatastrophen zu Beginn des Jahrtausends
war der Leidensdruck der Erdbewohner, die nackte Existenzangst der Überlebenden
derart angestiegen, daß endlich der allgemeine Wandel einsetzte.
Was noch 30, 40 Jahre zuvor unmöglich schien, wurde nun realisiert.
Visionäre des 20. Jahrhunderts, zu ihrer Zeit von vielen als Spinner
bezeichnet, kamen zu Ehren. Zeitgleich mit den gewaltigen Umgestaltungen
in Politik, Wirtschaft, Finanzwesen und Wissenschaft war es damals auch
zu grundlegenden Veränderungen in der Lebensweise der Menschen gekommen.
Nur davon soll hier berichtet werden.
Ein großer Teil der Bevölkerung lebt in Gemeinschaften zusammen,
die teils aus Produktionsgenossenschaften entstanden sind, teils aus Freundeskreisen.
Manche sind auch zusammengezogen mit anderen, die gleiche weltanschauliche
Überzeugungen haben. Die Größe dieser Lebensgemeinschaften
ist sehr unterschiedlich, es gibt Gruppen von wenigen Erwachsenen mit
ihren Kindern, und es gibt Kommunen und Ökodörfer mit 200-300
Mitgliedern. Auch Gemeinschaften, die nur aus homosexuellen Frauen und
Männern bestehen, sind nicht ungewöhnlich. Manche Gemeinschaften
bestehen aus trockenen Alkoholikern oder aus ehemaligen Drogen- oder Arbeitssüchtigen,
oder Gesunde leben zusammen mit Behinderten. Alle diese Sondergruppen
werden von Sozialarbeitern und -pädagogen betreut. Der Trend zur
Gemeinschaftsgründung hält noch an, weil immer mehr Menschen
das Unnatürliche des Daseins als Kleinfamilie oder Single nicht mehr
ertragen, weil sie ihre Isolierung und Vereinzelung als Beeinträchtigung
ihrer Lebensqualität empfinden.
In der bösen alten Zeit soll es ja manchmal vorgekommen sein, daß
ein alter Mensch wochenlang tot in seiner Wohnung gelegen hat, bevor er
gefunden wurde. So etwas können sich heute auch die Menschen nicht
mehr vorstellen, die noch in Kleinfamilien leben, jeder hat Kontakt mit
seinen Nachbarn.
Es gibt auch sehr viele Klubs und Jugendklubs, die besonders von Alleinlebenden
gern genutzt werden. Jede Lebensgemeinschaft gibt sich ihre Regeln selbst
und legt auch fest, ob sie mit oder ohne gemeinsame Kasse wirtschaften
wollen. Ihre Entscheidungen treffen die Gemeinschaften in der Regel nach
dem Konsensprinzip. Demokratische Abstimmungsverfahren werden nur noch
ausnahmsweise einmal angewandt. Bei Verstößen gegen die Gruppenregeln
stellt sich ein Mitglied der Gruppe als Ankläger zur Verfügung,
macht dem/der Betreffenden das Verwerfliche des Tuns klar und fordert,
den Schaden wieder gut zu machen. Wenn diese/dieser dazu nicht bereit
ist, übernimmt der Ankläger die Schadensregulierung. Obwohl
die Gemeinschaften hierarchiefrei sind, zeigt sich doch, daß es
Menschen mit dem Talent zum Leiten oder auch nur mit dem Drang zum Herrschen
gibt. Weil viele sich mit therapeutischen Verfahren, Supervision oder
anderen Mitteln zur Bewußtwerdung befassen, werden Herrschernaturen
und schlechte Leiter schnell durchschaut. Technische Geräte wie Waschautomat,
Computer, Videorecorder, die früher fast in jeder Kleinfamilie vorhanden
waren, werden heute gemeinsam benutzt von jeweils 10-20 Menschen. Da die
Regionen von der Größe eines Landkreises zu 50-80% autark sind
hinsichtlich der benötigten Produkte und Dienstleistungen, sind Wohnen,
Arbeiten und Freizeitaktivitäten für fast alle Berufstätigen
zusammengerückt.
Tägliche Arbeitswege von 2 Stunden gehören zu den Ausnahmen.
Niemand fährt mehr mit dem Auto zur Arbeit, die öffentlichen
Verkehrsmittel sind billiger und verkehren in dichter Folge. Nur die Bewohner
sehr abgelegener Dörfer ohne Busverkehr sind noch auf eigene Fahrzeuge
angewiesen. Viele Straßen sind so leer, daß die Kinder Reifentreiben,
Kreiseln und Rollerfahren wieder für sich entdeckt haben. Die Wochenarbeitszeit
beträgt 20 Stunden. Bis auf wenige Menschen sind alle berufstätig.
Die keiner bezahlten Tätigkeit nachgehen, werden mehr bedauert als
verachtet. Aber niemand mißgönnt ihnen ihr staatliches Existenzgeld.
Die Mehrheit ist neben ihrem Beruf noch beschäftigt mit der Erziehung
von Kindern, der Pflege von Alten und Kranken oder mit anderen gesellschaftlichen
Tätigkeiten. Bekleidungskonfektion existiert kaum noch, denn die
Menschen lassen ihre Kleidung in einer der vielen Schneidergenossenschaften
in Maßkonfektion herstellen. Das ist natürlich teurer, aber
da mensch in jedem Fall ein Kleidungsstück bekommt, das genau paßt
und den eigenen Vorstellungen entspricht, da auch die Mode nur etwa alle
20-30 Jahre wechselt, wird Kleidung bis zum physischen Verschleiß
getragen, und die Ausgaben für Garderobe sind eher zurückgegangen.
Konsumstreben und Besitzstandsdenken sind verpönt als spießig
und reaktionär. Das offene, vertrauensvolle Miteinander der Menschen,
erfüllte Liebesbeziehungen, das Leben in der Gemeinschaft und aktives
Freizeitverhalten lassen den Wunsch nach übertriebenem Konsum kaum
noch aufkommen. Eigentumsdelikte sind sehr zurückgegangen. Die Gesichter
der Menschen sind offener, kindlicher geworden. Denn die Masken und Panzerungen
werden nach und nach abgelegt. Wenn jemand 40 oder älter ist und
noch nie Psychotherapie genommen oder an halbtherapeutischen Verfahren
teilgenommen hat, dann wird dies genau so mißbilligt, wie wenn in
der bösen alten Zeit jemand sein Äußeres vernachlässigt
hat. Denn die seelischen Deformationen, die Prägungen und Muster
aus patriarchalischer Zeit wirken fort bis in folgende Generationen.
Es gibt nicht mehr so viele Krankheiten und Unfälle. Die Gründe
dafür liegen auf der Hand: die Umwelt ist weniger belastet durch
den Rückgang von Industrieproduktion und Autoverkehr, die Menschen
ernähren sich bewußter, es gibt kaum noch Über- und Unterforderung,
Süchte sind stark zurückgegangen, die Menschen bearbeiten ihre
seelischen Probleme und Konflikte, viele üben Transzendentale Meditation
aus (diese werden ein Drittel weniger krank). In vielen Gemeinschaften
werden täglich oder wöchentlich Befindlichkeitsrunden durchgeführt,
bei denen Konflikte geklärt werden. Auch mit halbtherapeutischen
Methoden arbeiten manche Gruppen. Das Subsistenzprinzip wenden die Menschen
auch auf das geistig-kulturelle Leben weitgehend an. So gibt es in jedem
Dorf, jedem Kiez mindestens einen befestigten Tanzplatz, wo morgens und,
für die Berufstätigen oft auch abends, eine halbe Stunde Kreistänze
gemacht werden. Groß und Klein beteiligen sich daran, wie überhaupt
Kinder in die Freizeittätigkeiten stark einbezogen werden. Am beliebtesten
sind die kulturellen Aktivitäten, die in Gemeinschaft ausgeübt
werden, wie Trommeln, Obertonsingen, Tanzimprovisationen nach klassischer
Musik, gemeinsame Meditationen, Taichi-Kurse, Trancetänze. Viele
beteiligen sich an Jahreszeiten-Festen und an gemeinsamen Ritualen. Aber
auch für individuelle künstlerische Tätigkeiten gibt es
gute Voraussetzungen und kompetente Zirkelleiter. Zwar wird die Hochkultur
nach wie vor subventioniert, aber die Alltagskunst nimmt einen größeren
Raum ein als früher. Dadurch daß viele Unprofessionelle künstlerisch
tätig sind, ist die Kluft zwischen Kunstproduzenten und -rezipienten
nicht mehr so groß. Laien, die selbst Fachkenntnisse und praktische
Fertigkeiten erworben haben, können die Leistungen der Hochkultur
besser beurteilen. Das hat dazu geführt, daß kein bildender
Künstler mehr ein Werk in die Öffentlichkeit bringt, das vom
Inhalt und ästhetischen Anspruch her völlig nichtssagend ist,
wie das noch im vorigen Jahrhundert oft geschah und mitunter auch noch
teuer bezahlt wurde.
Zur Zeit gibt es heiße Diskussionen unter den Sportenthusiasten,
ob die Olympischen Spiele, die vor 40 Jahren für die Dauer von zunächst
50 Jahren ausgesetzt wurden, in 10 Jahren wieder stattfinden dürfen.
Skeptiker befürchten, daß sie erneut für Kommerz mißbraucht
würden, daß es wieder zu Berufssportlertum und Dopingaffären
kommen würde. Das Interesse an Sportarten, bei denen es auf Weiter-Schneller-Höher
ankommt, ist allgemein etwas zurückgegangen. Mehr gefragt sind Sportarten
mit hohem ästhetischen Wert, also Turnen, Eiskunstlauf, Künstlerische
Gymnastik und natürlich Tanz in allen Variationen, der körperliche
Bewegung mit der harmonisierenden Wirkung von Musik verbindet und deshalb
von Psychotherapeuten immer wieder empfohlen wird. Monotones Joggen ist
jedenfalls "out". Es ist anzunehmen, daß die Gegner der
Olympischen Spiele sich durchsetzen werden, weil auch bei den aktiven
Sportlern die Bereitschaft zu übertriebenem Leistungsstreben abgenommen
hat, dem neuen Zeitgeist entsprechend. Nicht mehr Höchstleistungen
auf einem bestimmten Gebiet, womöglich noch um den Preis von gesundheitlichen
Schäden, sind gefragt, sondern die ganzheitliche, harmonische Entwicklung
des Menschen.
Kinder suchen sich ihre Bezugspersonen in der Gruppe selbst aus. Sie sind
nicht mehr völlig auf die Erwachsenen in der Kleinfamilie geworfen.
Mißhandlungen und sexuelle Beziehungen zu Kindern gibt es in Gemeinschaften
gar nicht mehr. Die Gründe sind wohl darin zu sehen, daß es
kaum Erwachsene ohne Geschlechtspartner gibt. Zum anderen ist das Schamgefühl
sehr groß, denn durch den offenen, freien Umgang aller in der Gruppe,
also auch mit den Kindern, würde ein solches Vergehen nicht lange
verborgen bleiben. Viele Jugendliche ziehen mit 14 Jahren aus ihrem Elternhaus
aus und leben in eigenen Gemeinschaften zusammen. Da sie ihr Leben selbst
bestimmen können und sich die Regeln ihres Zusammenlebens selbst
geben, gibt es kaum noch einen Generationenkonflikt. Die jungen Leute
fühlen sich nicht bevormundet und suchen deshalb gern die Gesellschaft
und den Rat Älterer.
Manche Erwachsene leben monogam, andere in Gruppenehe; gelegentliche Romanzen
außerhalb fester Beziehungen werden toleriert. Eifersucht hat sich
überlebt; wo sie vereinzelt noch auftritt, wird sie belächelt
als ein Relikt aus böser alter Zeit. Die Liebesbeziehungen sind nach
wie vor nicht konfliktfrei, aber im großen und ganzen glücklicher
und erfüllter als früher. Die Partnerschaften sind stabiler.
Jedoch bleiben Paare nicht mehr aus wirtschaftlichen Erwägungen,
verklemmtem Pflichtgefühl oder Angst vor Einsamkeit zusammen, wenn
ihre Liebe erloschen ist. Trennt sich ein Elternpaar mit unversorgten
Kindern, dann versuchen beide, in der Gemeinschaft oder wenigstens in
der Region zu verbleiben. Promiskuität und Prostitution sind zurückgegangen.
Besonders Menschen, die sexuell sehr aktiv sind, haben mit großer
Selbstverständlichkeit mehrere Partner/Partnerinnen, sie können
sich kaum vorstellen, daß dies in der alten Zeit verpönt war.
Wenn die Menschen alte Filme sehen oder alte Bücher lesen, dann sind
sie oft fassungslos, daß es Zeiten gab, da Menschen wegen einer
Dreiecks-Konstellation in Verzweiflung oder Tod getrieben wurden, daß
aus Eifersucht getötet oder in den Freitod gegangen wurde. Nur noch
durch Kunst und Literatur bekommen die Menschen eine Vorstellung vom Gruselstück
der patriarchalen Gesellschaft, besonders, wenn darin auch gesellschaftliche
Mißstände geschildert werden. In einer Gesellschaft, deren
tiefstes Wirkprinzip nicht Beherrschen, sondern Behüten ist, da Mitgefühl,
Fürsorglichkeit und Bereitschaft zum selbstlosen Dienst am Nächsten
von der Gesellschaft nicht mehr ausgenutzt werden, sondern im Wertekanon
ganz oben stehen, sind alle bemüht, jeder und jedem einzelnen zu
voller Entfaltung und zum Glücklichsein zu verhelfen. Alle leiden
mit, wenn ein Mann oder eine Frau ohne Partnerin/Partner bleibt. Aus diesem
Grund werden zum Beispiel Menschen mit entstellten Gesichtern auf Wunsch
einer Operation unterzogen, natürlich kostenlos. Menschen, die aufgrund
ihres äußeren Wesens keine erotische Attraktivität besitzen,
können in therapeutischen Gruppen ein anziehendes Wesen und Verhalten
erlernen. Äußere Schönheit und die "Aufmachung"
eines Menschen stehen längst nicht mehr so hoch im Kurs, vielmehr
gilt als schön, wer nicht häßlich, also ohne Haß
ist. Ihr sagt, das alles wäre Utopie? Ja freilich, aber Utopie heißt
Nirgendwo, und "Nirgendwo ist nicht Nirgendwann" (Erich Fromm)!
Wie stellt Ihr Euch das Zusammenleben, den Alltag künftiger Generationen
vor?
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